Seit der Einführung des neuen Straftatbestands "Tätlicher Angriff gegen Vollstreckungsbeamte" im Mai 2017 gab es schon zahlreiche Verfahren und Verurteilungen - insbesondere im Zusammenhang mit den G20-Protesten. Für welch abstruse Verfahren dieser neue Straftatbestand eingesetzt wird, um zivilgesellschaftliches Engagement und Proteste zu unterminieren, zeigte sich beispielhaft an einem Prozess in Detmold gegen einen Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe Lippe.
Dieser hatte sich vor über zwei Jahren bei einem Abschiebeversuch in der Ausländerbehörde einem Polizisten in den Weg gestellt, damit dieser nicht zu der Person gelangen konnte, die in Abschiebehaft genommen werden sollte. Dabei soll er mit seinen Armen eine "hubschrauberartige" Bewegung gemacht haben, sodass eine Hand den heranlaufenden Polizisten am Oberkörper berührte. Dem Abzuschiebenden gelang durch das Eingreifen die Flucht und die Abschiebung konnte somit nicht durchgeführt werden. Dies nahm die Detmolder Staatsanwaltschaft zum Anlass mit besonderer Vehemenz gegen den Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe Lippe vorzugehen und letztlich über mehrere Instanzen hinweg eine Verurteilung wegen "Tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte" nach §114 StGB zu erwirken. Wir wollen auf diese Verurteilung hinweisen, weil sie aus vielerlei Gründen grundrechtlich hochgradig bedenklich ist.
Die Verurteilung durch das Landgericht Detmold am 28. Mai 2020 war im Grunde nur noch eine reine Formalität. Dem vorausgegangen war die Revision vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamm. Dort konnte sich die Staatsanwaltschaft Detmold durchsetzen, der eine vorherige Verurteilung gemäß §113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) am Amtsgericht und Landgericht Detmold nicht ausreichend war. Ihrer Meinung nach sei die Armbewegung des Sich-in-den-Weg-Stellenden und die daraus resultierende Berührung des Polizeibeamten ein Tätlicher Angriff nach §114 StGB. Das Oberlandesgericht Hamm folgte dieser sehr scharfen Rechtsauffassung, hob das Urteil wegen Widerstands auf und wies das Landgericht an, wegen Tätlichen Angriffs zu verurteilen. Das gesamte Urteil des OLG ist hier nachzulesen.
Der "Tätliche Angriff gegen Vollstreckungsbeamte" war 2017 als neuer Straftatbestand geschaffen worden, mit einer Mindeststrafe von drei Monaten Gefängnis. Vorher war der tätliche Angriff ein Teil des §113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte). Der Schaffung dieses neuen Straftatbestandes ging eine Desinformationskampagne der Innenministerien und Polizeigewerkschaften voraus, die eine angeblich immer weiter ansteigende Gewalt gegen Polizist*innen beschwor.
Wir hatten uns schon damals kritisch mit der Strafgesetzverschärfung befasst. Eine weitere ausführliche Kritik wurde von der Kampagne "Nein zum Polizeistaat" veröffentlicht. Einige der Hauptkritikpunkte an der Strafrechtsreform seien hier nochmals dargestellt:
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Der öffentlich vorgetragene Anstieg von Gewalt gegen die Polizei ist empirisch nicht nachweisbar, wenn man die zugrunde liegenden Daten im Detail analysiert.
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Der Rückgriff auf die polizeiliche Kriminalstatistik zur Begründung der Strafverschärfung muss hochgradig kritisch bewertet werden. Die PKS wird von der Polizei selbst geführt und ist nicht als unabhängig oder repräsentativ anzusehen.
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Eine Erhöhung des Strafmaßes ist reine Symbolpolitik. Sie schützt keine der Polizeibeamt*innen tatsächlich vor Gewalt und führt auch in der Konsequenz nicht zu sinkenden Kriminalitätsraten.
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Es gab keine Notwendigkeit für die Schaffung eines neuen Straftatbestandes, keine sogenannte Strafverfolgungslücke. Die angesprochenen Delikte konnten bis dato als versuchte oder tatsächliche Körperverletzung verfolgt werden. In der Praxis werden heute häufig gleichzeitig Widerstand, tätlicher Angriff und Körperverletzung angeklagt.
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Durch Schaffung von §114 StGB wurde die körperliche Unversehrtheit und Integrität von Vollstreckungsbeamt*innen rechtlich als relevanter eingeschätzt als die aller anderen Bürger*innen. Vereinfacht gesagt: wird ein Polizeibeamter geschubst, wird das nun mit mindestens drei Monaten Freiheitsentzug bestraft. Eine Bürger*in kann dieses Verhalten nicht zur Anzeige bringen. Ihr steht nur die Möglichkeit offen, Körperverletzung zur Anzeige bringen und muss dafür eine nicht unerhebliche Verletzung nachweisen. Dies widerspricht dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz nach Artikel 3 Grundgesetz.
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Durch den zusätzlichen Straftatbestand wurde den Polizist*innen ein weiteres Mittel an die Hand gegeben, sich gegen Anzeigen von Polizeigewalt durch Gegenanzeigen zu schützen. Das schüchtert Opfer von Polizeigewalt massiv ein. Die ohnehin schon vollkommen unzureichende Möglichkeit, Polizeigewalt zu ahnden, wurde somit noch weiter verringert. Siehe hierzu auch das Forschungsprojekt "Körperverletzung im Amt durch Polizist*innen" der Ruhruniversität Bochum.
Im normalen Sprachgebrauch stellt man sich unter einem "tätlichen Angriff" einen gewaltvollen und direkten Angriff vor, bei dem der Angreifende versucht, den Angegriffenen zu verletzen. Die Benennung des §114 StGB könnte demnach nicht irreführender sein. Das wird auch im Fall der Verurteilung des Mitarbeiters der Flüchltingshilfe Lippe deutlich. Denn nach der Auslegung des OLG Hamm, ist ein Tätlicher Angriff gemäß §114 StGB folgendes: "Ein tätlicher Angriff ist eine mit feindseligem Willen unmittelbar auf den Körper des Beamten oder Soldaten zielende Einwirkung. Eine körperliche Berührung oder auch nur ein darauf zielender Vorsatz des Täters ist nicht erforderlich." Die bürokratische Sprache verdeckt die weitreichenden Konsequenzen dieser maximal repressiven Auslegung. In der "hubschrauberartigen Armbewegung" während des Sich-in-den-Weg-Stellens erkennt das OLG die auf den Körper zielende Einwirkung.
Mitten im Urteil steht dann zusätzlich dieser Satz: "Die feindliche Zielrichtung der Handlung des Angeklagten liegt auf der Hand." Warum dies allerdings auf der Hand liege, wird vom Gericht nicht weiter ausgeführt und es findet sich im gesamten Urteiltext auch kein Hinweis darauf, was zu dieser Annahme von "feindlicher Zielrichtung" geführt haben könnte. Vielmehr wird deutlich, dass das eigentliche Ziel des Angeklagten das Versperren des Weges war, sodass der junge Mann der Abschiebung entfliehen konnte. Darin lässt sich keine Feindseligkeit gegen dem Polizisten erkennen, diese muss herbei interpretiert werden. Das muss auch das OLG Hamm erkannt haben, denn der Satz steht wie ein Fremdkörper in einem ansonsten jedenfalls juristisch sehr ausführlich argumentierten Urteil. Es hinderte das Gericht aber offenbar nicht daran, den Satz genau so zu formulieren, um der eigenen Rechtsauffassung - oder dem eigenen Strafwunsch? - Genüge zu tun.
Was bleibt? Eine Person, die Zivilcourage bewiesen hat und durch einen Schritt vor eine Tür einen Mann vor der Abschiebehaft und einer darauffolgenden Abschiebung bewahrt hat, wird über drei Instanzen mit voller Härte strafrechtlich verfolgt. Am Ende steht nun eine Verurteilung wegen "Angriffs auf einen Vollstreckungsbeamten" und eine Strafe von 3000€. Eine Handlung, die als ziviler Ungehorsam oder schlicht als solidarisches Handeln gegen die rassistische staatliche Praxis der Abschiebehaft gewertet werden kann, wird somit kriminalisiert und mit besonderer Härte bestraft.
Damit werden die schlimmsten Befürchtungen der Kritiker*innen der Reform der §113-114 StGB wahr: absolute Nichtigkeiten führen zu horrenden Strafen und zu einer Stigmatisierung von Personen als Gewalttäter*innen gegen die Polizei. Diese Verurteilungen wiederum können in der Folge genutzt werden, um das Narrativ der "Gewalt gegen Polizist*innen" weiter zu forcieren - und genau das wird auch getan. Wenn wir aktuell über die Reformen von Polizei und Maßnahmen gegen Polizeigewalt und Rassismus in der Polizei sprechen, dann darf die Diskussion um dieses Sonderstrafrecht im Sinne der Polizei nicht fehlen. Der §114 StGB gehört ersatzlos gestrichen!
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Wir dokumentieren hier die Pressemitteilung der Flüchtligshilfe Lippe e.V. anlässlich der Verurteilung ihres Mitarbeiters:
28.05.2020
Bedenkliches Urteil gegen einen Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe Lippe
e.V.
Detmold – Heute entschied das Landgericht Detmold in vierter Instanz im Prozess gegen einen Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe Lippe e.V. mit einer Verurteilung zu 120 Tagessätzen à 25 Euro. Die Flüchtlingshilfe Lippe e.V. wertet das Urteil als sehr bedenklich und unverhältnismäßig hart.
Im Frühjahr 2018 soll der Mitarbeiter die Abschiebung eines Geflüchteten verhindert haben, indem er sich einem Polizeibeamten in den Weg gestellt habe.
Zuletzt hatte das OLG Hamm am 10. Dezember 2020 entschieden, dass die Handlung des In-den-Weg-Stellens-mit-ausgebreiteten-Armen als tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) zu werten sei. Der Tatbestand setze nach Auffassung des OLG weder einen Verletzungswillen, noch eine tatsächliche Körperverletzung voraus. "Diese Rechtsprechung
erscheint im Hinblick auf die bürgerlichen Freiheitsrechte äußerst bedenklich“, kritisierte Sebastian Nickel, Verteidiger der Verhandlung. „Es steht zu befürchten, dass sich hierdurch Menschen von Protestaktionen und öffentlich geäußerter Kritik abschrecken lassen“, so Nickel weiter.
Zu dieser Einstufung durch das OLG kam es, weil die Staatsanwaltschaft nach dem Berufungsverfahren in Revision ging. Das Landgericht Detmold hatte den Mitarbeiter im Berufungsverfahren zu 90 Tagessätzen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt. Schon damals ordnete die Flüchtlingshilfe Lippe e.V. dieses Strafmaß für die vorgeworfene
Handlung als unverhältnismäßig hart ein. Der Staatsanwaltschaft hingegen reichte dieses Urteil nicht aus: Sie forderte eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten, auf Bewährung. In dem Handeln sah sie den Tatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) erfüllt und ging in Revision.
In der heutigen Verhandlung am Landgericht Detmold erhöhte Frau Schikowski, vorsitzende Richterin, das bisherige Strafmaß auf 120 Tagessätze à 25 Euro. Den Antrag des Verteidigers Nickel, die Prüfung des Sachverhalts wegen Verfassungswidrigkeit des §114 StGB an das Bundesverfassungsgericht zu verweisen, lehnte sie ab.
„Das Urteil hat mit der eigentlichen Handlung unseres Mitarbeiters nichts mehr zu tun“, so Andreas Zuckmayer, Vorstand der Flüchtlingshilfe Lippe e.V. So ginge es vielmehr um die juristische Auslegung des Begriffs ‚tätlicher Angriff‘. „Durch die sehr weite Auslegung des Begriffs durch das OLG erscheint der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit insgesamt nicht mehr gewahrt“, ergänzt Nickel.
„Wir erleben seit einigen Jahren eine immer härtere Abschiebepraxis, die humanitäre und rechtsstaatliche Grenzen vermehrt missachtet. Wir begrüßen es, wenn couragierte Menschen sich hiergegen einsetzen.“, erklärt Andreas Zuckmayer. Diese Solidarität war heute auch durch die Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude zu sehen, welche durch antirassistische Gruppen angemeldet war.
Die Flüchtlingshilfe Lippe e.V. wurde 2005 gegründet und berät seitdem geflüchtete Menschen bei aufenthalts- und sozialrechtlichen Belangen in Lippe. „Dies werden wir weiterhin engagiert tun und stehen zu unseren Mitarbeiter_innen“, so Zuckmayer.