Das Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik Deutschland wurde in Bonn am 23. Mai 1949 verkündet. In den 70 Jahren seines Bestehens hat es mehr als nur Blessuren hinnehmen müssen. Die starken Seiten des Grundgesetzes, zu denen das Friedensgebot bzw. der Friedensauftrag (auch: Friedensverfassung) sowie die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger gehören, sind durch Grundgesetzänderungen, -ergänzungen, Verfassungsgerichtsentscheidungen und durch die konkrete Realpolitik oft bis in ihre Kerngehalte ausgehöhlt worden. Hier sollen das Friedensgebot und seine Entwicklung in einem kurzen Überblick betrachtet werden.
Die Friedensverfassung des Grundgesetzes
Bereits in der Präambel des Grundgesetzes ist die zentrale Verpflichtung des Staates zum Frieden enthalten. Die Pflicht, „dem Frieden der Welt zu dienen“, entspringt der Erfahrung, dass Deutschland die Verantwortung für die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts trägt. Diese Grundverpflichtung zum Frieden wurde in Artikel 2 des Zwei-plus-Vier-Vertrages von 1990 für Gesamtdeutschland erneut betont: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“
Das prinzipielle Friedensgebot korrespondiert mit Art. 1 der Verfassung. Achtung und Schutz der Menschenwürde ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die Menschenrechte bilden die Grundlage jeder Friedensordnung: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ (Art. 1, Abs. 2) Die Artikel 25 und 26 GG sind ebenfalls zentrale Bestandteile der Friedensverfassung. Sie fordern, dass die Regeln des Völkerrechts (vgl. das Gewaltverbot in der UN-Charta!) Vorrang vor dem Bundesrecht haben und dass friedenstörende Handlungen, insbesondere der Angriffskrieg, verfassungswidrig und unter Strafe zu stellen sind.
Bei Verabschiedung des Grundgesetzes war Deutschland ein entmilitarisiertes Land. Noch dachte niemand an eine Wiederaufrüstung. Die Alliierten wollten mit dem Potsdamer Abkommen einer weiteren Bedrohung des Weltfriedens durch Deutschland ein für alle Mal einen Riegel vorschieben, u.a. durch Entmilitarisierung und Zerstörung der Rüstungsindustrie. Das Verbot der Vorbereitung (und Führung – gemäß Logik und dem Inhalt der damaligen parlamentarischen Debatte) eines Angriffskrieges wurde ausdrücklich als Konkretisierung in Art. 26 aufgenommen. In der Verfassungsdebatte wurde seinerzeit gefordert, die Vorbereitung jeden Krieges (also auch zur Verteidigung; dies höchstens im Rahmen der UNO) zu verbieten. Dies kam in der Schlussabstimmung jedoch nicht zum Tragen.
Auch sollte durch die Verankerung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) in Art. 4 Abs. 3 GG der Vorrang des Gewissens der Bürger*innen vor jeglicher staatlicher Inanspruchnahme zur Gewaltausübung sichergestellt werden. Dies war vor allem der Erfahrung geschuldet, dass die deutschen Militärrichter im Zweiten Weltkrieg über 30.000 Todesurteile gegen Deserteure gefällt hatten, von denen etwa 20.000 vollstreckt worden waren. Dennoch war das Grundrecht auf KDV in der Geschichte der BRD nie voll gewährleistet, da seine Wahrnehmung durch verfassungsrechtliche inhaltliche Engführung, inquisitorische Gewissensprüfungen, verlängerten Zivildienst und zivile Kriegsdienstleistungen im Ernstfall eingeschränkt bzw. in seinem Kern beschädigt wurde.
Wiederbewaffnung und Einfügung der Wehrverfassung ins Grundgesetz
Mit der verschärften Konfrontation zwischen West und Ost wandelte sich auch die Strategie der Alliierten bezüglich ihrer Forderung nach Entmilitarisierung gegenüber Deutschland. Inzwischen war die Bundesrepublik samt seinen braunen kriegserfahrenen Militaristen (1959 waren über 80% der Bundeswehroffiziere ehemalige Mitglieder der Wehrmacht oder Waffen-SS) als Baustein im Bollwerk gegen den Kommunismus wieder willkommen. Adenauer bereitete schon Anfang der 1950er Jahre mit den Westalliierten die Wiederbewaffnung vor – gegen einen breiten Widerstand in der Bevölkerung. Noch Ende 1949 hatte der Bundestag in seiner ersten außenpolitischen Debatte eine Wiederbewaffnung abgelehnt. Schließlich wurde die Bundesrepublik 1955 in die WEU einbezogen, sie trat 1955 der NATO bei und schuf ein Verteidigungsministerium. Im Oktober 1955 wurden die ersten freiwilligen Soldaten zur Bundeswehr eingezogen. Am 22.5.1956 beschloss der Bundestag die Einfügung einer „Wehrverfassung“ in das Grundgesetz. Seitdem heißt es „Jetzt doch wieder!“
Die Debatte um die Atombewaffnung und ihr herrschaftlich erstrittenes Ergebnis bedeuteten einen weiteren Militarisierungsschub. Bereits 1958 wurde die Bewaffnung der Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen beschlossen, 1960 lagerten 1.500 Atombomben in der Bundesrepublik. Der Widerstand der Kampagne „Kampf dem Atomtod“ mit Millionen von Unterstützer*innen wurde durch staatliche Maßnahmen gebrochen, schließlich eine selbstorganisierte Volksbefragung vom Verfassungsgericht verboten – 83% der Bevölkerung lehnten nach Meinungsumfragen die Atombewaffnung ab.
Notstandsverfassung und Bundeswehr im Inneren
Mit der Einfügung der Notstandsverfassung im Jahr 1968 in das Grundgesetz, der erneut erbitterte Kämpfe vorausgegangen waren, verfestigte sich der wehrhafte Staat, der nun auch den Einsatz der Bundeswehr für besondere Notstandsfälle im Inneren vorsieht. Die Bundesregierung selbst kann den Einsatz der Bundeswehr im Inneren zur Gefahrenabwehr anordnen, Bundestag und -rat haben lediglich ein Stopp-Recht.
Als Notstand gelten z.B. der Spannungs- und Verteidigungsfall sowie der Innere Notstand und „besonders schwere Unglücksfälle“. Wesentliche Grundrechte wie z.B. das Recht auf Freizügigkeit sowie Rechte des Parlaments können in den Fällen des Notstands massiv eingeschränkt werden.
Mit den Debatten der letzten Jahre zu terroristischen Bedrohungen werden regelmäßig neue und weiterreichende Vorschläge zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren vorgeschlagen. In der Praxis ist die Bundeswehr immer häufiger auch bei Demonstrationen im Einsatz – als Amtshilfe ohne den Einsatz „spezifisch“ militärischer Mittel, den das Verfassungsgericht vorläufig verboten hat (vgl. Komitee-Bürger*innen-Information zum Luftsicherheitsgesetz). Gleichzeitig werden Polizeiausrüstung und -bewaffnung allerdings immer militärischer.
„Bundeswehr im Einsatz“: Kriegseinsätze zur Durchsetzung deutscher Interessen
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Einigung beider deutscher Staaten unter Weitergeltung des Grundgesetzes – ohne weitere Verfassungsdebatte – warteten die Bürger*innen vergeblich auf die Friedensdividende. Stattdessen wurden schnell neue Bedrohungen gefunden. Die Weißbücher des Verteidigungsministeriums sprechen bereits seit den 1990er Jahren von der Notwendigkeit, deutsche Interessen (Rohstoffe) – notfalls auch militärisch – in aller Welt zu verteidigen. Die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung ist zudem in keiner Weise geeignet, dem Frieden in der Welt zu dienen. Statt einer gesetzlich wirklich restriktiv geregelten Rüstungsexportpolitik bewaffnet die Bundesregierung sog. strategische Partner und winkt durch, was Rheinmetall, Krauss-Maffei, Heckler&Koch usw. begehren.
Bundesverfassungsgericht gibt Regierungen Freibrief zu Militäreinsätzen
Wer gedacht hätte, dass Art. 87 GG mit der wörtlichen Vorgabe, die Bundeswehr dürfe nur der Verteidigung dienen, für alle Zeiten gälte, wurde spätestens 1994 vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eines Besseren belehrt. Kurzerhand machte das Gericht (mit denkbar knapper 4:4-Entscheidung) aus der NATO als einseitig interessengeleitetem Militärbündnis ein System „gegenseitiger kollektiver Sicherheit“, um auch „out of area“-Einsätze über Art. 24 GG (Übertragung von Hoheitsrechten an zwischenstaatliche Einrichtungen) zu rechtfertigen. Seitdem hat das höchste Gericht immer wieder militärfreundliche Beschlüsse gefasst. Der bedeutendste nach 1994 war das „Tornado-Urteil“ von 2007 zum Afghanistan-Einsatz. Der Bundesregierung wird damit praktisch ein verfassungsrechtlicher Freibrief für sämtliche künftigen Militäreinsätze ausgestellt. Auch wenn es zu Völkerrechtsverstößen durch den Tornado-Einsatz (durch die Verknüpfung von ISAF mit OEF) käme, bleibe die NATO ein insgesamt am Friedensauftrag orientiertes Bündnis, so das Urteil. Der Bundesregierung komme generell ein „weiter Ermessens- und Entscheidungsspielraum“ in außenpolitischen Fragen zu. Die Bürger*innen haben keinerlei Befugnis, rechtlich hiergegen vorzugehen. (Vgl. zu den Urteilen (link is external) )
Völkerstrafrecht wird neutralisiert: Straffreistellung bei Angriffskriegen
Eine letzte wesentliche Gesetzesänderung, die den Art. 26 GG praktisch außer Kraft setzt, sei erwähnt. Die Bundesregierung hat völkerrechtswidrig u.a. in Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen Krieg geführt oder sich zumindest daran beteiligt. Heute sind u.a. die Beteiligung am Syrienkrieg ebenso wie die Beteiligung der BRD an den von Ramstein aus gesteuerten Drohnenmorden der US-Regierungen völkerrechtswidrig. Der Generalbundesanwalt hatte bislang alle Strafanzeigen dagegen ins Leere laufen lassen: Angeblich sei die Angriffskriegsdefinition der UNO (1974) zu ungenau, um eine Strafvorschrift im Strafgesetzbuch zu erlassen. Außerdem verbiete das Grundgesetz nur die Vorbereitung, nicht die Führung eines Angriffskrieges (eine absurde und rechtlich unhaltbare Argumentation). Nach der Neudefinition des Verbrechens der Aggression durch die UNO (Kampala 2010) wurde im Völkerstrafgesetzbuch der BRD dieser Tatbestand 2017 aufgenommen, aber gleichzeitig so stark eingeschränkt, dass er praktisch nie zur Anwendung kommen wird. Vor allem mit dem Kriterium der „Offenkundigkeit der Völkerrechtsverletzung“ bei Militäreinsätzen wird vom Gesetzgeber bewusst eine „Filterfunktion“ eingeführt, um den bisherigen Kriegsrechtfertigungen auch für künftige Bundeswehreinsätze weiterhin Gesetzeskonformität zuzuschreiben. „Einfache“ Soldat*innen werden generell von jeder Verantwortung für solche Verbrechen ausgenommen, obwohl z.B. auch die Bestimmungen der KSZE das genaue Gegenteil besagen. (Vgl. zum Thema Angriffskrieg ):
Fazit: Friedensgebot am Ende
Die Entwicklung der grundgesetzlichen Bestimmungen zu Friedensfragen durch Praxis und Rechtsprechung in den zurückliegenden 70 Jahren des Bestandes des Grundgesetzes ist gekennzeichnet durch eine immer radikalere Abkehr von den Ursprüngen der Verfassung von 1949. Auch wenn in seltenen einzelnen Urteilen höchster Gerichte die Friedensmahnung des Grundgesetzes noch zu lodern scheint (z.B. das Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz oder vor kurzem das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster zur Verantwortung der Bundesregierung für den US-Drohnenkrieg, der von Ramstein ausgeht), stützt der Gesamttrend der Rechtsprechung die Militarisierung der bundesdeutschen Außenpolitik. Die Führung von Kriegen gehört wieder zu einer „normalen“ Möglichkeit von Regierungsentscheidungen beim „Wahrnehmen von weltweiter Verantwortung“. Grundgesetz und Völkerrecht wurden dahingehend verbogen und zurechtgeschnitten. Gemäß einem Buchtitel von Wolfram Wette und Helmut Kramer gilt: „Recht ist, was den Waffen nützt.“
Martin Singe
Literaturhinweis: Dieter Deiseroth, Das Friedensgebot des Grundgesetzes und der UN-Charta (link is external), in: FriedensForum 2/2010