30. Okt. 2024 © picture alliance / Sueddeutsche Zeitung Photo | Heddergott, Andreas
Abolitionismus / Kriminologie / Strafrecht

"Zuchtmittel" und "schädliche Neigungen": NS-Kontinuitäten im Jugendstrafrecht

Das Jugendstrafrecht ist bis heute gezeichnet von Kontinuitäten der NS-Zeit. Das betrifft genutzte Begrifflichkeiten ebenso wie die rechtliche Ebene. Daneben zeigen sich diese Kontinuitäten aber auch in einer Perspektive auf Jugend. So wird bis heute nach sogenannten schädlichen Neigungen gesucht, die das strafrechtlich relevante Verhalten begründen sollen. Lisa Tölle, Jan Tölle und Michèle Winkler ergründen diese NS-Kontinuitäten spezifisch für das Jugendstrafrecht und erhellen tradierte Linien in aktuellen Jugendkriminalitätsdiskursen.

»Das NS-Strafrecht kam weder aus dem Nichts noch ist es nach 1945 völlig verschwunden. Nach 1945 bestand eine personelle und sachliche Kontinuität.«1

Im Jahr 2013 wurde die Jugendarrestanstalt im hessischen Gelnhausen erweitert und durch den damaligen Minister Jörg-Uwe Hahn (FDP) eingeweiht. Auch mehrere der Autor*innen waren damals anwesend und hörten der Eröffnungsrede des Ministers zu. Zu Beginn nahm er kurz Bezug auf die Entstehungsgeschichte des Jugendarrest im Kontext nationalsozialistischer Herrschaft. Diesen Gedanken schloss er damit, dass nicht alles aus der Zeit der NS-Herrschaft schlecht gewesen sei, wir führen schließlich auch immer noch auf Autobahnen. Begleitet vom Lachen und dem Applaus des Publikums führte er seine Rede über den Mehrwert des Jugendarrestes fort. Dieses kurze Fallbeispiel eines geschichtsvergessenen und ahistorischen Narrativs über die NS-Herrschaft und dem daraus abgeleiteten (Un-)Recht soll in diesen Artikel einführen.

Wir schreiben diesen Artikel aus abolitionistischer Perspektive über das Jugendstrafrecht und die gesellschaftlichen Haltungen gegenüber jungen Menschen. Eine abolitionistisch ausgerichtete Wissenschaft befragt die Gegenwart kritisch zum ausgeübten Maß an Zwang, Gewalt, Repression und Herrschaft sowie zu Praktiken der Kontrolle, Überwachung und des Strafens. Abolitionistische Theorie und Praxis zielt darauf ab, zuvor genanntes zu reduzieren und perspektivisch abzuschaffen, während gleichzeitig alternative verbindende Praxen der Konfliktlösung und des Umgangs mit Gewalt (weiter) erprobt und verbreitet werden.

Das Jugendstrafrecht der NS-Zeit und seine Vorläufer

Um die Kontinuitäten und Brüche im Jugendstrafrecht während und nach der NS-Herrschaft zu verstehen, müssen auch dessen Vorläufer betrachtet werden. Wie Ambos ausführt, lässt sich das NS-Strafrecht anhand einer Kontinuitäts- und Radikalisierungsthese als »rassistisch, (antisemitisch), völkisch („germanisch“) und totalitär ausgerichtete Fortschreibung der autoritären und antiliberalen Tendenzen des deutschen Strafrechts der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik« verstehen.2 Die Weimarer Republik war geprägt von zunehmendem Autoritarismus. Die Psychopathologisierung von abweichendem Verhalten war in Mode und erste Theorien zu »Tätertypen« entstanden, maßgeblich beeinflusst durch Franz von Liszt, der auch die Forderung nach einer »Unschädlichmachung« unverbesserlicher Straftäter erhob.3 Im Jahr 1923 wurde das Jugendgerichtsgesetz (JGG) eingeführt, das die Strafmündigkeit von 12 auf 14 Jahre anhob, »Erziehungsmaßregeln« als vorrangig vor Freiheitsstrafen festlegte und spezialpräventiv wirken sollte. Das Reichsjugendwohlfahrtgesetz (RJWG) von 1924 unterstrich die staatliche Verantwortung für die Erziehung. Der damalige Erziehungsgedanke orientierte sich an bürgerlicher Moral und zielte insbesondere auf die Disziplinierung von Kindern aus proletarischen Milieus.4

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 richtete der Staat das gesamte Jugend- und Familienrecht an autoritären Strukturen und der NS-Ideologie von Volksgemeinschaft und Rassenlehre aus: im Hitlerjugendgesetz von 1935 wurde als Erziehungsziel ausdrücklich die nationalsozialistische Gesinnung der Jugend artikuliert, als Erziehung zur »Volksgemeinschaft« und zum »Rassenbewusstsein«.5 Die Hitlerjugend und die Reichsjugendführer machten eine führende Rolle in sämtlichen Belangen der Jugend, auch im Jugendstrafrecht, geltend und sicherten sich umfassende Mitsprache in Jugendstrafsachen, sowie dessen Ausrichtung an NS-Prinzipien.6

Eine prägende Rolle bei der Neuausrichtung sämtlicher Rechtsgebiete an der NS-Ideologie nahm zudem die Universität Kiel ein. Von dieser »Kieler Schule« sind für das Strafrecht Georg Dahm und Friedrich Schaffstein von spezifischer Bedeutung, die mit ihren Arbeiten die Verwirklichung des völkisch, rassistischen und totalitären NS-Staates mit strafrechtlichen Mitteln maßgeblich mitbestimmten. Sie entwickelten die sogenannte Tätertypenlehre, nach der nicht mehr Taten im Zentrum des Strafrechts standen, sondern die Täter und deren Wesen und Gesinnung. Schaffstein knüpfte daran sein Konzept der Pflichtverletzung an, das Gesetzesbrüche als Pflichtverletzung gegenüber der Volksgemeinschaft verstand. Das daraus erwachsende Gesinnungs- und Wesensstrafrecht fand auch seine Übertragung ins Jugendstrafrecht, dem sich Schaffstein ab 1936 verstärkt zuwandte. Mit Kollegen entwarf er eine Konzeption zur Neuordnung der Jugendpflege und des Jugendstrafrechts. Diese sollte den Grundsätzen der »Trennung von Strafe und Erziehung«, sowie der »Typensonderung und Auslese« folgen. Für die Unterscheidung wurden auch rassehygienische und »erbgesundheitliche« Kriterien herangezogen, sowie die »Erziehbaren« von den »Unerziehbaren« getrennt.7 Erziehungsarbeit habe sich nach Schaffstein »auf diejenigen Gefangenen zu beschränken und zu konzentrieren, deren Erhaltung für die Gemeinschaft nach ihrer Persönlichkeit und nach ihrer erbbiologischen Veranlagung für Volkstum und Rasse wirklich wünschenswert erscheint«. In seiner Schrift Ausleserecht gegen Minderwertigenfürsorge plädierte er dafür, die Fürsorgeerziehung »von den eigentlich asozialen, erheblich psychopathischen oder sonst biologisch unbrauchbaren Typen« zu entlasten.8

Die 1939 erlassene Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher ermöglichte es, das Erwachsenenstrafrecht auf Jugendliche über 16 Jahren anzuwenden, so konnten Todesstrafen gegen Jugendliche verhängt werden. Zudem konnten sie ab 1940 in KZ-ähnlichen »polizeilichen Jugendschutzlagern« untergebracht werden.9 Die Verordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts von 1940 führte den Jugendarrest ein. Dieser wurde als das »modernste nationalsozialistische Erziehungsmittel«, sowie das »Kernstück des deutschen Jugendstrafrechts« gepriesen.10 Da er eine Zwischenstufe zwischen Erziehungsmaßregel und Strafe einnahm, wurde der Jugendarrest als »Zuchtmittel«11 bezeichnet. Somit wurde aus dem zweispurigen System des Jugendgerichtsgesetzes von 1923, das dreispurige System, wie es auch heute noch Bestand hat.

Das Kriterium der »schädlichen Neigungen«, das nicht von ungefähr eine sprachliche Verbindung zum »Volksschädling« aufweist, geht zurück auf die Verordnung über die unbestimmte Verurteilung Jugendlicher von 1941. Es ist auch heute noch in § 17 II JGG zu finden und ein Großteil der heute ausgesprochenen Jugendstrafen wird mit diesem juristischen Werturteil begründet. Der »strafrechtlichen Rechtsterminus der “Neigung” [findet sich] schon im Allgemeinen preußischen Landrecht« und hielt sich trotz fehlender empirischer Basis mithilfe der »Kriminalanthropologie« als »anlagebedingter [...] Hang und Neigung zu Kriminalität« im kriminolgischen Diskurs. Verfestigt wurde dieser imaginierte Zusammenhang im Nationalsozialismus und deren Tätertypologien, die sich zwangsläufig durch eine intensive Jugenddelinquenz bemerkbar machen mussten«. Diese Tätertypologie enthält u.a. den »Neigungstäter« dem auch »Asozialität« und Kriminalität als verfestigte Charaktereigenschaften zugeschrieben werden.12

Mit der Einführung des Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) im Jahr 1943 wurden viele der zuvor per VO geregelten Maßnahmen Gesetz, dies brachte zahlreiche Verschärfungen mit sich. So wurde die Strafmündigkeit auf 12 Jahre herabgesetzt, die Aussetzung zur Bewährung wurde abgeschafft, das Erwachsenenstrafrecht auf Jugendliche anwendbar, wenn es das »gesunde Volksempfinden« erforderte. Die Einführung der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer und die Maßregel der Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt brachte Inhaftierungen ohne feste Entlassungsperspektive mit sich. Geltung hatte das RJGG von 1943 nur für »Volksgenossen«. Die Bestrafung jüdischer Jugendlicher lag gänzlich bei der Polizei, als »Z« Verfolgte wurden aufgrund der Rassenideologie grundsätzlich nach Erwachsenenstrafrecht beurteilt.13 Laut Ostendorf war das RJGG »nach seiner Konzeption und seiner Ausgestaltung in weiten Teilen Ausdruck der NS-Ideologie«.

Kontinuitäten, Reformierungsversuche und diskursives Aufrechterhalten

Nach dem Sieg der Alliierten gegen Deutschland waren in sämtlichen Sphären des gesellschaftlichen Lebens Entnazifizierungs-, Reform- und Demokratisierungsarbeiten nötig.

1953 wurde in Westdeutschland ein Jugendgerichtsgesetz verabschiedet, welches sich in weiten Teilen (z.B. Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze auf 14 Jahre, die Möglichkeit, Jugendstrafe zur Bewährung auszusetzen) wieder an den Bestimmungen von vor 1933 orientierte. Bemerkenswert ist, dass die Möglichkeit geschaffen wurde, Heranwachsende - also Menschen zwischen 18 und 21 Jahren - nach dem Jugendstrafrecht zu behandeln. Dies ist als moderne Würdigung der Jugendphase anzuerkennen, gleichzeitig geht dies maßgeblich auf Schaffsteins Ideen aus der NS-Zeit zurück. Im Sinne der NS-Ideologie konnte mit dieser Herausnahme junger Menschen aus dem Erwachsenenstrafrecht ein stärkerer »erzieherischer« Zugriff ermöglicht werden, um damit auch das Fortbestehen der NS-Herrschaft zu sichern. Dies bleibt bis heute umstritten: Das Jugendstrafrecht wirkt damit intensiver und länger auf junge Menschen ein. Gerade für Heranwachsende kann das - bedenkt man zusätzlich alle sozialen Folgen einer Inhaftierung - nachteilig sein.14

Damals wie heute zeichnet sich die jugendstrafrechtliche Praxis durch einen unverhältnismäßig kontrollierenden und punitiven Zugriff auf junge Menschen aus. Schon bei der Einführung des Jugendarrests »war die kriminalpolitische Auffassung, dass einer Straftat eines Jugendlichen alsbald eine spürbare Sanktion folgen müsse« ausschlaggebend.15 Genauso stellt es noch heute Carsten Linnemann (CDU) dar, als er sich im Sommer 2023 zu körperlichen Auseinandersetzungen in Berliner Freibädern äußerte: »Wer mittags im Freibad Menschen angreift, muss abends vor dem Richter sitzen und abgeurteilt werden«.16 Der Wunsch nach Schnelligkeit ist dem bundesdeutschen Erziehungsverständnis tief eingeschrieben, was an Redewendungen wie »Die Strafe muss auf dem Fuße folgen« deutlich wird, ganz so, als seien Menschen konditionierbare Wesen im Sinne eines technokratischen Verständnisses von Erziehung. Das Bild des schnellen unmittelbaren Zugriffs auf junge Menschen, mit der Absicht eine abschreckende Wirkung zu entfalten und die Betroffenen zu »resozialisieren«, findet sich in ähnlicher Weise bereits in der Erarbeitung des Jugendarrests in Anlehnung an Schaffstein. Der Jugendarrest sollte in Anlehnung an militärische Praxis, kurz, hart, und schnell vollstreckbar sein, eine Abschreckungsmaßnahme für »Gelegenheitsverbrecher«.17 Der 2016 eingeführte Warnschussarrest schlägt in dieselbe Kerbe, dieser kann zusätzlich zu einer Bewährungsstrafe für bis zu vier Wochen verhängt werden und führt zu Mehrfachbestrafung.

Weitgehend unverändert beibehalten wurde die im NS konzipierte Dreigliedrigkeit des Jugendstrafrechts in Maßnahmen zur Erziehung, Zuchtmittel und Jugendstrafe (d.h. längerer Freiheitsentzug). Besonders der Jugendarrest als kurzer, schmerzlicher Freiheitsentzug blieb erhalten. So sind Bihs18 folgend die verschiedenen Arrestformen (Freizeit-, Kurz- und Dauerarrest) sowie die Mindest- und Höchstdauer des Jugendarrestes als Kontinuität der nationalsozialistischen Ideologie zu verstehen. Darin enthalten ist ein Verständnis von Erziehung als Zucht, das nicht einem modernen Verständnis von Erziehung entspricht. Das Konzept Erziehung im Jugendstrafrecht und im kriminalpolitischen Diskurs weist große Widersprüche zu demokratischen Verständnissen von Erziehung - etwa einer Erziehung zur Mündigkeit nach Adorno - auf und ist geprägt von Autoritarismus.

Das Ziel des JGG ist es, »erneuten Straftaten entgegenzuwirken«. Es soll dabei am »Erziehungsgedanken« (§2 (1)) ausgerichtet sein. Hierfür stehen Richter*innen Zuchtmittel oder Jugendstrafe zur Verfügung, »wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen« (§5 (2)”). Zuchtmittel sollen dabei gleichzeitig als Vergeltung dienen sowie eine erzieherische Wirkung haben (§ 13 JGG). Diese Gleichzeitigkeit von Strafe, Vergeltung und Schuld und Erziehung, bricht mit gängigen demokratisch-humanistischen Konzepten von Erziehung, die Erziehung als Ausbildung von Mündigkeit über körperlich-leibliche und geistig-emotionale Erfahrung oder als Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand sowie zur Kraft zur Reflexion und zur Selbstbestimmung beschreiben19. Auch der Freiheitsentzug der Jugendstrafe soll erzieherisch wirken, »wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist« (§17 (2)). Der Erziehungsappell im JGG begründet sich zumindest teilweise auf sogenannten »schädlichen Neigungen« der jungen Menschen. Somit blieb als eine unbestreitbare Kontinuität die Idee erhalten, dass junge Menschen, Straftaten aufgrund »schädlicher Neigungen« (§ 17 Abs. 2 JGG) begingen.Damit bleiben zumindest auch Bezüge zu Tätertypologien bestehen, wie etwa in Bezug auf sog. Intensivtäter. So sind heute staatliche Programme, die bereits Kinder als »Intensivtäter« adressieren und in ihrer Ansprache rassistischen und klassistischen Mustern folgen, gängige Praxis20.

Die Zuschreibung »schädlicher Neigungen« führt zu einer erheblichen rechtlichen Schlechterstellung und zu Doppelbestrafungen. Während einer Bewährungszeit können »schädliche Neigungen« nachträglich zugesprochen werden, »die eine Jugendstrafe erforderlich« machen, in diesem Fall kann das Gericht den ausgesprochenen Schuldspruch anpassen, beziehungsweise abändern und in eine freiheitsentziehende Jugendstrafe umwandeln (§ 30 JGG). Der fundamentale strafrechtliche Grundsatz ne bis in idem (Verbot der Mehrfachbestrafung) ist dadurch im JGG für junge Menschen mit zugeschriebenen »schädlichen Neigungen« aufgehoben. Wie beiläufig und harmlos diese Annahmen über »schädliche Neigungen« und »Asozialität« noch vorgebracht werden, verdeutlicht folgendes Zitat des oben bereits erwähnten ehemaligen hessischen Justizministers: »Oftmals müssen diese Jugendlichen nicht resozialisiert, sondern erst mal sozialisiert werden«21 – eine Annahme von nicht sozialisierten Menschen im Jugendalter kommt der Beschreibung derselben als »Asoziale« gefährlich nahe.

Weiter wurden auch nach 1953 wesentliche nationalsozialistische Terminologien wie die Unterscheidung in »gutgeartet« und »verwahrlost« (§ 16 JGG) belassen - diese wurden erst 1994 entfernt. Bis heute sind auch andere NS-Terminologien im JGG formuliert und rechtlich kodifiziert - etwa »Ehrgefühl wecken« (§ 90 Abs. 1 S. 1 JGG) sowie »eindringlich zum Bewusstsein bringen, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat«. Auch ein Wieder-Herabsetzen der Strafmündigkeit auf 12 Jahre wird von autoritären und (rechts-)konservativen bis rechtsextremen Kräften erneut zur Diskussion gestellt. Im RJGG von 1943 wurde diese Idee bereits umgesetzt.

Neben den skizzierten rechtlichen Kontinuitäten können auch personelle Kontinuitäten identifiziert werden. Diese werden beispielhaft an der Persona Schaffstein gezeigt, da er während und nach der NS-Herrschaft großen Einfluss auf das Jugendstrafrecht genommen hat. Schaffstein konnte sich schon bald nach dem Krieg als Wissenschaftler retablieren; dabei unterstützten ihn maßgeblich andere Wissenschaftler der NS-Zeit. In der BRD wurden diese Kontinuitäten zur NS-Zeit durchaus gesehen, allerdings »positiv gewürdigt«22, etwa weil Schaffstein den Erziehungsgedanken auch während der NS-Herrschaft im Jugendstrafrecht gehalten hätte. Dass dieser mit Erziehung im eigentlichen Sinne als Förderung der Persönlichkeit eines Menschen rein gar nichts zu tun hatte und nur denen galt, die im Sinne der NS-Ideologie als »erziehbar« eingestuft wurden, wurde ausgeblendet. 1959 erschien Schaffsteins Lehrbuch zum Jugendstrafrecht in erster Auflage, welches »lange Zeit das einzige Werk auf diesem Rechtsgebiet war und bis heute als Standardwerk gilt«23. Über Jahrzehnte prägten Schaffstein und seine Schüler*innen die Darstellung des NS-Jugendstrafrechts als vom Nationalsozialismus unbeeinflusst und durch die Behauptung dessen kontinuierlicher Weiterentwicklung auch während der NS-Zeit. Schaffstein entlastete sich mithilfe dieses Lehrbuchs selbst und verhinderte über Jahrzehnte eine umfassende Entnazifizierung und Modernisierung des Jugendstrafrechts.24

Wenngleich es auch vorher schon kleinere Änderungen am JGG gegeben hat, folgte erst 1990 ein umfassendes Änderungsgesetz - allerdings kaum in Bezug auf die NS-Kontinuitäten. Ausgebaut wurden vor allem die damals so genannten neuen ambulanten Maßnahmen; daneben u.a. die Maßgabe, dass Jugendstrafe bis zu 2 Jahren regelmäßig zur Bewährung auszusetzen ist (§ 21 Abs. 2 JGG); die Erweiterung der Möglichkeit für Staatsanwaltschaft und Gericht, Verfahren einzustellen (»Diversion«, §§ 45, 47 JGG). Bereits 1992 wurde zusätzlicher Reformierungsbedarf angemeldet, insbesondere aufgrund von eskalativen Tendenzen des Strafrechts, der weitreichenden Nichtberücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von Mädchen und jungen Frauen sowie der Notwendigkeit der Stärkung und Aufwertung des Täter-Opfer-Ausgleichs. Diese Bedarfe bestehen bis heute. Erst 1994 wurden die nationalsozialistischen Richtlinien zu § 16 JGG, in denen von »gutgearteten« und »verwahrlosten« Jugendlichen die Rede ist, ersatzlos gestrichen.

2016 folgten wieder umfassende Änderungen – die allerdings fast ausschließlich punitiver Natur waren. Hierzu zählen das Anheben des maximalen Strafmaßes auf 15 Jahre, die Möglichkeit zur nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung auch für junge Menschen, sowie die Verbindung von Jugendstrafe zur Bewährung mit dem sog. Warnschussarrest. All diese Änderungen folgten keinen kriminologischen oder strafrechtswissenschaftlichen Fachdebatten, sondern weitgehend populistischen Forderungen. Es sind also bis heute konservative und extrem punitive Entwicklungen nachzuzeichnen – teilweise sind diese als NS-Kontinuitäten zu interpretieren, teilweise als erbarmungslose neoliberale law and order Politik.

Abolitionistischer Ausblick

Seit bald 80 Jahren bestehen NS-Kontinuitäten im Jugendstrafrecht, in den letzten Jahren gewinnen die zugrunde liegenden Ideologien wieder an politischem Rückhalt. Eine progressive humanistische liberale Gegenbewegung ist kaum sichtbar und nach einem Aufflammen in den 1960er-80er eher kleiner geworden. Eine abolitionistische Kritik geht weit über eine Kritik an NS-Kontinuitäten im Strafrecht hinaus und hinterfragt grundlegender zentrale Prämissen, wie Strafe und Vergeltung, sowie den Anspruch des Staats, Konflikte als sein Eigentum zu betrachten.25 Was wären also abolitionistische Reformen des JGG oder abolitionistische Positionen im kriminalpolitischen Diskurs?

Es ist möglich, kriminologische und erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse anzuerkennen, diesen radikal zu folgen und daraus Reformen abzuleiten. Eine kurze Ideensammlung folgt hier:

(1) Delinquenz ist ein normales Phänomen jugendlicher Entwicklung und Persönlichkeitsbildung, die mit fortschreitendem Alter abnimmt. Daraus folgend, könnte die Grenze der Strafmündigkeit stark erhöht werden. (2) Der Kontakt mit Behörden der Strafjustiz, wie der Polizei, der Staatsanwaltschaft, Gerichten, Jugendarrest und -vollzugsanstalten hat keine abschreckende oder präventive, sondern eine kriminalisierende Wirkung. Im Sinne einer positiven Entwicklung junger Menschen, wären dementsprechende Programme (z.B. der Polizei) einzustellen und Institutionen zurückzubauen und abzuschaffen. (3) Junge Menschen befinden sich in ihrer Entwicklung und sind vulnerabel. Polizei und Justiz sind für ihre Bedürfnisse nicht angemessen ausgebildet und dürfen deshalb nicht für junge Menschen in prekären Lebenslagen zuständig sein. Maßnahmen von »Gefährderansprachen« bis zum Jugendarrest müssen deshalb abgeschafft werden, da sie schädlich für junge Menschen sind. Junge Menschen sind zudem immer eingebettet in gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse. In jungen Menschen alleine nach sog. schädlichen Neigungen zu suchen, um damit dann extrem punitive Verfahren an ihnen zu rechtfertigen, die stigmatisierende Wirkungen auf sie haben werden, muss eingestellt werden. Stattdessen müssen Ressourcen in Institutionen und Verfahren fließen, die junge Menschen Gelegenheiten geben, ihre Welt mitzugestalten und daran teilzuhaben. (4) Die Polizei ist eine Strafverfolgungsbehörde und keine helfende Institution; gesellschaftliche »Freund-und-Helfer«-Narrative verschleiern ihren gewaltvollen Charakter und überfordern sie als Organisation. Hier gilt es Bildung, Erziehung und Soziale Arbeit strikt von Institutionen der Strafjustiz zu lösen, sodass diese ihre Wirkung bezogen auf jugendliche Delinquenz entfalten können.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Ausgabe 3/2024 der Zeitschrift Forum Wissenschaft, die vom Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausgegeben wird. Die Printausgabe der Zeitschrift kann hier bestellt werden.

Die Autor*innen

Dr. des. Lisa Tölle ist Kriminologin und Sonderpädagogin. Sie arbeitet an der Universität Siegen und der Universität zu Köln und beschäftigt sich in ihrer Forschung mit staatlichen Reaktionen auf abweichendes Verhalten. Als politische Bildnerin bei EXIT-EnterLife e. V. gestaltet sie emanzipatorische, politische und sexuelle Bildungsformate in Jugendhilfe und (Jugend-)Vollzug.

Jan Tölle ist freier Bildner und Geschäftsführer von EXIT-EnterLife e.V., einem Träger für emanzipatorische Bildung für junge Menschen in Haft. Aus abolitionistischer Perspektive setzt er sich kritisch mit Strafen und Gefängnis auseinander und gestaltet hierzu Workshops und Projekte. Daneben ist er Trainer für Radical Diversity und Social Justice sowie Supervisor (DGSv).

Michèle Winkler arbeitet als Politische Referentin im Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., hauptsächlich zu Fragen radikaler Demokratie und zur Kritik staatlicher Gewaltinstitutionen.

 

Fußnoten

1 Vgl. Ambos, Kai (2019): Nationalsozialistisches Strafrecht: Kontinuität und Radikalisierung, Nomos, S. 17.

2Vgl. Ambos, 2019, S. 17.

3Ebd. S. 52-53

4Vgl. Heribert Ostendorf, Die Entwicklungsgeschichte des deutschen Jugendstrafrechts Von den Anfängen bis zur Gegenwart; Friederike Wapler, Der Erziehungsgedanke im Fürsorge- und Jugendstrafrecht 1920–1970, In: Eva Schumann, Friederike Wapler (Hg.), Erziehen und Strafen, Bessern und Bewahren, Universitätsverlag Göttingen, 2017

5Wapler 2017, S.38

6Vgl. Jörg Wolff, Hitlerjugend und Jugendgerichtsbarkeit 1933-1945, In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1985

7Vgl. Ambos (2017) und Eva Schumann, Der Ausschuss für Jugendrecht der Akademie für Deutsches Recht 1934–1941, In: Schumann / Wapler (Hg.) (2017), S.100-105

8Friedrich Schaffstein (1936) und (1937), zitiert nach Kirsten Scheiwe, Zwang und Erziehung Die Entwicklung der Fürsorgeerziehung 1870–1990, In: Schumann / Wapler (Hg.) (2017), S.14-15

9Vgl. Scheiwe, S.15, Wapler, S. 39 und Schumann, S. 114, In: Schumann / Wapler (Hg.) (2017)

10Reichsjugendführer Artur Axmann, Das modernste nationalsozialistische Erziehungsmittel, Das junge Deutschland 1940, S. 277 und Heinz Kümmerlein, Das neue Reichsjugendgerichtsgesetz, DJ 1943, S. 535. Beide zitiert nach Ostendorf (2017) In: Schumann / Wapler (Hg.) (2017), S.54

11Vgl. Ostendorf, In: Schumann / Wapler (Hg.) (2017), S. 54-55: Ostendorf weist zudem darauf hin, dass »Zuchtmittel« nicht von ungefähr dem Verb »züchtigen« gleicht. Dem Arrest sei schon früh »ein Strafcharakter i.S. einer Erziehungs-, Ehren-, Schockstrafe« zugesprochen worden. Er sollte die erzieherische Funktion erfüllen, »die im Leben außerhalb der rechtlichen Sphäre bei einem Jungen eine kräftige Tracht Prügel haben kann.« (Zitat von Friedrich Schaffstein)

12Vgl. Tim Schütz, »Hoffnungslose Kriminelle« und »Neigungstäter«. Duncker & Humblot, 2021, S. 174 ff. und Katrin Höffler, Tätertypen im Jugendstrafrecht, In: Schumann / Wapler (Hg.), S. 61 fff

13Vgl. Höffler, In: Schumann / Wapler (Hg.) (2017), S. 66

14Vgl. Gerhard Spiess, Jugend als Strafschärfungsgrund? Zur Rechtswirklichkeit der jugendstrafrechtlichen Sanktionspraxis. In: Unterwegs in Kriminologie und Strafrecht. Festschrift für Hans-Jörg Albrecht, herausgegeben von Haverkamp, R., Kilchling, M., Kinzig, J., Oberwittler, D. & Wössner, G., Berlin: Duncker & Humblot 2021, S. 1035 – 1048.

15Maria Meyer-Höger, Der Jugendarrest. Baden-Baden: Nomos 1998, S. 2ff.

16https://www.tagesschau.de/inland/linnemann-120.html; abgerufen am 20. Juli 2014

17Vgl. Meyer-Höger 2022 In: Amthor et al. 2022

18Anne, Bihs. Grundlegung, Bestandsaufnahme und pädagogische Weiterentwicklung des Jugendarrests in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Jugendarrestvollzuges in Nordrhein-Westfalen zugl. Dissertation Universität zu Köln. 2013. Abgerufen von: kups.ub.uni-koeln.de/5322/

19 vgl. Adorno, 1971

20Bspw.: www.kurvekriegen.nrw.de, abgerufen am 20. Juli 2024

21 Jörg-Uwe Hahn, FDP 2013

22Schumann 2017, S. 126

23Schumann 2017, S. 126

24Schumann 2017, S. 126-128

25 Nils Christie, Conflicts as property, In British Journal of Criminology, Vol. 17, 1977, S. 1-15