11. Juni 2021 © Paul Lovis Wagner/flickr
Demokratie / Klimakrise & Klimaschutz / Polizei / Repression / Versammlungsrecht

Ziviler Ungehorsam bei Klimaprotesten: Die Helden von morgen

Ziviler Ungehorsam ist en vogue in der Klimaschutzbewegung. Schü­le­r*in­nen von Fridays for Future (FFF) schwänzten monatelang freitags die Schule (und würden es wohl noch tun, wenn Corona nicht wäre), Ak­ti­vis­t*in­nen von Ende Gelände (EG) besetzen Braunkohletagebaue und gefährdete Wälder, Re­bel­l*in­nen von Extinction Rebellion (XR) blockieren Straßen, kleben sich an Partei- und Konzernzen­tralen. Mit der angekündigten „Massenblockade“ auf der A100 durch Sand im Getriebe (SiG) am Samstag kommt ein neuer Zielort für Proteste hinzu: Autobahnbaustellen.

Dass immer mehr unbescholtene Bür­ge­r*in­nen es wagen, die Schwelle des erlaubten Protests zu übertreten und den Konflikt mit dem Gesetz suchen, hat zwei Gründe. Da ist zum einen die Bedrohung durch die Klimakrise, die existenzielle Angst vor einer globalen Vernichtung von Leben und Lebensräumen, die aus Sicht der Ak­ti­vis­t*in­nen sofortiges Handeln erfordert. „Wir sind mitten drin in der Klimakatastrophe, dies ist die letzte Chance etwas zu ändern“, sagt Lou Winters, Sprecherin der Berliner Gruppe von SiG.

Hinzu kommt der Frust, dass legale Protestformen nichts geändert haben. „Die Politik versagt, handelt nur im Interesse von Konzernen. Darum müssen wir mit unseren Körpern dafür sorgen, dass etwas passiert“, glaubt Winters. Ähnlich sieht es Tino Pfaff, Sprecher von XR: „Seit 40 Jahren reden wir über die Bedrohungen durch die Klimakrise. Menschen demonstrieren, schreiben Petitionen – nichts hat gewirkt.“ Darum müsse man mit „symbolischen Aktionen“ wie Straßenblockaden „größtmögliche Aufmerksamkeit für das Thema erzielen“.

Mit den verschiedenen Formen des zivilen Ungehorsams (ZU) greift die Klimabewegung auf eine seit der Antike bekannte Praxis zurück, die immer wieder erfolgreich war. Die prominentesten Beispiele jüngeren Datums sind wohl die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung und der indische Unabhängigkeitskampf von Mahatma Gandhi.

„Generell ist ziviler Ungehorsam legitim, weil demokratischer Fortschritt in den seltensten Fällen aus dem politischen System selbst heraus geschieht. Meist bedarf es dazu 'radikaler’ Proteste“, erklärt Robin Celikates, Philosoph mit einem Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Freien Universität. „Ob ZU im konkreten Einzelfall tatsächlich gerechtfertigt ist, kann nur die demokratische Öffentlichkeit entscheiden.“

Ohne „radikalen“ Protest keine Veränderung

Auch SiG und XR berufen sich auf historische Beispiele wie die Arbeiter*innenbewegung. „Ohne bewusste Übertretung von Gesetzen gibt es keine Veränderung“, ist Jassin Braun, Aktivist von SiG, sicher. Die Tatsache, dass vor wenigen Wochen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung als unzureichend verworfen hat, ist für ihn kein schlagendes Gegenargument. „Das Urteil ist ein Erfolg der Klimabewegung und des zivilen Ungehorsams von Gruppen wie Ende Gelände.“

Celikates stimmt zu: „Ohne massenhafte Klimaproteste hätte es dieses Urteil zumindest nicht jetzt und in dieser Form gegeben.“ Mehr noch: Da nun alles auf die politische Umsetzung des Gerichtsurteils ankomme, „braucht es weiterhin politischen Protest und Aktivismus“.

Um damit bei der Mehrheitsgesellschaft zu punkten, betonen die meisten Gruppen ihren gewaltlosen Charakter. Denn in den westlichen Demokratien ist es weitgehend Konsens, dass ZU gewaltfrei zu sein hat. Celikates sieht dies anders: Warum, fragt er, sollten Proteste gegen massives Unrecht, die Sachbeschädigung, minimale Gewalt zur Selbstverteidigung oder gegen die eigene Person umfassen, per se unvereinbar sein mit zivilem Ungehorsam?

Tino Pfaff erklärt, bei XR sei es der „größte Konsens“ in den allermeisten Gruppen, dass man keine Gewalt anwende, „auch nicht gegen Dinge“. Bei SiG gibt es den „Aktionskonsens, dass von uns keine Eskalation ausgeht“, betont Winters. Auf die Frage, wie sie es mit Sachbeschädigung halte – ob etwa der Kabelbrand vor einen Tagen an der Tesla-Baustelle in Grünheide, zu dem sich eine „Vulkangruppe“ bekannte, legitimer ziviler Ungehorsam sei – antwortet Winters sibyllinisch: „Die Klimabewegung lebt von der Vielfalt der Mittel.“ Und: SiG stehe in der Tradition von Ende Gelände: „Wir gehen an die Orte der Zerstörung.“ Soll heißen: Man zerstört nicht selbst, sondern zeigt auf das, was andere – Kohlekonzerne, die Autobahn GmbH – zerstören.

Zentral ist die Gewaltfrage in der juristischen Auseinandersetzung. Wie Celikates erklärt, kann laut Bundesgerichtshof und BVerfG schon eine Straßenblockade „Nötigung mit Gewalt“ sein. Dagegen stehe allerdings das Recht auf Versammlungsfreiheit, „so dass Richter und Staatsanwälte diesen Weg nicht gehen müssen.“

Verfahren werden meist eingestellt

Tatsächlich sind Verurteilungen wegen Nötigung nach Straßenblockaden eher selten, so die Erfahrung von Lukas Theune. Der Rechtsanwalt hat mehrfach Kli­maak­tivis­ti*­in­nen vor Gericht verteidigt, etwa von XR, die bei der „Rebellion Wave“ 2019 in Berlin Kreuzungen blockiert haben. Meist habe es Anklagen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gegeben, sagt er; dies aber nur für Aktivist*innen, die sich angekettet hatten, etwa an Fahrzeuge – nicht für diejenigen, „die nur auf der Straße saßen“. Die meisten dieser Verfahren seien wegen Geringfügigkeit eingestellt worden. „Manche Richter haben auch gesagt, sie würden es honorieren, dass sich junge Leute dafür einsetzen, dass es den Planeten noch eine Weile gibt.“ Auch Tino Pfaff von XR nimmt wahr, dass das Verständnis von Rich­te­r*in­nen für die Motive von Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen zunimmt: „Aber da ist noch Luft nach oben.“

Prozesse politisieren

Für seine Organisation seien Gerichtsverhandlungen ein wichtiger Teil der politischen Arbeit, erzählt er. „Wir versuchen, die Prozesse zu politisieren.“ Manche Ak­ti­vis­t*in­nen brächten sachverständige Zeugen, etwa Wissenschaftler, mit, die das Gericht über die Klimakrise beziehungsweise bestimmte Teilaspekte aufklären. „Oft wissen die Richter vorher wenig darüber.“

Für die taz hat Pfaff viele Gerichtsprozesse gegen XR-Aktivist*innen der letzten zwei Jahre gesichtet. Im Zuge der „Rebellion Wave“ 2019 in Berlin etwa gab es nach seiner Liste 30 Anklagen, alle wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Davon wurden bislang 14 Verfahren eingestellt, die meisten gegen Auflagen, sprich: Zahlung einer Geldstrafe von ein paar hundert Euro. Eine* Ak­ti­vis­t*in wurde verurteilt zur Zahlung einer Geldstrafe von 1.350 Euro, eine* wurde freigesprochen.

Was es bislang nicht gab in Deutschland, wohl aber in der Schweiz Anfang diesen Jahres, ist ein Freispruch wegen „rechtfertigenden Notstands“ (Paragraf 34 StGB). Der Paragraph besagt, dass man nicht rechtswidrig handelt, wenn man eine Straftat begeht, um damit einen größeren Schaden von sich oder anderen abzuwenden.

Ein Schweizer Bezirksrichter hatte mit Bezug auf das Schweizer Pendant zu Paragraf 34 StGB elf Kli­mak­ti­vis­t*in­nen der Bewegung Lausanne Action Climat freigesprochen, die in einer Bankniederlassung in Lausanne Tennis gespielt hatten. Hintergrund: Die Bank wirbt mit dem Tennisstar Roger Federer und investiert nach Ansicht der Ak­ti­vis­t*in­nen in klimaschädliche Projekte und Unternehmen. Der Richter befand, das Vorgehen der Protestierenden sei „notwendig und angemessen“ gewesen: „Die Aktion sei der einzige wirksame Weg gewesen, um die Bank zu einer Reaktion zu bewegen und um die notwendige Aufmerksamkeit von den Medien und der Öffentlichkeit zu erhalten.“

Mit dem „rechtfertigenden Notstand“ versuchen An­wäl­t*in­nen von Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen – so auch Lukas Theune – immer wieder, zivilen Ungehorsam vor Gericht zu begründen. Bislang sind Richter in Deutschland diesem Argument aber nicht gefolgt. Wenn sie Angeklagte freisprechen, dann zumeist wegen Geringfügigkeit. So war es etwa in einem Fall vor dem Heidelberger Amtsgericht im Mai 2020 von dem die Rhein-Neckar-Zeitung berichtet. Dort sprach ein Richter neun XR-Aktivist*innen frei, die im Jahr zuvor eine Brücke in der Stadt blockiert hatten. Dadurch wurden Au­to­fah­re­r*in­nen für rund 20 Minuten an der Weiterfahrt verhindert, was die Staatsanwaltschaft als Nötigung ansah.

Dagegen argumentierte der Amtsrichter, dass das Anliegen, für Klimaschutz zu werben, legitim sei, zumal es mit einer Straßenblockade unmittelbar an Autofahrer addressiert sei – Fuß­gän­ge­r*in­nen und Rad­fah­re­r*in­nen konnten passieren. Deshalb und wegen der kurzen Dauer der Blockade „war die Sache für mich nicht verwerflich“, soll der Richter laut Zeitungsbericht gesagt haben.

Auch Celikates weiß von Urteilen gegen Klimaaktivist*innen, bei denen Rich­te­r*in­nen Verständnis zeigten für die Motive der Angeklagten und „milde“ urteilten. Es gebe aber auch das Gegenteil: „Manche meinen, man müsse zivilen Ungehorsam noch härter bestrafen, weil sich die Ak­ti­vis­t*in­nen ja über das demokratisch zustande gekommene Gesetz stellen.“
 

Druck auf Ak­ti­vis­t*in­nen durch Zivilklagen

Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee kann jedenfalls keinen Trend erkennen, dass Gerichte verständnisvoll über Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen urteilen. Im Gegenteil, sie sieht Ak­ti­vis­t*in­nen aufgrund des Risikos von Zivilklagen durch Konzerne unter Druck. Diese arbeiteten mit Unterlassungserklärungen, die Ak­tivs­t*in­nen unterschreiben müssen, die einmal bei einer Besetzung polizeilich identifiziert wurden. „Bei Zuwiderhandlung drohen ihnen drakonische Vertragsstrafen von mehreren tausend bis zehntausend Euro“, erklärt sie.

Bislang seien alle Prozesse, mit denen sich Ak­ti­vis­t*in­nen gegen solche Erklärungen wehrten, verloren gegangen. Winkler: „Diese Strategie greift um sich: RWE hat es vorgemacht, dann kamen die Kohlekonzerne in der Lausitz und im Leipziper Land, jetzt macht es der Fleischkonzern Tönnies nach.“

Celikates warnt ebenfalls vor der Illusion, dass die Adressaten von Klimaprotesten nicht alles unternehmen würden, um die Bewegung zu kriminalisieren. „Die Konzerne haben enorme Druckmittel und Ressourcen. Auch Teile der Politik werden alles versuchen, um deren Interessen zu verteidigen.“ So stünden die Be­set­ze­r*in­nen von Ende Gelände ja schon als „Linksradikale“ im Verfassungsschutzbericht.

Gut möglich also, dass es der Klimabewegung so ergeht wie früheren Bewegungen des zivilen Ungehorsams. Oft war es nämlich so, sagt Celikates: „Zu ihrer Zeit wurden sie als Terroristen bezeichnet. Für uns heute sind sie Helden.“

Autorin: Susanne Memarnia

Der Artikel erschien am 5. Juni 2021 in der TAZ