Während der brutale Krieg in der Ukraine im Spätsommer unvermindert fortgeführt wird, treten hierzulande politische Tendenzen klarer hervor. Dazu gehören die Doppelstandards der Bundesregierung, die in Bezug auf den von Russland geführten Angriffskrieg und seinen Folgen völlig andere Maßstäbe ansetzt als bei der Beurteilung anderer militärischer Konflikte.
Während führende Politiker*innen ohne Unterlass davon sprechen, dass „unsere demokratischen Werte“ in der Ukraine verteidigt werden müssten, werden die erneuten Invasionsdrohungen des Nato-Verbündeten Türkei gegen das nordsyrische Rojava nicht einmal mit einem Achselzucken goutiert. Dass die Türkei heute wieder täglich im Nordirak und Nordsyrien bombardiert und gezielt Menschen mit Drohnen ermordet, scheint keine Debatte und Empörung wert.
Dabei unterscheidet sich der türkische Staat, der im Inneren die Opposition unterdrückt und nach außen aggressiv alte Machtansprüche verfolgt, kaum von der russischen Autokratie unter Putin. Doch während die russische Propaganda zurückgewiesen wird, werden Erdoğans Sprachregelungen weitge- hend übernommen.
Warum diese offensichtliche Diskrepanz im Umgang? Die strategisch bedeutende Stellung der Türkei an der südöstlichen Nato-Flanke und Erdoğans „EU-Flüchtlingsdeal“ sind allzu wirksame Druckmittel. Im globalen Konkurrenzkampf und zur Migrationskontrolle gestehen Nato-Mitglieder und Bundesregierung der Türkei einen weitreichenden Spielraum bei völkerrechtswidrigen Kriegen und militärischen Ambitionen zu.
Außenministerin Annalena Baerbock hat zwar bei einem Treffen in der Türkei gegenüber dem türkischen Außenminister jüngst die aktuellen Kriegspläne Ankaras in Nordsyrien mit Verweis auf das Völkerrecht kritisiert, aber dass auf diese Worte Taten folgen, darf bezweifelt werden. Die Bundesregierung bekräftigt regelmäßig und pflichtbewusst die von der Türkei vorgeschobenen „Sicherheitsinteressen“ gegen den „Terror der PKK“.
Die Kernargumente der türkischen Regierung bleiben unwidersprochen, an der langjährigen Kriminalisierung der Kurdi*innen in Deutschand wird auch unter der Ampel nicht gerüttelt. Vielmehr häufen sich die Abschiebungen von Kurd*innen in die Türkei, wo ihnen Gefängnis, Folter und Tod drohen.
Würde Baerbock es ernst meinen mit ihrer „wertebasierten Politik“, wäre der nächste Schritt die Aufnahme von Gesprächen mit der Selbstverwaltung in Nordsyrien. Zudem müssten Waffenlieferungen an die Türkei eingestellt, sowie ein Abschiebestopp verhängt werden. Im Rahmen der Nato-Politik bleibt dies jedoch nur schwer denkbar: Schweden und Finnland haben mit der Erfüllung von Ankaras Wunschliste von Auslieferungen und Waffenlieferungen als Bedingung zum Beitritt zum Militärbündnis bewiesen, dass sie, wie viele weitere Nato-Staaten, in letzter Instanz auch bereit sind, die Leben von Kurd*innen zu opfern, wenn es verlangt wird.
Die Kriege in der Ukraine wie auch in Nordsyrien und in anderen Teilen der Welt finden dabei in einer Phase der zunehmenden globalen Krisenent wicklung statt. Die anhaltende Corona-Pandemie und die Klimakrise verschärfen die bestehenden Probleme des Kapitalismus – hohe Schuldenberge, sinkende Profite, instabile internationale Lieferketten, wachsende Inflation.
Der abnehmende Einfluss der USA bedeutet dabei nicht etwa eine gerechtere und demokratischere Weltordnung. Andere Kräfte wollen vielmehr die Chance nutzen, ihre eigenen Einflusssphären auszudehnen und sich die verbliebenen Ressourcen zu sichern – notfalls mit militärischer Gewalt. Der Krieg gegen die Ukraine mitsamt der internationalen Sanktionen verstärkt dabei das generelle Chaos. In zahlreichen Ländern gibt es bereits Engpässe an Nahrungsmitteln, Treibstoff und Medikamenten, für den Herbst warnen Hilfsorganisationen vor Hungersnöten.
Und während die Augen der Weltöffentlichkeit auf die Ukraine gerichtet sind, drohen neben den humanitären Krisen auch die hierzulande ignorierten Kriege in Äthiopien oder im Jemen einfach weiter zu gehen. Die Folgen werden auf verschiedenen Ebenen zu spüren sein – und sind es schon jetzt:
Millionen Menschen fliehen seit Kriegsbeginn aus der Ukraine in angrenzende Länder und darüber hinaus. Die EU-Staaten verzichten für ukrainische Staatsbürger*innen aus nahmsweise auf sonst übliche repressive Ausschlussmaßnahmen. Sie beschlossen, diese schnell und unbürokratisch aufzunehmen. Ukrainer*innen sowie bestimmte Drittstaatsangehörige, die sich in der Ukraine aufgehalten haben, erhalten nun in einem EU-Land ihrer Wahl eine Aufenthaltserlaubnis, dürfen arbeiten und Sozialleistungen beziehen.
Dafür wurde erstmals in der Geschichte der EU die seit 2001 ungenutzt existierende „EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz“ angewandt. Damit brauchen sie als Kriegsflüchtlinge ihre Schutzbedürftigkeit nicht individuell zu beweisen, wie dies etwa für Menschen aus dem Jemen, aus Somalia und anderen Kriegsgebieten weiterhin die Regel ist.
Bisher hatte sich Deutschland an den Menschen aus der Ukraine vor allem bereichert: Ukrainer*innen werden hier bereits seit Jahren als billige Saisonkräfte in der Altenpflege und Ernte ausgebeutet, die Anstellung der Neu ankömmlinge labeln manche Unternehmen nun als „humanitäre Hilfe“ – trotz Dumpinglohn.
Gleichzeitig ist in Deutschland die Hilfsbereitschaft gegenüber diesen Ankommenden überwältigend: Sie werden überwiegend mit offenen Armen emp- fangen. Die Kommunen beeilten sich, allen eine vorübergehende Bleibe zu bieten. Bis Mitte Juli 2022 hatten sich über 900.000 ukrainischen Staatsangehörige in Deutschland als Kriegsflüchtende registriert.
Obwohl alle aus der Ukraine vor demselben Krieg fliehen, werden nicht alle gleich behandelt. Die Bevorzugung ist als weiß gelesenen Ukrainer*innen vor behalten. Rom*nja und Drittstaaten angehörige, darunter etwa in der Ukraine lebende Menschen aus Ländern Afrikas oder Transitflüchtende aus Syrien, Afghanistan, und Tschetschenien wurde zunächst der Zugang zur Grenze verwehrt, dort nach Nationalität und Hautfarbe unterschieden.
In Deutschland angekommen, werden für sie unterschiedliche Regelungen an gewendet und sie müssen um Status und Aufenthalt fürchten. Doch selbst wenn sie bleiben können – die Stabilität des neuen Zuhauses könnte sich als brüchig erweisen.
Die Auswirkungen der multiplen Krisen werden – auch in Deutschland – immer stärker spürbar. Der Klimawandel führt zu Extremwetterereignissen. Nahrungsmittelpreise steigen massiv, für den Winter sind deutliche Gaspreiserhöhungen angekündigt. Der kontinuierliche Anstieg der Armutsquote – ebenso wie die Anzahl deutscher Milliardäre – hatte sich schon während der Corona-Pandemie deutlich beschleunigt.
Dieser Trend wird sich voraussichtlich noch weiter verschärfen, eine angemessene Entlastung der Menschen ist nicht in Sicht. Dabei müssten gerade jetzt wirksame Maßnahmen zur Umverteilung, zum massiven und zügigen Ausbau der erneuerbaren Energien sowie zum kostenlosen ÖPNV auf den Tisch.
Diese Veränderungen würden nicht nur die ökonomische Krise für viele abfedern, sondern könnten auch bedeutende Weichen für eine andere, bessere Zukunft stellen. Die Verteidigung von Grundrechten und der Kampf für eine soziale Versorgung für alle wird in Zeiten steigender Verteilungskämpfe mehr denn je eine zentrale Aufgabe.