26. Nov. 2010 © pxhere
Lebenslange Haftstrafe

Wegsperren für immer: Neuregelung geht auf Kosten der Menschenrechte

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist ein "rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel": Dies ist das Ergebnis einer unter diesem Titel erschienenen wissenschaftlichen Studie des Kriminologen Michael Alex. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass ein Großteil der Prognosen über die Gefährlichkeit nicht stimmt. Statt die Sicherungsverwahrung also grundsätzlich zu hinterfragen, wird sie durch ihre Neureglung de facto ausgeweitet. Schwarz-Gelb folgt ganz dem Credo Gerhard Schröders: „Wegschließen – und zwar für immer“.

Die aktuelle Debatte über die "Neuordnung" der Sicherungsverwahrung hat zwei Wurzeln: einerseits den schwarz-gelben Koalitionsvertrag von 2009. In ihm wurde vereinbart, dass durch zahlreiche Gesetzesänderungen der letzten Jahre angerichtete Chaos zu lichten. Andererseits: ein Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), mit dem klargestellt wurde, dass die Sicherungsverwahrung in Deutschland rechtlich und faktisch als Strafe zu werten sei, weshalb sie nicht nachträglich verhängt oder verlängert werden dürfe.Deutschland wurde vom EGMR u.a. wegen eines Verstoßes gegen das Rückwir-kungsverbot (Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) verurteilt. Denn der rückwirkende Wegfall der Zehn-Jahres-Höchstfrist bei der deutschen Sicherungsverwahrung verstößt gegen die Menschenrechtskonvention. Insofern hätten nicht nur der Beschwerdeführer vor dem EGMR, sondern auch rund 120 vergleichbar Betroffene aus der menschenrechtswidrigen Sicherungsverwahrung bzw. ihrer Verlängerung entlassen werden müssen. Das aber ist bisher von der Exekutive und von vielen damit befassten Gerichten, bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht, und jüngst vom Bundesgerichtshof, verhindert worden: Der Anfangsverdacht von Freiheitsberaubung drängt sich auf!Vor diesem Hintergrund zielen die derzeitigen Gesetzgebungsaktivitäten (Gesetzentwurf der Koalition vom 26. Oktober 2010, BT-Drs 17/3403; Anhörung im Rechtsausschuss am 10. November 2010) nicht nur darauf ab, das Sicherungsverwahrungsrecht neu zu ordnen und soviel zu "retten", wie es die EMRK in der Auslegung durch den EGMR vermeintlich gerade noch zulässt. Es geht bei den Gesetzgebungsaktivitäten auch darum, die anhalten-den Freiheitsberaubungen nachträglich und notstandsähnlich zu legalisieren.

Die Sicherungsverwahrung wurde 1933 als sogenannte Maßregel der Sicherung und Besserung eingeführt, seit 1969 firmierte sie als Maßregel der "Besserung und Sicherung", was aber nichts daran ändern konnte, dass sie eine reine Sicherungsmaßnahme blieb. Die DDR hatte 1949 gute Gründe, die Sicherungsverwahrung als "typisch nationalsozialistisches Unrecht" zu verwerfen – auch wenn es sich nicht um eine NS-Erfindung handelte. In den "neuen Ländern" wurde die Sicherungsverwahrung der BRD erst 1995 wieder eingeführt.

Freiheitsberaubung soll legalisiert werden

Die Sicherungsverwahrung galt und gilt als die radikalste und einschneidendste Sanktion, als "Ultima Ratio" des "modernen" Präventionsstrafrechts. Sie bedeutet in der Regel die unbefristete und nicht selten auch - zum Teil sogar wortwörtlich - lebenslängliche sichere Verwahrung im Justizvollzug nach Vollverbüßung der verwirkten Schuldstrafe.

    Bis in die 1980er Jahre waren die Sicherungsverwahrungsanordnungen und -vollstreckungen rückläufig. Allgemein wurde angenommen, die Sicherungsverwahrung würde sich irgendwann von allein abschaffen. Im Jahr 1995 befanden sich nur noch 179 Menschen in den Sicherungsverwahrungsabteilungen der Gefängnisse. Ende der 1990er Jahre setzte jedoch eine seitdem unaufhörliche Renaissance der Sicherungsverwahrung ein.

    Diese Entwicklung bescherte uns nicht nur Gesetzesvorschriften, die in puncto Rechts(un)sicherheit noch hinter den "Rechts"-Zustand von 1933 zurückfielen. Auch der Bestand an Sicherungsverwahrungsgefangenen wuchs auf inzwischen deutlich mehr als 500 (also mehr als das Dreifache) an. Nach einer aktuellen Untersuchung der Kriminologischen Zentralstelle hatte die Hälfte aller im Jahre 2008 aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen insgesamt mehr als 13 Jahre im Justizvollzug verbracht (der längste 31 Jahre), zwei Personen waren im Vollzug verstorben.

    Der Trend einer kriminalpopulistischen Sicherheitspolitik, die den Namen Kriminalpolitik kaum mehr verdient, hält mit den aktuellen parlamentarischen Aktivitäten ungebrochen an. Was jetzt als "Reform" daherkommt mit dem behaupteten Ziel, die Sicherungsverwahrung auf "schwerste Fälle" zu beschränken (BT-Drs 17/3403, S. 22), und vorgibt, die nötigen Konsequenzen aus dem EGMR-Urteil zu ziehen, wird sich unter dem Strich als abermalige Ausweitung und Verschärfung des Sicherungsverwahrungsinstrumentariums auf Kosten der Menschenrechte erweisen. Die juristischen Details seien den LeserInnen erspart, nur so viel:

    Die primäre Sicherungsverwahrung soll auf die wirklich schwersten Fälle beschränkt werden. Trotzdem wird es weiterhin so sein, dass gewaltlose Eigentums- und Vermögensdelikte wie Wohnungseinbruch, gewerbsmäßige Hehlerei sowie bandenmäßiger Diebstahl oder Betrug und einfach gelagerte Raubfälle eine Sicherungsverwahrung begründen können, wenn im Wiederholungsfall "schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet" wurde.

Sicherheitsrecht statt Rechtssicherheit

Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung soll erheblich ausgeweitet werden für Fälle, in denen zwar "nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar, aber wahrscheinlich" ist, dass eine Sicherungsverwahrung angeordnet werden könnte. Die Anordnung ergeht am Ende des Strafvollzugs in Anbetracht der "Entwicklung" des Inhaftierten bis zu diesem Zeitpunkt. Als habe er es selbst in der Hand, jene "Wahrscheinlichkeit" zu untergraben.

    Die nachträgliche Sicherungsverwahrung soll abgeschafft werden, allerdings nur für neue Fälle (Straftatbegehung nach Inkrafttreten). Abgeschafft wird sie auch nicht für diejeni-gen, deren oft schon langjährige Unterbringung in der forensischen Psychiatrie unter dem Hinweis darauf abgebrochen wurde, sie seien gar nicht psychisch krank, aber trotzdem gefährlich, wofür sie mit nachträglichem unbefristeten Justizvollzug bestraft werden.

    Dass die vorgesehenen Änderungen (insbesondere in puncto vorbehaltener und nachträglicher Sicherungsverwahrung) EMRK-konform sind, wird von zahlreichen Fachleuten bestritten. Es wäre freilich das erste Mal, dass das Parlament in Sachen Sicherungsverwahrung auf die Fachleute hören würde. Auch die Blamage vor dem EGMR war vorhergesagt worden. Zum Teil wurde sogar explizit - ebenso unbeirrbar wie unbelehrbar - verlautbart, das werde so oder so gemacht, und wenn man vom EGMR wieder aufgehoben werde: na und?

    Die Resistenz gegenüber der EMRK und die Renitenz gegenüber dem EGMR haben besorgniserregende Formen angenommen. Die dritte Verurteilung Deutschlands aufgrund von Menschenrechtsverletzungen innerhalb weniger Jahre (2006: Brechmitteleinsatz - Verstoß gegen das Folterverbot; 2009: Sicherungsverwahrung - Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot; 2010: Frankfurter Folterskandal) lässt erahnen, dass sicherheitspolitische "Hangtäter" im Zweifel vom Pfad der Europäischen Menschenrechte abweichen und nationale Sonderwege wählen. Deutsches Sicherheitsrecht vs. Europäische Rechtssicherheit!

    Am 10. November 2010 durften sich die Fachleute vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages wieder einmal zu einem Sicherungsverwahrungsgesetzentwurf äußern. Die Einschätzungen zu den Neuregelungen gingen zum Teil weit auseinander. Aus Reihen der Justiz wurden sie offenbar wegen der "klaren Entscheidungsschema und neuen klaren Anordnungsgrundsätze" begrüßt. Als konventionswidrig kritisierte jedoch Prof. Jörg Jörg Kinzig (Uni Tübingen) die Beibehaltung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Altfälle und den Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, die bis zu 1.000 Personen erfassen könnte.

    Noch deutlichere Ablehnung fand die Idee eines "Therapieunterbringungs-Gesetzes" (ThUG): Der darin liegende Versuch, die Psychiatrie "als Ersatzreserve für das Strafrecht zu nutzen", scheitere hoffentlich, so der Psychiater Prof. Norbert Leygraf (Uni Duisburg-Essen), "schon an rechtlichen Erwägungen". Solche Hoffnungen wurden von jenen Experten genährt, die die Vereinbarkeit des ThUG mit der EMRK stark bezweifelten (z.B. Prof. Joachim Renzikowski, Uni Halle-Wittenberg, und Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, Berlin).

    Einen Tag nach der Expertenanhörung im Bundestag, am 11. November 2010, wurde ein Beschluss des 5. Senats des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 9. November 2010 bekant. Gegenstand waren Entscheidungen der Oberlandesgerichte Stuttgart, Celle und Koblenz. Diese Gerichte wollen die Sicherungsverwahrung in Altfällen fortdauern lassen. Sie weichen damit von Entscheidungen der Oberlandesgerichte Frankfurt, Hamm, Karlsruhe und Schleswig ab, nach denen für Altfälle die zur Tatzeit bestehende Höchstfrist der ersten Sicherungsverwahrung von zehn Jahren zu gelten habe und folglich die Vollstreckung der Unterbringung über diese Frist hinaus unzulässig sei.

Aufgrund einer sogenannten Divergenzvorlage entschied sich der 5. Strafsenat für die Oberlandesgerichte in Celle, Koblenz und Stuttgart und gegen den EGMR. Die menschenrechtswidrige Freiheitsentziehung dürfe fortgesetzt werden, denn "wenn der gegenteilige Wille des Gesetzgebers ... unmissverständlich zum Ausdruck kommt, endet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Zulässigkeit konventionskonformer Auslegung". (PM vom 11.11.10)

Gesetzliches Unrecht, mehr ist dazu nicht zu sagen!

Darüber mag zwischen den Senaten des BGH das letzte Wort noch nicht gesprochen sein, ein menschenrechtspolitischer Skandal ist es aber allemal. Zumal die Bundesregierung dem Europarat bis Mitte November Bericht zu erstatten hat, wie die Entscheidung des EGMR umgesetzt worden ist. Der Europarat sollte sich mit solcher Renitenz nicht abfinden. Ansonsten macht er sich unglaubwürdig beim Anprangern anderweitiger Menschenrechtsverletzungen.

Die prinzipiellen rechtsstaatlichen und kriminalpolitischen Probleme mit der Siche-rungsverwahrung sind alt: Die Unterbringung beruht auf der - zumeist kriminalpsychiatrischen - Prognose, der Verurteilte werde, weil er ein sogenannter Hangtäter sei (1933 hieß das noch "Gewohnheitsverbrecher", in der Sache hat sich aber nicht viel geändert), vergleichbare schwere Straftaten, wie die gerade abgeurteilte, nach voller Strafverbüßung erneut begehen. Die Mitmenschen vor solch schweren Rückfalltaten schützen zu wollen, ist "mit Sicherheit" ein hehres Ziel. Der Preis, den die Betroffenen dafür zahlen müssen, ist aber mit eben solcher Sicherheit zu hoch.

Dass es in Einzelfällen solche Rückfalltaten gibt bzw. geben wird, gilt kriminalstatistisch als ausgemacht - wer sie wann begehen wird, ist jedoch seriös nicht vorhersehbar. In die Sicherungsverwahrung gerät, wer einer Gruppe mit bestimmten kriminalstatistisch als ungünstig bewerteten "items" zugerechnet wird. Dabei wird immer häufiger auch wieder ganz unverblümt von "Psychopathen" gesprochen, die unheilvolle Geschichte dieser psycho-biologischen und charakter-pathologischen Kategorisierung vom "Verbrechermenschen" mehr oder weniger bewusst ausblendend. Dass die Gefährlichkeit dieser Menschen notorisch überschätzt wird, wurde gerade in letzter Zeit wieder mehrfach eindrucksvoll kriminologisch belegt, wird aber realpolitisch - getreu dem Motto: da nicht sein kann, was nicht sein darf - ebenso notorisch ignoriert.

Neu ist das geplante sogenannte Therapieunterbringungsgesetz (ThUG): In der Form eines verfassungsrechtlich bedenklichen Ausnahmegesetzes sollen die "Zehn-Jahres-Fälle", die eigentlich längst hätten entlassen werden müssen, einer sogenannten Therapieunterbringung zugeführt werden, wenn sie "psychisch gestört" sind; gemeint sind sogenannte dissoziale Persönlichkeiten. Das soll einer Unterbringung von "Geisteskranken" gemäß Artikel 5 EMRK entsprechen - welch dreister Etikettenschwindel. Gesetzliches Unrecht, mehr ist dazu nicht zu sagen!

Ein ThUG, wer Böses dabei denkt: Als "thugs" werden im Englischen Strolche, Rüpel, Rowdys und Schlägertypen oder allgemein Gangster und Verbrecher bezeichnet. Der geplante staatliche Umgang mit ihren Menschenrechten ist allemal rüpelhaft! Die Sicherheitsverwahrung werde mit den geplanten Änderungen zu einem "in sich geschlossenen Neubau", so die Bundesjustizministerin vor dem Bundestag am 29. Oktober 2010.

Helmut Pollähne

 

Der Autor ist Rechtsanwalt in Bremen und Mitglied im Vorstand des Komitees für

Grundrechte und Demokratie

 

 

( erschienen in: ak 555 am 19. November 2010 – Seite 7 )