Vor dem Hintergrund aktueller Debatten um die Verschärfung von Abschieberegeln lohnt sich die Lektüre einer Rede, die August Bebel vor über einem Jahrhundert im Deutschen Reichstag gegen aus seiner Sicht inhumane Abschiebepraxen hielt.
In seiner am 3. Mai 1906 im Deutschen Reichstag gehaltenen Redei kritisierte August Bebel die Massenabschiebung russischer Staatsangehöriger, unter ihnen viele Jüdinnen*Juden, durch die preußische Staatsgewalt: „Sie kann Existenzen ruinieren, sie kann den schwersten Schaden anrichten, sie kann ganze Familien ins Unglück stürzen – das ist völlig gleichgültig, da kommt weder Humanität noch Christentum noch Gerechtigkeit in Frage. […] Die Menschen werden tatsächlich wie Nullen behandelt, als Wesen, denen in keiner Beziehung eine Berechtigung zur Existenz zusteht, die man einfach […] ausweist, ganz wie man es für gut erachtet. […] Es zeigt sich, daß wir in der Tat hier Zustände haben, die man in einem Kulturstaat für nicht möglich halten sollte.“
Bebel prangerte zudem die Inhumanität des Abschiebeprozedere an: „Meine Herren, es erfolgen aber auch die Ausweisungen mit außerordentlichem Rigorismus. In vielen Fällen werden den Betreffenden 3 Tage, 8 Tage, 14 Tage, allenfalls auch 4 Wochen, in ganz außerordentlichen Ausnahmefällen auch einmal ein paar Monate Frist gegeben, um ihre Verhältnisse zu ordnen; dann aber müssen sie über die Landesgrenze sich hinausmachen. Die Folge davon ist vor allen Dingen die Zerstörung wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse in einem ganz unverhältnismäßigen Grade. Durch diesen Rigorismus und die Masse der Ausweisungen werden die Leute in die schwierigste Lage gebracht.“
Exemplarisch schilderte Bebel das Schicksal einer abgeschobenen Frau: „Eine Frau Lemberk, geb. Lifschütz, wird am 25. April aufgefordert, binnen drei Tagen Berlin zu verlassen. Ihr Vater ist Großkaufmann in Odessa. Die Frau war seit 8 Monaten hier; sie hat früher in Berlin jahrelang gelebt und ihre Studien betrieben. Ihr Mann hat in Berlin sein medizinisches Examen gemacht; er ist gegenwärtig Arzt in St. Petersburg. Die Frau mit ihrer kranken Mutter und ihrem kleinen Kinde ist einfach von Petersburg weg in Rücksicht auf die Unruhen dort, sie wollen in ruhigen Verhältnissen leben, – und hier wurde sie jetzt ohne weiteres ausgewiesen.“
Bebel kritisierte auch das über den noch hier Lebenden schwebende „Damoklesschwert der Ausweisung“: „Nicht genug, daß die Polizei leichtfertig, gewissenlos und ohne Erbarmen menschliche Existenzen schädigt und ruiniert, – nein, sie benutzt zugleich ihre Macht, um friedlich hier lebende Ausländer mit dem Zwangsmittel der Ausweisung zu bedrohen und mit der Existenzvernichtung einzuschüchtern“.
Bebel forderte die Reichstagsabgeordneten auf, eine vergleichbare Behandlung Deutscher im Ausland zu imaginieren: „Meine Herren, was sollte geschehen und was würden Sie sagen, wenn in ähnlichem Maß, wie hier in Deutschland es Russen und anderen Ausländern passiert, mit unseren deutschen Staatsangehörigen im Ausland verfahren würde! Was würde da für ein Geschrei entstehen!“
Den konservativen Reichstagsabgeordneten warf Bebel unchristliches Verhalten vor: „Herr v. Oldenburg gehört ja auch zu den guten Christen. Herr v. Oldenburg wird, obgleich er ein Feind der Juden ist, doch das Alte Testament anerkennen. – Sie sind kein Feind der Juden? Dann um so besser! Dann hören Sie mal, was im 3. Buch Mose, Kap. 19, Vers 33 und 34 steht: ‚Wenn ein Fremdling bei euch in eurem Lande wohnen will, den sollt ihr nicht schinden, er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und sollt ihn lieben, wie ihr euch selbst liebt. Denn auch ihr seid Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott, der so spricht.‘ Ja, meine Herren, religiös sind die Herren von der Rechten bis auf die Knochen, und wenn einer von uns irgend einen Glaubenssatz in Frage stellt, so ist das in ihren Augen höchst unmoralisch. Aber wenn man nach der Betätigung ihrer religiösen Grundsätze im Leben und in der Praxis fragt, – ja, Bauer, dann sieht es ganz anders aus, dann stehen ihre Taten allzeit mit ihren christlichen Grundsätzen im schneidendsten, unvereinbarsten Widerspruch.“
Bebel insistierte, dass wir denjenigen, „die zu uns kommen als Hilfesuchende, als geschützt sein Wollende, diesen Liebesdienst in allen Ehren und in aller Freundschaft erweisen, wie es einem anständigen Menschen und einem Kulturstaat zukommt“, so „daß bei uns in Deutschland der Fremde als ein Mensch behandelt“ werde. Dieser Bebelsche humanitäre Imperativ ist von zeitloser Aktualität und Relevanz, zumal für alle, die sich in der Nachfolge oder Tradition Bebels sehen.
Bebels Rede macht deutlich, dass der „Diskussionsentwurf des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zur Verbesserung der Rückführung“ (welch euphemistischer Titel für einen Vorschlag, der u. a. Abschiebungen ohne Ankündigung sowie eine beinahe Verdreifachung der Höchstdauer des „Ausreisegewahrsams“ vorsieht) im Widerspruch zu dem steht, wofür die SPD einmal angetreten war.
Nun gilt es zu entscheiden, ob mögliche Wähler*innenstimmen oder sozialdemokratische Grundwerte wichtiger sind.
Die zu uns Gekommenen, die möglicherweise das Pech hatten, in einem der Länder des Globalen Südens, an deren Misere wir durch unsere (neo-)kolonialen Politiken in Geschichte und Gegenwart einen nicht unerheblichen Anteil haben, geboren worden zu sein, mögen keine wahlberechtigten Menschen sein, aber sie sind Menschen und sollten von uns auch als solche behandelt werden.
Dass ihre Migration für „illegal“ erklärt wurde (an dieser Stelle sei daran erinnert, dass noch vor ein paar Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland Homosexualität illegal und Vergewaltigung in der Ehe legal waren), liefert keine ethisch-moralische Rechtfertigung für inhumane Abschiebepraxen.
Hier soll noch einmal Bebel zitiert werden: „Der höchste moralische Zustand ist derjenige, in dem die Menschen sich als Freie und Gleiche gegenüberstehen, in dem der Grundsatz: ‚Was du nicht willst, das man dir tu, das fügʼ auch keinem andern zu‘, alle menschlichen Beziehungen beherrscht.“ii
Dass beim Thema Migration mit zweierlei Maß gemessen wird, zeigt die Tatsache, dass die Migration von Menschen einer bestimmten Nationalität nie als „illegal“ bezeichnet wurde, obwohl sie die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland auf „irreguläre“ Weise überquerten. Bei ihnen spielte es auch nie eine Rolle, ob sie aus politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen kamen. Sie alle erhielten ein Begrüßungsgeld und diejenigen, die ihre „irreguläre“ Migration ermöglichten, wurden nicht „Schlepper“, sondern „Fluchthelfer“ genannt und gefeiert. Im Kontrast dazu werden Migrant*innen aus dem Globalen Süden, die über das Mittelmeer zu uns kommen, per se als Problem dargestellt, was sich nicht zuletzt in der Verwendung entmenschlichender Naturgewaltmetaphern wie „Flüchtlingswelle“ äußert. Weshalb behandeln wir Menschen je nach Herkunft unterschiedlich? Sollte der erste Satz unseres Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ nicht gleichermaßen für alle Menschen gelten?
i August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften. Band 8/1: Reden und Schriften 1906 bis 1913. Bearb. von Anneliese Beske und Eckhard Müller. Saur, München 1997, S. 28–52.
ii August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften. Band 10/2: Die Frau und der Sozialismus. Bearb. von Anneliese Beske und Eckhard Müller. Saur, München u. a. 1996, S. 627.
Unser Mitglied Thomas Tews (34 J.) ist ein in Stuttgart ansässiger Kulturwissenschaftler und Lehrer in einer Vorbereitungsklasse für geflüchtete und migrantische Kinder. Das Ziel, „eine Welt zu schaffen, in der das Leben aller Menschen schöner, länger, besser, leidensfreier würde“, wie es Max Horkheimer formulierte, bildet den Ausgangspunkt seines politischen Engagements.