Die Räumung von Lützerath liegt nun über einen Monat zurück. Obwohl der Ort überirdisch zerstört ist und Landes- und Bundespolitik das Kapitel Lützerath möglichst schnell hinter sich lassen wollen, hat die Auswertung innerhalb der sozialen Bewegungen gerade erst begonnen.
Wir waren während der Proteste gegen die Räumung und Zerstörung von Lützerath in einer besonderen Rolle vor Ort: Als Grundrechtekomitee haben wir beobachtet und dokumentiert, inwieweit die grundrechtlich verbriefte Versammlungsfreiheit durch Polizei- und Ordnungsbehörden dort gewährleistet wurde. Dafür waren wir vom 10. und 21. Januar mit wechselnden Teams in und um Lützerath unterwegs.
Unser Verein führt seit der Brokdorf-Demonstration im Jahre 1981 sogenannte „Demonstrationsbeobachtungen“ durch, aufgrund der herausragenden Bedeutung öffentlicher Versammlungen als „unmittelbarstes Werkzeug gelebter Demokratie“, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Brokdorf-Beschluss 1985 formulierte. So waren wir etwa während der Proteste gegen die Castor-Transporte im Wendland und den G20-Gipfel in Hamburg.
Anlass für unsere Entscheidung, die Räumung Lützeraths beobachtend zu begleiten, waren zum einen die gewaltvollen Erfahrungen der rechtswidrigen Räumung des Hambacher Waldes im September 2018 durch die Polizei, bei der ein Mensch tödlich verunglückte. Zum anderen boten das neu eingeführte Versammlungs- und das neue Polizeigesetz für NRW veränderte Vorzeichen aufgrund erweiterter polizeilicher Befugnisse. Anhand unserer Beobachtungen und weiterer Zeugnisse werden wir in Kürze einen ausführlichen Bericht über die Tage vorlegen.
Die offensichtlichste Einschränkung der Versammlungsfreiheit in Lützerath ergab sich wohl durch das Betretungsverbot und seine Durchsetzung: Der Ort war ab dem 11. Januar, von einem Doppel-Zaun umringt, zu einer Festung geworden. Der Zugang war exklusiv der Polizei, den RWE-Mitarbeitenden und parlamentarischen Beobachter*innen erlaubt. Die Presse musste sich polizeilich akkreditieren, damit war eine umfängliche Öffentlichkeit nicht mehr durchgängig gewährleistet.
Es wurde somit auch verunmöglicht, in Lützerath seinen Protest am Ort des Geschehens kundzutun. Dabei wäre der friedliche Protest gegen die Abbaggerung dort nicht nur demokratisch legitim gewesen, sondern sogar grundrechtlich erlaubt. Wir schließen uns juristischen Einschätzungen an, die den der Räumung zugrundeliegenden gerichtlichen Entscheidungen widersprechen. Der Protest gegen die als „Kompromiss“ in Hinterzimmern getroffene Entscheidung erfüllt vielmehr eine wichtige demokratische Funktion und ist durch die Versammlungsfreiheit grundgesetzlich abgesichert. Wesentlicher Bestandteil dessen ist die Wahl des Versammlungsortes, er muss gerade auch am Ort des Geschehens möglich sein. RWE wäre weiterhin verpflichtet gewesen, die Proteste auch auf ihrem Privatgelände zu dulden.
Um eine Beobachtung im Inneren der Festung Lützeraths zu gewährleisten, haben wir uns, wie die gesamte Presse, bei der Polizei akkreditieren müssen. Schnell wurde deutlich, dass es dort nicht allein um die Verletzung von Versammlungs- und Pressefreiheit ging: Mit der sofortigen Zerstörung der Versorgungs-Infrastruktur durch die Polizei am ersten Räumungstag, der Ausweisung der Demosanitäter*innen sowie einer quasi pausenlosen Räumung wurden den Besetzer*innen Grundbedürfnisse wie Nahrungsaufnahme, Schlaf und medizinische Versorgung vorenthalten. Es brauchte also vielmehr eine Menschenrechtsbeobachtung.
Diese machte auch die Durchführung der Räumung selbst erforderlich: Unter schlechten Wetterverhältnissen aus Dauerregen und starkem Wind mit Sturmböen und einer über die Tage hinweg zunehmenden Erschöpfung der Besetzer*innen – besonders gravierend für diejenigen, die in Bäumen, Baumhäusern und anderen erhöhten Strukturen ausharrten – war die Räumung höchst riskant. Stets wurden an mehreren Orten im Gelände gleichzeitig Menschen mit Hebebühnen aus Bäumen und Hochsitzen geholt, während direkt daneben unter offensichtlicher Eile mit schwerem Gerät parallel Häuser abgerissen und Bäume entfernt wurden. Wir mussten mehrfach beobachten, dass Traversen gekappt wurden, ohne dass sich Aktivist*innen noch ausreichend sichern konnten, dass in direkter Nähe von Menschen in der Höhe Bäume verantwortungslos nah gefällt wurden, dass Abrissarbeiten ohne ausreichenden Sicherheitsabstand durchgeführt wurden und dass herabfallende Äste aktive Traversen nur knapp verfehlten.
Um eine Wiederbesetzung Lützeraths nach der Räumung zu verhindern, hatte NRW-Innenminister Herbert Reul früh verlauten lassen, der Polizeieinsatz werde „mit einem Schlag Besetzer entfernen, Barrikaden beseitigen und sofort Häuser abreißen und Bäume roden“. Diese Entscheidung war eine Entscheidung für Gewalt, so formulierten wir es in einer ersten Einschätzung im Anschluss an die Räumung in einer Pressemitteilung. Ein Anlass für die besorgniserregende Eile der Räumung mag unter anderem die angekündigte Großdemo am 14. Januar 2023 gewesen sein. Denn es zeichnete sich ab, dass diese Demo hohen Zulauf haben würde und ein noch aktiver Widerstand der Besetzer*innen innerhalb von Lützerath zusätzlich mobilisierend hätte wirken können.
Das Eindringen von Protestierenden nach Lützerath wurde von der Polizei über die Tage mit vielfältigen Mitteln verhindert. Neben einem schwer überwindbaren und bewachten Zaun waren um das abgesperrte Gelände weiträumig Pferde- und Hundestaffeln der Polizei im Einsatz. Während mehrerer Demonstrationen, also nicht nur während der Großdemo am 14. Januar, setzte die Polizei Wasserwerfer und Pfefferspray gegen Demonstrant*innen ein, die sich dem Tagebau oder Lützerath näherten und schlug Menschen mit Faust und Schlagstock. Das Bündnis „Lützerath Lebt!“ erhielt nach einem Aufruf innerhalb von nur zwölf Stunden 145 Meldungen über Verletzungen durch Polizeigewalt, die meisten davon wurden Menschen während der Großdemo am 14. Januar zugefügt. Dort hatte der Einsatzführer um 14:11 Uhr den „offensiven Schlagstockeinsatz“ angeordnet.
Viele Menschen machten in Lützerath ihre erste Erfahrung mit brutaler Polizeigewalt in dieser systematischen Form. Die zahlreichen Videos in den sozialen Medien untermauern, dass sie nicht die Ausnahme, sondern allgegenwärtig war. Trotzdem beharren Politik und Polizei mit Nachdruck darauf, dass beim Polizeieinsatz in Lützerath allein verhältnismäßige Mittel eingesetzt wurden, lediglich ein mögliches Fehlverhalten einzelner Beamt*innen wurde eingeräumt.
Polizei, Politik und Medien diskutierten abwehrend, ob die von Aktivist*innen zunächst beschriebenen „Schwerverletzten“ des 14. Januar nicht doch nur „Verletzte“ seien und die Forderung nach konkreten Zahlen und Beweisen fortdauert – wohlgemerkt nur bezogen auf die Aktivist*innen und nicht auf die polizeilichen Angaben über Verletzte auf Seiten der Staatsgewalt. Gleichzeitige stellte man das eigentlich Relevante, nämlich die derartige Verletzungen verursachenden Gewaltmittel Schlagstock, Schmerzgriffe und Schläge auf Kopf und Gesicht, Bauch und Rücken, nicht in Frage.
Doch wird die massive Brutalität der Polizei trotz aller Versuche, sie zu leugnen und zu relativieren, den Menschen im Gedächtnis bleiben: Als schonungsloses Bild einer Polizei, die einseitig und mit allen Mitteln die Interessen von Konzernen und einer verantwortungslosen Politik entgegen dem Willen eines großen Teils der Gesellschaft durchsetzt.
Statt dessen steht bei Polizei, Politik und Medien auffällig häufig die Gewalt im Vordergrund, die der Polizei zufolge von Besetzer*innen und Demonstrant*innen ausgegangen sei. Polizeigewalt wird einseitig allein als Reaktion auf die Aktivist*innen verstanden und verteidigt.
Journalist*innen baten uns mehrfach um ein Statement dazu, dass ja von beiden Seiten Gewalt ausgegangen sei: Nicht nur die Polizei habe Gewalt ausgeübt, sondern ebenso der Protest – so seien etwa Steine und ein Molotowcocktail in Richtung der Polizei geworfen worden. Man unterschlägt, dass sich die Polizei als Repräsentant des herrschenden staatlichen Gewaltmonopols an der Einhaltung der Verhältnismäßigkeit messen lassen müsste.
Die Fragestellung verkennt zudem völlig die Asymmetrie der Gewalt: In Lützerath trat ein Heer aus in der Spitze 3700 gepanzerter, mit Helm und Schild gerüsteter Polizeibeamt*innen mit Waffen und Spezialgerät plus einer Armada aus Wasserwerfern, Räumpanzern sowie Baggern, Hebebühnen und Lastern gegen 196 Menschen (laut Innenministerium die Anzahl der geräumten Besetzer*innen) an. Diese setzten, bewaffnet mit Leidenschaft, großteils nichts als ihren Körper, angekettet und einbetoniert, als Widerstand ein.
Innenminister Herbert Reul hatte in seiner Verteidigungsrede im Landtag von NRW angekündigt, Vorwürfen von Polizeigewalt gegen vier Polizisten und gegen einen weiteren wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung nachzugehen. Es steht indes nicht zu erwarten, dass juristische Konsequenzen folgen. Die Fälle werden, wie üblich, aufgrund des herrschenden Corpsgeistes, einer fehlenden Kennzeichnungspflicht von Polizist*innen und fehlender unabhängiger Ermittlungen eingestellt werden.
Juristisch wird der gewalttätige Polizeieinsatz um die Räumung und Zerstörung Lützeraths für Polizei und Politik daher wohl keinerlei Nachspiel haben. Das Innenministerium und die verantwortliche schwarz-grüne Landesregierung wie auch die Bundesregierung haben das Thema Lützerath mit ihrer Legitimierung der Polizeigewalt geschwind ad acta gelegt.
Die Grünen weisen, wie gehabt, einfach jegliche Verantwortung für die Zerstörung des Ortes zugunsten der Kohle mit dem angeblich fehlenden Handlungsspielraum zurück, die Polizei habe lediglich ein rechtskräftiges Urteil vollstreckt. Auch für eine Abbaggerung Lützeraths wird also vermutlich juristisch niemand mehr zur Verantwortung gezogen werden und die Grünen mögen sich kurzfristig sicher wähnen.
Die Folgen von Lützerath werden langfristig allerdings deutlich zu spüren sein: Nicht nur ist die Klimagerechtigkeitsbewegung geeint und gestärkt aus dem Protest hervorgegangen. Auch werden die Menschen ihre Erfahrungen mit Polizei und Parteien in allen kommenden Kämpfen gegen eine von Kapitalinteressen geleitete Politik und für eine emanzipatorische Gesellschaft in sich tragen.
Dieser Text erschien in der Märzausgabe 477 der Graswurzelrevolution.