Seit dem 20. Januar fliegen türkische Kampfjets über die kurdische Enklave Afrin in Syrisch-Kurdistan und bombardieren kurdische Städte und Siedlungen, in denen über eine Million Menschen leben. Am darauf folgenden Tag überquerten die türkischen Bodentruppen mit Panzern und schwerer Kriegsmaschinerie die Grenze. Sie wurden begleitet von mehreren hundert islamistischen Kämpfern aus Syrien. Innerhalb von drei Tagen wurden über 20 Menschen getötet und Dutzende verletzt.
Afrin ist ein Gebiet, in dem sich Millionen Olivenbäume befinden. Die Region versorgt nicht nur Syrien mit Oliven und Olivenöl, sondern weitere Staaten der Region. Selbst die Namenswahl der Invasion – „Operation Olivenzweig“ – ist eine Provokation, mit der die Türkei das Symbol des Friedens beschmutzt. Seit sieben Jahren findet der Krieg in Syrien statt. Erdogan hoffte auf einen schnellen Sieg seiner Schützlinge, der Djihadisten, wie dem IS (Islamischer Staat), der Al Nusra Front und den Moslembrüdern. Obwohl die islamistischen Banden von der Türkei, Saudi-Arabien, Katar und einer Reihe von anderen islamischen Staaten militärisch, logistisch, politisch und finanziell unterstützt wurden, haben sie mit der Zeit alle Gebiete, die sie kontrollierten, verloren, und sind derzeit unter Obhut der Türkei in der Stadt Idlib eingekesselt.
Die Kurden in Syrien
Die Kurden in Syrien erklärten, dass sie keine der Kriegsparteien im Bürgerkrieg, weder Syrien noch die islamistischen Organisationen, unterstützen würden. Sie konzentrierten sich auf die Verteidigung der kurdischen Gebiete und Organisierung der Massen für eine pluralistisch-demokratische Gesellschaft. Ab Sommer 2012 befreiten sie die kurdischen Siedlungen nach und nach und installierten mit der einheimischen ethnisch und religiös durchmischten Bevölkerung Selbstverwaltungen, die sie Kantone nennen. Mit der Zeit entstanden so drei Kantone – Kobanê, Afrin und Cezire – entlang der syrisch-türkischen Grenze. Die ethnisch-religiösen Minderheiten wurden in die Verwaltung mit aufgenommen. Neben Arabisch wurden auch Kurdisch und Aramäisch als Amtssprachen eingeführt. Dank dieser klugen Politik sind die von Kurden kontrollierten Gebiete vom Krieg verschont geblieben, bis auf die Stadt Kobanê, die im September 2014 von Banden des IS und mit Unterstützung der Türkei angegriffen und monatelang besetzt wurde. Nach einem heldenhaften Widerstand haben die kurdischen Selbstverteidigungskräfte die islamistischen Angreifer Ende Januar 2015 aus Kobanê vertrieben und so den Beginn der Niederlage des IS eingeleitet.
Nachdem die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) den IS aus Kobanê und anderen Gebieten entlang der Grenze vertrieben hatten, wurden sie von der Anti-IS-Koalition als Partner anerkannt. Neben den USA pflegte eine Reihe weiterer Staaten, wie u.a. Frankreich, mit der YPG gute Kontakte. Die USA erleichterten mit ihren Luftschlägen den Vormarsch der YPG-Einheiten nach Rakka und die Befreiung der Hauptstadt des IS im Oktober 2017. Während dieser Zeit haben die Kurden neue Bündnisse geschmiedet. Neben Assyrern haben sie auch die benachbarten sunnitischen Araber ins Boot geholt und mit ihnen gemeinsam die Allianz der Demokratischen Syrischen Kräfte (DSK) gebildet. Nach der Eroberung von Rakka haben die USA erklärt, dass sie mit den Einheiten der DSK eine 30.000 Mann umfassende Grenzsicherungsarmee gründen möchten.
Die Rolle Russlands in Syrien
Nachdem sich Russland in das Kriegsgeschehen Syriens auf Seiten des Assad-Regimes einmischte, haben die Kurden angefangen, punktuell im Nordwesten Syriens auch mit ihnen zu kooperieren. Dank der russischen Unterstützung konnten die Truppen der Baath-Partei die djihadistischen Banden aus vielen Gebieten und Orten vertreiben. Der überwiegende Teil der islamistischen Terrorbanden haben sich in die Stadt Idlib, die sich in Obhut der Türkei befindet, zurückgezogen. Seit mehreren Wochen sind die Truppen Assads im Vormarsch auf die letzte Bastion der Islamisten. Nachdem die Russen in Syrien auf der Seite des Regimes Partei ergriffen haben, entstanden auch auf der internationalen Bühne neue Allianzen. Während Russland und Iran sich aktiv auf die Seite Assads stellten und die Türkei auf ihre Seite für die Verhandlungen in Astana zogen, haben die Amerikaner ihre Kontakte mit den Kurden intensiviert.
Auf dem internationalen Parkett finden mehrere Verhandlungen statt. Unter der Schirmherrschaft der UN werden Friedensverhandlungen in Genf geführt; in Astana/Kasachstan treffen sich die Kontrahenten unter der Obhut von Russland, dem Iran und der Türkei. Zu all dieser Treffen werden Kurden nicht eingeladen, obwohl sie fast ein Drittel der Fläche Syriens kontrollieren und eine funktionierende Verwaltung aufgebaut haben. Anscheinend sind die Kurden zum Kämpfen und Sterben gut, aber nicht gut genug, am Verhandlungstisch Platz zu nehmen! Eine Hintergrundinformation: Einen Tag vor den Luftschlägen und der Invasion der Türkei haben die Russen den kurdischen Akteuren in Syrien erklärt, dass sie Afrin in die Obhut des Regimes in Syrien geben sollten. Wenn dies geschehe und auf allen öffentlichen Plätzen und Verwaltungsgebäuden die syrische Fahne wehe, würde die Türkei Afrin nicht angreifen. Diesen schmutzigen Deal haben die Kurden abgelehnt. Das heißt wiederum mit anderen Worten, dass Russland der Türkei grünes Licht für ihre Invasion gegeben hat.
Was möchte Erdogan mit der Invasion Afrins erreichen?
Erdogan hat mittlerweile verstanden, dass er mit seiner Syrienpolitik verloren hat. Keiner seiner Schützlinge, weder Moslembrüder noch Al Nusra und IS konnten sich in Syrien behaupten. Er weiß inzwischen auch, dass sich die Staatengemeinschaft inoffiziell zu einem sanften Übergang mit Bashar Assad bereiterklärt hat. Assad und Baath-Partei werden das zukünftige Syrien mitgestalten. Während weite Teile der islamistisch-djihadistischen Gruppen zu den Verlierern gehören, gehen die Regierung in Syrien und die Kurden als Gewinner hervor. Erdogan hasst die Kurden wegen der über 20 Millionen Kurden und ungelösten Kurdenfrage im eigenen Land. Assad mag er nicht, weil der kein Sunnit ist und zu den Alawiten gehört. Und für die Islamisten in Idlib, die er in seine Obhut genommen hat, kann er keine rosige Zukunft anbieten.
Neben diesem Dilemma in Syrien hat er auch andere Kopfschmerzen im eigenen Land. Er möchte eine islamistische Alleinherrschaft installieren. Er ist Präsident der Türkei, beaufsichtigt die Geschäfte der Regierung und kontrolliert die Legislative, Exekutive und Judikative. Die vierte Säule, nämlich die Medien, hat er zu 98 % unter seine Kontrolle gestellt. Die Ergebnisse des Referendums im April 2017 wurden manipuliert. Mit einer Entscheidung der Wahlbehörde am Wahltag wurden Millionen von ungültigen Stimmen zu Stimmen für Erdogan. Seit dem sogenannten Putschversuch am 15. Juli 2016 regiert er per Dekret. Dazu braucht er kein Parlament mehr, und das Land befindet sich im Ausnahmezustand. Doch Erdogan weiß, dass er mit Ausnahmezustandsregelungen das Land nicht ewig regieren kann. Er weiß auch, dass spätestens im Sommer 2019 neue Präsidentschaftswahlen bevorstehen. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass er diese Wahl nicht gewinnen wird. Im Falle einer Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen wird er vor Gericht gezerrt werden. Gründe hierfür sind genug da: Korruption, Umgehung der Iran-Sanktionen, die Unterstützung der djihadistischen Terrorbanden im gesamten Nahen Osten, Zerstörung ganzer Städte in Kurdistan und Ermordung hunderter ZivilistInnen. Um weiter zu regieren und seine Alleinherrschaft aufzubauen und auch, um vor einem Prozess sicher zu sein, braucht er weitere und noch umfassendere Regelungen.
Kann das sogenannte Kriegsrecht diesen Weg öffnen?
Kriegsrecht? Um den Ausnahmezustand zu erklären, brauchte er den Putschversuch. Um aber das Kriegsrecht auszurufen, braucht er weitere, tiefergreifende Gründe. Kann eine grenzüberschreitende Invasion dazu den notwendigen Anlass liefern? Ja, doch allein eine Invasion wird dabei nicht groß helfen. Wenn aber im Zuge der Invasion die Leichname der von „bösen“ Kurden getöteten türkischen Soldaten in die Türkei überführt werden, würde dies in der türkischen Gesellschaft weiteren Hass und Feindschaft gegenüber den Kurden schüren. Einige aufgebrachte Türken würden dann die benachbarten Kurden am Mittelmeer und der Ägäis, in Istanbul und Anatolien angreifen, was zu pogromähnlichen Attacken führen würde. Solche Angriffe haben wir in jüngster Vergangenheit mehrmals erlebt. Zuletzt nach den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015, die mit dem Einzug der prokurdischen HDP ins Parlament die Alleinherrschaft der AKP beendete, wurden binnen einer Woche etwa 500 Parteibüros der HDP in Brand gesteckt und mehrere Menschen von Lynchmobs verletzt und getötet. Um den aufgebrachten Türken und paramilitärischen Einheiten und Milizen, wie den „Osmanen“ oder den „Grauen Wölfen“, Straffreiheit zu gewähren, wurde in den vergangenen Wochen ein Dekret mit der Unterschrift von Erdogan erlassen. Die Mörderbanden, die auf Kurdenjagd gehen und erklären, sie würden „Terroristen und Vaterlandsverräter“ in die Schranken weisen, werden von der Justiz nicht verfolgt.
Halten wir fest: Mit der Invasion und dem Einmarsch nach Afrin, das heißt, dem Einmarsch des türkischen Militärs in einen anderen souveränen Staat, bezweckt Erdogan, meiner Meinung nach, ein Instrumentarium, um durch getötete türkische Soldaten das Kriegsrecht ausrufen zu können. Wenn darauf folgend Pogrome oder Angriffe auf Kurden in der Türkei stattfinden, ist der Anlass zur Ausrufung des Kriegsrechts gegeben. Und wenn das Kriegsrecht erklärt wird, dann spielen die Wahlen keine Rolle mehr. So kann Erdogan, ohne wieder gewählt zu werden, weiterhin regieren und sein islamistisch-faschistisches Regime aufbauen. Hoffentlich irre ich mich! Hoffentlich kommt es nicht zu solchen Entwicklungen. Wenn es aber dazu kommt und das Ganze sich zu einem Bürgerkrieg ausweitet, wird es viel schlimmer sein als in Syrien und in Ex-Jugoslawien. Die Auswirkungen einer solchen Entwicklung werden sich auch in Deutschland und der EU spürbar zeigen. Um dies zu verhindern, sind die Staatengemeinschaft und die Mächtigen dieser Welt aufgefordert, ihren Partner Erdogan in die Schranken zu weisen!
zum Autor: Memo Sahin ist Koordinator des von Andreas Buro mitbegründeten Dialogkreises (dialogkreis@t-online.de) und Redakteur der „Nützlichen Nachrichten“, in denen (1/2018) dieser Beitrag zuerst veröffentlicht wurde.