Eigentlich sollte der Wahlkampf für die Bundestagswahl im September jetzt in seiner heißen Phase sein. Zu spüren davon ist allerdings nichts, das Sommerloch klafft weiterhin und wird nur von Trump, dem Diesel und den vergifteten Eiern notdürftig gefüllt. Abgesehen von kleineren Affären wie der Parteiwechsel von Frau Twesten in Niedersachsen oder das eigentümliche Verhältnis des dortigen Regierungschefs zum VW-Konzern, das pünktlich zu der auch dort bald stattfindenden Wahl von der Opposition ausgegraben wurde. Ein paar Skandälchen halt.
Die Ruhe hat ihren Grund. Zu wählen gibt es nämlich nicht allzu viel. Nachdem die SPD eine rot-rot-grüne Koalition ausgeschlossen hat, wird nach der Wahl an Frau Merkel und der CDU inklusive Seehofer ohnehin nicht vorbeizukommen sein. Fragt sich höchstens, mit wem sie koalieren wird, nochmals mit der SPD, der wiederauferstandenen FDP beziehungsweise Lindner, den GRÜNEN oder beiden. Insoweit könnte das Wahlergebnis noch etwas ausmachen, politisch wird sich allerdings dadurch wenig ändern, weil die programmatischen Unterschiede zwischen den Parteien eher gering sind. Also weiter so. Anscheinend sind die Deutschen mit der Situation im Land mehrheitlich recht zufrieden, vielleicht auch deshalb, weil sie sich etwas anderes gar nicht mehr vorstellen können. Auch wenn die Welt darum herum immer mehr in die Brüche geht. Da die herrschenden Parteien sich damit begnügen, den Status Quo zu verwalten, kommt es in der Tat nicht so sehr darauf an, wer mit wem regiert.
Die SPD hat sich in den Umfragewerten nach dem kurzen Schulz-Hype wieder auf ihrer alten Größe eingependelt. Dieser hatte seinen Grund wohl darin, dass die Hoffnung bestand, mit der neuen Führungsperson würde auch eine neue Politik eingeleitet, neue Inhalte zur Wahl gestellt. Das war eine glatte Fehlanzeige. Man muss nicht, wie es hin und wieder getan wird, bei der SPD das Fehlen von „Visionen“ beklagen. Vielleicht auch deshalb nicht, weil schon ein ehemaliger sozialdemokratischer Bundeskanzler meinte, wer Visionen habe, solle zum Psychiater gehen. Es würde schon reichen, die Partei würde eine Vorstellung davon entwickeln, wie den drängendsten gesellschaftlichen Problemen begegnet werden sollte. So verdeckt das anhaltende Herumgezerre beim „Dieselskandal“, dass der weitere Ausbau der KfZ-Mobilität selbst dann eine Sackgasse darstellt, wenn einmal in größerem Umfang Elektroautos eingeführt würden. Alles, was derzeit als Lösung diskutiert wird, läuft auf noch mehr und noch mehr Sprit verbrauchende Autos auf den ohnehin verstopften Straßen hinaus. Nötig wäre eine grundsätzliche Veränderung des Mobilitätsverhaltens, genauer eine drastische Einschränkung des Individualverkehrs, was erhebliche Konsequenzen für die Stadt- und Regionalplanung sowie die Industriepolitik hätte.
Klar ist auch, dass auf privater Basis das grassierende Wohnungsproblem nicht zu lösen sein wird und nur ein öffentlicher Wohnungsbau Abhilfe schaffen könnte. Nachdem die neoliberale Privatisierungs- und Deregulierungsmanie (die die SPD in großem Umfang politisch um- und durchgesetzt hat) die gesellschaftlichen Spaltungen immer mehr vorantreibt, wäre ein Ausbau der sozialen Infrastruktur ebenso dringend erforderlich wie eine grundsätzliche Neuorientierung der Arbeitsmarktpolitik, um der wachsenden Prekarisierung Einhalt zu gebieten. Auch hier: totale Fehlanzeige.
Statt über Flüchtlingsobergrenzen und Zuwanderungsbegrenzungen zu streiten käme es darauf an, eine auf längere Sicht tragfähige Einwanderungspolitik zu entwickeln. Angesichts des gerade durch die kommunikationstechnische Globalisierung wachsende Bewusstwerdens der weltweiten Ungleichheiten und dem damit zunehmenden Migrationsdruck stehen die wenigen Wohlstandsinseln vor dem Dilemma zwischen Abschottung und interner Destabilisierung. Darüber wird überhaupt nicht diskutiert. Das Gerede darüber, die Lebensbedingungen in der Peripherie zu verbessern, bleibt eine Leerformel, wenn gleichzeitig für die afrikanischen Länder weitere Privatisierungsprogramme aufgelegt werden, in deren Folge sich die Migrationszwänge noch verstärken. Auch die andauernde Krise der EU wird bestenfalls eher schlecht als recht verwaltet. Aus Deutschland, dem immerhin ökonomisch dominierenden Land, kommen dazu weder Ideen noch praktische Vorschläge. Man wurstelt sich eben durch. Oder genauer: die nicht zuletzt durch Lohnsenkung und Deregulierung erreichte Dominanzposition soll erhalten bleiben, auch wenn Europa darüber auseinanderbricht. Die Beispiele ließen sich weiter ausführen.
Die Kritik an dieser Entwicklung bleibt auch deshalb eher lahm, weil staatskritische Überlegungen nach der politischen Restauration seit den neunziger Jahren ziemlich aus der Mode gekommen sind. Johannes Agnoli hatte einst vom System der „Volksparteien“ als einer „virtuellen Einheitspartei“ gesprochen. Diese war noch nie so ausgeprägt wie heute. Und Claus Offe sprach vom „Interesse des Staates an sich selbst“ als wesentliches Funktionsmerkmal des kapitalistischen Herrschaftssystems. Das heißt, dass die politischen FunktionärInnen aller Art vorrangig an ihren Karrieren und Einkünften interessiert sind. Offenbar ist es so, dass die in den Parteien herrschenden Rekrutierungs- und Funktionsmechanismen diesen Typus immer stärker begünstigen. Was heißt, keine Risiken einzugehen, sich nicht mit mächtigen Interessengruppen anzulegen und sich auf das Verwalten zu beschränken.
Wenn man so will, besteht das aktuelle Problem nicht nur hierzulande im Fehlen einer modernen, sich auf der Höhe der Zeit befindenden sozialdemokratischen Partei. Die Linkspartei kann diese Lücke nicht füllen. Und die SPD leidet daran, immer noch auf ihre eher konservative und auf dem Status Quo verhaftete Stammwählerschaft Rücksicht nehmen zu sollen. Deutlich wurde dies nicht zuletzt daran, dass sie sich mit Blick auf die Gewerkschaften nicht einmal dazu durchringen konnte, die Braunkohlebergwerke stillzulegen und damit wenigstens einen kleinen Schritt hin zu einer wirklichen Energiewende zu tun. Die selbstgesteckten Ziele zu einer CO2-Reduzierung sind damit kaum zu erreichen. Dasselbe gilt für ihre Verbindung mit dem korporativen Machblock der Automobilindustrie. Da wäre eine grundsätzliche und natürlich höchst riskante Neuorientierung angesagt, die dem „Interesse des Staates an sich selbst“ allerdings zuwiderläuft.
Man kann also demnächst durchaus zur Wahl gehen. Ändern wird sich dadurch freilich wenig.
Der Kommentar ist uns von Joachim Hirsch, emeritierter Hochschullehrer und Politikwissenschaftler, der das Grundrechtekomitee seit seiner Gründung in den 1980er Jahren solidarisch unterstützt und begleitet, dankenswerterweise zur Verfügung gestellt worden. Der Originalbeitrag findet sich in der online-Zeitschrift „Links-Netz“ unter: http://www.links-netz.de/T_texte/T_hirsch_wahlkampf.html