Vor ein paar Tagen sah ich einen Film. Es waren Bilder aus der dunkelsten Zeit Deutschlands: Menschen, die nicht als "deutsch" galten, wurden von Nazis gejagt, aufgestellt und hingerichtet. Ich sah in ihren Gesichtern Angst, Verzweiflung – und das Wissen, dass es für sie kein Entkommen gab.
Während ich den Film schaute, überkam mich eine beklemmende Frage: Wird sich die Geschichte wiederholen? Werden wir, die seit Jahrzehnten in diesem Land leben, arbeiten und Teil der Gesellschaft sind (zu mindestens denken wir so), eines Tages wieder als „Fremde“ gejagt? Nur weil wir keine „Biodeutschen“ sind – ein Begriff, der zum Unwort des Jahres erklärt wurde, aber dennoch die Debatte prägt?
Die aktuellen Diskussionen über Migration, Abschiebung und Begrenzung sind zunehmend von Hass geprägt. Die AfD gewinnt seit Jahren stetig an Zustimmung, rechte Parolen werden salonfähig, und rassistische Gewalt nimmt zu. Ich frage mich: Welche Zukunft erwartet meine Kinder und Enkelkinder in diesem Land? Werden sie eines Tages Angst haben müssen, weil ihre Namen nicht ‚deutsch genug‘ klingen? Werden wir uns irgendwann fragen, ob wir dieses Land, das längst unser Zuhause ist, verlassen sollen? Warum haben wir die mahnenden Worte von Martin Niemöller so schnell vergessen?
All diese Gedanken ließen mich nicht los. Also beschloss ich, sie festzuhalten – und auch über die Vergangenheit, die Gegenwart und die ungewisse Zukunft zu sprechen.
Die Geschichte meiner Familie ist eng mit der Geschichte der „Gastarbeiter“ in Deutschland verknüpft. Mein Vater war einer von vielen, die ihr Heimatland verließen, um in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen. Im Jahr 1970 verließ er Kurdistan und zog zunächst nach England, bevor er 1972 nach Deutschland kam. Damals herrschte in Deutschland ein enormer Bedarf an Arbeitskräften, weshalb die Bundesregierung bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren mit mehreren Ländern Anwerbeabkommen geschlossen hatte.
Für meinen Vater war es eine Entscheidung voller Hoffnung, aber auch mit vielen Herausforderungen verbunden. In Köln fand er eine Anstellung in den Glaswerken – eine schwere, körperlich anstrengende Arbeit, doch er nahm sie voller Tatkraft an. Sein Ziel war es, uns nachzuholen, damit wir als Familie gemeinsam in Deutschland leben konnten. 1973 war es schließlich so weit: Meine Mutter und ich reisten nach Deutschland nach. Ich war vier Jahre alt und betrat ein Land, das für mich zunächst fremd war, aber bald zu meiner Heimat wurde.
Meine Eltern arbeiteten hart, oft in Schichten, damit immer einer von ihnen bei uns Kindern sein konnte. Deutschland war für uns ein Land voller Möglichkeiten, aber auch eines, das Disziplin und Einsatz verlangte. Mein Vater war selten krankgeschrieben – für ihn war Arbeit nicht nur Pflicht, sondern auch ein Ausdruck von Dankbarkeit gegenüber dem Land, das ihm eine Perspektive bot. So wie Millionen anderer „Gastarbeiter“ leisteten auch meine Eltern ihren Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung und zur Weiterentwicklung Deutschlands.
Doch mein Vater sah sich nicht nur als „Gast“, sondern auch als aktiven Teil der Gesellschaft. Er engagierte sich politisch und sozial, trat der SPD bei und wurde Gewerkschaftsmitglied. Mit großem Stolz nahm er an Demonstrationen, Mahnwachen und politischen Veranstaltungen teil. Er zahlte seine Steuern, trug zur Gemeinschaft bei und fühlte sich Deutschland tief verbunden. Als er schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt, war das einer der stolzesten Momente seines Lebens. Er war nicht mehr nur ein „Gastarbeiter“, sondern ein vollwertiger Bürger dieses Landes, das er als seine Heimat ansah.
Besonders beeindruckte mich immer seine tiefe Dankbarkeit dafür, in einer Demokratie leben zu dürfen. „Wir haben so ein Glück, in einem Land zu leben, in dem wir unsere Meinung äußern können, ohne Angst haben zu müssen“, sagte er oft. Er bewunderte die deutsche Kultur, die Offenheit der Menschen und die Werte von Freiheit und Gerechtigkeit.
Unsere Nachbarschaft war ein Ort der Vielfalt und des Miteinanders. Wir lebten Tür an Tür mit deutschen Familien, mit denen wir uns gut verstanden. Es war eine Zeit des gegenseitigen Respekts und der Hilfsbereitschaft. Wir halfen älteren Nachbarn beim Einkaufen, führten ihre Hunde aus oder brachten ihnen Medikamente. Wenn meine Mutter traditionelle kurdische Gerichte kochte, teilten wir sie mit unseren Nachbarn – und im Gegenzug wurden wir oft zum Kaffee und Kuchen eingeladen. Es war ein herzliches, respektvolles Zusammenleben, das mich prägte.
Früher hatte ich nie das Gefühl, „fremd“ zu sein. Auch in der Schule war es ein selbstverständliches Miteinander. Herkunft spielte keine Rolle – wir waren einfach Kinder, die gemeinsam lernten, lachten und Freundschaften schlossen. Diese Zeit hat mir gezeigt, dass Heimat nicht nur ein Ort ist, sondern ein Gefühl. Ein Gefühl von Zugehörigkeit, Anerkennung und gegenseitigem Respekt.
Meine Eltern und viele andere „Gastarbeiter“ haben dieses Land mit aufgebaut, es mitgeprägt und bereichert. Sie kamen als Fremde, doch durch ihre harte Arbeit, ihre Werte und ihr Engagement wurden sie ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft.
In Deutschland leben über 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund – fast ein Viertel der gesamten Bevölkerung. Viele von ihnen sind hier geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen, haben studiert oder eine Ausbildung absolviert. Sie sind in vierter Generation Teil dieses Landes. Und doch werden sie oft nicht als „richtige“ Deutsche gesehen. Warum?
Seit über 60 Jahren leben Einwanderer und ihre Nachkommen in Deutschland. Sie haben Städte mitgeprägt, Wirtschaft aufgebaut und Gesellschaft mitgestaltet. Trotzdem erleben sie nach wie vor systematische Ausgrenzung. Sie stoßen an unsichtbare Grenzen – in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, in der Politik. Während sie oft als „fremd“ betrachtet werden, verschwindet die Migrationsgeschichte anderer Gruppen aus der Wahrnehmung. Warum gilt ein Christian Lindner, dessen Großeltern aus Polen eingewandert sind, als „Deutscher“, während ein Rênas, Zana oder Berfin auch in der vierten Generation noch „Menschen mit Migrationshintergrund“ bleiben? Diese Doppelmoral zeigt: Migration wird in Deutschland nicht gleichbehandelt.
Solange Namen darüber bestimmen, welche Chancen ein Mensch bekommt, solange Gymnasialempfehlungen vom Nachnamen der Eltern abhängen und solange man auch in der vierten Generation noch „Mensch mit Migrationshintergrund“ bleibt, ist Deutschland kein wirklich offenes Land. Integration ist keine Einbahnstraße – sie gelingt nicht, wenn eine Seite sich immer wieder beweisen muss, während die andere darüber entscheidet, wer dazugehört und wer nicht. Die aktuelle Debatte über Migration und Begrenzung ist eine Demütigung für all jene, die längst hier verwurzelt sind.
Es ist an der Zeit, die Perspektive zu wechseln. Die Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind keine Belastung, sondern eine Bereicherung. Anstatt sie immer wieder zum Gegenstand von Begrenzungsdebatten zu machen, sollten wir endlich anerkennen: Deutschland ist längst ein vielfältiges Land – und das ist keine Bedrohung, sondern eine Chance.
Gleichzeitig müssen Straftaten, Attentate und Anschläge hart geahndet werden – egal, von wem sie verübt werden. Empathie hilft allen. Perspektivwechsel ist notwendig. Wissen jene, die täglich mit dem Finger auf Migranten zeigen, welche Ängste sie bei 20 Millionen Menschen auslösen? Ist das noch das Deutschland von Willy Brandt, Gerhard Baum und Angela Merkel?
Die Politik trägt eine große Verantwortung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Besonders in Zeiten, in denen rechtsextreme Ideologien wieder an Einfluss gewinnen, müssen demokratische Parteien eine klare Haltung gegen rechte Hetze einnehmen.
Es reicht nicht aus, Rassismus und Diskriminierung nur in Talkshows und Wahlkampfreden zu verurteilen – es braucht konkrete Maßnahmen. Parteien müssen sich konsequent gegen jede Form von Hass positionieren, rechtsextreme Strukturen verhindern, dass sich ihre Ideologien in der Mitte der Gesellschaft etablieren. Das bedeutet auch, keine Zusammenarbeit mit Parteien oder Gruppierungen einzugehen, die rechtsextremes Gedankengut verbreiten.
Vielfalt ist keine Bedrohung – sie ist eine Bereicherung. Doch in einer Zeit, in der Populismus, Rassismus und Hetze wieder lauter werden, stehen wir vor einer entscheidenden Frage: Lassen wir zu, dass Hass die Oberhand gewinnt, oder verteidigen wir die Werte einer offenen und demokratischen Gesellschaft?
Gulê Cinar-Sahin lebt seit über einem halben Jahrhundert in Deutschland und arbeitet bei einer Jugendeinrichtung in Köln. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeutin.