Seit der russischen Invasion in der Ukraine betreibt die Bundesregierung das Projekt einer umfassenden Militarisierung der deutschen Gesellschaft: Bundeswehr-Sondervermögen, Militärausgaben von zwei Prozent des BIP, massive Aufrüstung und modernisierte Waffensysteme, Drohszenarien eines Kriegs mit Russlands, Debatten über Atombewaffnung und die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Deutschland soll „kriegstüchtig“ werden. Warum verfolgt die Regierung dieses Militarisierungsprojekt und warum aktuell derart forciert? Aus einer kritischen Perspektive lässt es sich, grob vereinfacht, auf drei Ebenen erklären.
Kapitalismus und Krieg
Zunächst ist es wenig verwunderlich, dass ein kapitalistischer Staat wie Deutschland eine militaristische Politik betreibt. Kapitalismus und Krieg gehören untrennbar zusammen: Kapitalistische Ökonomien unterliegen einer profitgetriebenen, expansionistischen Logik. Diese führt dazu, dass die territorial geopolitische Logik, in der kapitalistische Staaten miteinander konkurrieren, ebenfalls eine nach außen gerichtete, imperialistische Dynamik annimmt. Um Ressourcen, Absatzmärkte und Investitionsmöglichkeiten zu sichern, sind kapitalistische Staaten dazu getrieben, ihre Interessen auch auf militärische Art zu verfolgen. Staaten, die sich einer militärischen Logik komplett verweigern, laufen Gefahr, in der ökonomischen und geopolitischen Konkurrenz zu unterliegen. Wirklicher Frieden, verstanden als Situation umfassender Gewaltfreiheit, menschlicher Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit, kann unter kapitalistischen Bedingungen allein aus diesen Gründen kaum erreicht werden.
Hegemonieverlust des Westens
Zweitens erklärt sich das deutsche Militarisierungsprojekt als Reaktion auf eine drastische Zunahme geopolitischer Spannungen in den letzten 15 Jahren. Kern dieses komplexen Prozesses ist die massiv gewachsene Bedeutung Chinas im Weltmarkt und, als Folge davon, der geopolitische Machtgewinn des chinesischen Staates. Nicht nur zahlreiche westliche Staaten, allen voran Deutschland, sind mittlerweile vom Import günstiger Zwischengüter und Hightech-Produkte aus China sowie den Exporterlösen aus dem Handel mit China abhängig. Auch viele Länder des globalen Südens orientieren sich wirtschaftlich und politisch zunehmend an China, werden ökonomisch ab hängig von dessen Rohstoffimporten und Investitionen.
Gleichzeitig stecken die neoliberalen Wirtschaftsmodelle des Westens seit der Finanz und Wirtschaftskrise 20072009 in einer Sackgasse der Stagnation. Relativ zu China erlebt der Westen deshalb einen massiven Bedeutungsverlust. Die jahrhundertealte globale Hegemonie wechselnder westlicher Staaten gehört der Vergangenheit an. Dieser zentral auch ökonomische Hegemonieverlust wird von westlichen Regierungen u.a. mit einer militärischen Eskalationsstrategie beantwortet. Forderungen nach einer Erhöhung der NATO-Militärausgaben oder einer gemeinsamen EU-Armee sind vor allem ein Versuch, dem ökonomischen Bedeutungsverlust auf der militärisch-geopolitischen Ebene zu begegnen. Aus diesem Kontext heraus wird die 2022 ausgerufene „Zeitenwende“ in Deutschland verständlich.
Russischer und westlicher Imperialismus
Drittens erklärt sich der deutsche Militarisierungsschub durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Diese Invasion steht selbst im Kontext geopolitischer Verschiebungen. Der russische Staat versucht, vor dem Hintergrund einer ökonomischen Dauerkrise, seine regionale Machtstellung durch eine aggressive Außenpolitik zu verteidigen. Diese richtet sich aus ökonomischen und ideologischen Gründen zentral auf die Ukraine, deren Wertschöpfungsketten in den russischen Markt reintegriert werden sollen.
Russlands imperialistische Aggression antwortet zudem auf die ebenfalls imperialistische Politik, mit der der Westen seinen ökonomischen Bedeutungsverlust militärisch zu kompensieren versucht, darunter die NATO-Osterweiterung, Truppenverlagerungen an die NATO-Ostflanke und die Modernisierung von Atombomben und weiteren Waffensystemen. Innerhalb dieser Rüstungsspirale konnten sich ab Februar 2022 in Deutschland jene politischen Akteure durchsetzen, die seit langem dafür plädieren, Militärausgaben radikal auszuweiten und die deutsche Gesellschaft umfassend zu militarisieren.
Eine kritische Analyse der Militarisierung müsste noch viele weitere Aspekte einbeziehen, etwa ökologische und ideologische Dimensionen. Entscheidend zu betonen bleibt aus friedenspolitischer Perspektive, dass die Strategie der Bundesregierung nicht alternativlos ist. Möglichkeiten einer auf Abrüstung, Frieden und umfassende menschliche und soziale Sicherheit zielenden Politik bestehen und müssen antimilitaristisch erkämpft werden.
■ Fabian Georgi