Anlässlich unseres 40-jährigen Bestehens widmet sich die Tageszeitung Junge Welt unserer Geschichte und gegenwärtigen Tätigkeiten und Positionen.
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie feiert in diesem Jahr sein 40jähriges Bestehen. Was war der Anlass für die Gründung Ihrer Bürgerrechtsorganisation, und wer ist auf die Idee gekommen?
Michèle Winkler: Gegründet wurde das Grundrechtekomitee von einer Gruppe politischer Freundinnen und Freunde aus dem Dunstkreis des Sozialistischen Büros. Ziel war es, in einer Zeit starker Repression politische Freiräume zu erhalten und zu erkämpfen. Zudem sollten im Nachgang des dritten Russell-Tribunals dauerhaft konkrete Menschenrechtsverletzungen angeprangert und Betroffene unterstützt werden.
Sie sind angetreten, durch ein »aktives, streitbares, couragiertes und zivil ungehorsames Engagement« Grundrechte und Demokratie zu verteidigen. Sind Sie diesem Anspruch bisher gerecht geworden?
Britta Rabe: Wir haben uns in den 40 Jahren in vielerlei menschenrechtsrelevante Themen eingemischt, immer an der Seite oder inmitten der sozialen Bewegungen: Recht auf Asyl, Friedenspolitik, Überwachung und Repression, soziale Menschenrechte, Gleichstellungspolitik und vieles mehr. Messbare Erfolge hatten wir vor allem im Erkämpfen einer sehr breiten Anwendung des Versammlungsrechts, zu dem für uns auch immer Aktionen des zivilen Ungehorsams gehören.
Wie hat sich das Engagement im Laufe der Jahrzehnte verändert?
M. W.: Themenstränge wie Versammlungsrecht, Gefangenenunterstützung und Entmilitarisierung sind Konstanten, aber Schwerpunkte haben sich immer an konkreten historischen Bedingungen orientiert. Heute sind außerparlamentarische Linke und menschenrechtlich tätige Organisationen breiter aufgestellt und weiter ausdifferenziert als in den 1980ern – wir müssen immer wieder neu klären, wo wir wirksam sein wollen und können.
Aufgrund der Coronapandemie begehen Sie Ihr 40jähriges Bestehen mittels digitaler Veranstaltungen. Wie bewerten Sie die staatlichen Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie insgesamt?
B. R.: Wir kritisieren seit Beginn der Pandemie die staatliche Fokussierung auf den Wunsch der Wiederherstellung des kapitalistischen Normalzustands, der schon vor der Pandemie vielgestaltige menschenrechtliche Probleme aufwarf, die sich nun weiter verschärfen. Nationalismus, Profitlogik, Klassismus und rassistische Ausgrenzung führen dazu, dass viele Menschen nicht genug vor dem Virus geschützt werden. Auch die Formen der Entscheidungsfindung und die teils repressive Umsetzung der Maßnahmen verdienen Kritik.
Erschreckt es Sie, dass bei den »Querdenker«-Protesten ausgerechnet Neonazis und Anhänger von Verschwörungsmythen Bezug auf Grundrechte und Demokratie nehmen?
M. W.: Die Innenminister haben diese Woche verkündet, dass sie im Namen der Menschenrechte wieder nach Syrien abschieben wollen. Das zeigt, dass die Nutzung der Begriffe Menschenrechte, Grundrechte, Demokratie immer an konkreten Inhalten zu messen ist. Die »Querdenker« blenden insbesondere die sozialen Dimensionen der Grund- und Menschenrechte aus und fordern vor allem individuelle Freiheiten für sich ein. Dass sie dies wissentlich und willentlich an der Seite von AfD und Faschistinnen und Faschisten – nicht selten mit antisemitischen Bezügen – tun, disqualifiziert den Bezug auf Grundrechte zusätzlich.
Angesichts weiter verschärfter Polizeigesetze haben derlei Kreise sich keineswegs besorgt um Grundrechte gezeigt.
M. W.: Weitgehende Polizeibefugnisse und Überwachungstechnologien werden insbesondere gegenüber marginalisierten Gruppen genutzt: in armen Stadtteilen, gegenüber nichtweißen Menschen und Geflüchteten, gegenüber politisch aktiven Kurdinnen und Kurden und emanzipatorischen Protestbewegungen. Rechte und konservative Kreise begrüßen diese autoritäre Nutzung staatlicher Gewalt gegen andere. Nun fühlen sich aber einige von ihnen plötzlich aller Rechte beraubt, wenn sie im Supermarkt einen Mund-Nasen-Schutz tragen sollen. Dennoch werden bei den »Querdenken«-Protesten auch Themen benannt, die einer kritischen linken Diskussion und Intervention bedürfen: die Rolle des Staates im Krisenmodus oder die Angst vor einer Impfpflicht beispielsweise.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Organisationen wie Ihre?
B. R.: Wir werden zum einen immer wieder auf die sozialen Verwerfungen hinweisen, die der Umgang mit der Coronapandemie verschärft hat. Es braucht eine Verlagerung der Unterstützungsmaßnahmen auf diejenigen, die ökonomisch und sozial besonders hart getroffen wurden. Es braucht zudem eine Umverteilung von Vermögen und einen Umbau des Gesundheitswesens – dafür treten wir ein. Aber wir werden auch die demokratischen Fragestellungen noch stärker in den Blick nehmen: die Neufassungen des Infektionsschutzgesetzes, die Fragen um Zugang zu Impfstoffen und zur Impfpflicht, den Umgang mit dem Versammlungsrecht.
Was sind Ihre nächsten Projekte?
M. W.: Wir wollen die Diskussionen um Polizeigewalt und Racial Profiling zuspitzen. Es braucht deutlich mehr externe Kontrolle und die Abschaffung rassismusbegünstigender Instrumente wie verdachtsunabhängige Kontrollen und gefährliche Orte.
B. R.: Aktuell versuchen wir, für NRW ein Reporting zu Abschiebungen aufzubauen, landesweit entsprechende Informationen zu sammeln und das Thema sichtbar zu machen. Auch möchten wir neben der konkreten Unterstützung von Inhaftierten anregen, das aktuelle Konzept von Strafen und Inhaftierung grundsätzlich in Frage zu stellen.
Das Interview erschien am 15. Dezember in der Jungen Welt