Es ist bald ein Jahr her, dass durch die ersten Corona-Verordnungen in nahezu allen Bundesländern Versammlungen pauschal verboten wurden. In den ersten Pandemiewochen im März und April 2020 hielten viele Verwaltungsgerichte die Verbote aufrecht, bis das Bundesverfassungsgericht am 15. April 2020 dieser Praxis ein Ende setzte[1]. Es stellte klar, dass Versammlungsbehörden auch in der Pandemie Einzelfallentscheidungen zu treffen haben und dass eine pauschale Einschränkung der Versammlungsfreiheit verfassungswidrig ist. Das schnelle Einklagen dieses elementaren Freiheitsrechts durch die Gießener Veranstalter*innen kann als erfolgreiche demokratische Intervention verstanden werden.
So wurden ab Mitte April 2020 viele Versammlungen zwar mit Auflagen belegt, aber konnten zumindest wieder stattfinden. Zu dem Repertoire der Auflagen gehören seitdem Abstands- und Mundschutzgebote, Desinfektionsgebote für Hilfsmittel, die Beschränkung der Teilnehmer*innenzahl, die zeitliche Verschiebung, örtliche Verlagerung oder die Beschränkung auf Standkundgebungen. Vereinzelt wurden Veranstalter*innen sogar aufgefordert, Kontaktlisten der Teilnehmenden anzufertigen, um diese im Infektionsfall bei den Gesundheitsämtern vorlegen zu können. Diese Vorgabe wurde – jedenfalls für kurze Versammlungen im Freien - glücklicherweise Anfang Mai vom Verwaltungsgericht Köln kassiert[2]. Dieses befand, ein Zwang zur Namensangabe sei unverhältnismäßig, da dieser das durch Artikel 8 GG geschützte Recht auf anonyme Teilnahme an einer Versammlung verletze. Ob das auch für Dauerversammlungen, insbesondere mit Teilversammlungen in geschlossenen Räumen, gilt, wurde nicht abschließend gerichtlich entschieden. Die Veranstalter*innen eines mehrtägigen Klimacamps in Aachen wurden jedenfalls im September 2020 dazu verpflichtet, Listen zur Kontaktnachverfolgung anzufertigen[3].
Auch um die Verhältnismäßigkeit anderer Beschränkungen wird vor den Gerichten – zurecht – gestritten, da einige der Auflagen die durch Artikel 8 GG garantierte Autonomie in der Versammlungsgestaltung deutlich beeinträchtigen. Zwischen der Forderung nach Einzelfallentscheidungen für jede Versammlung und der ebenso richtigen Forderung nach nachvollziehbaren Entscheidungskriterien ist ein Ausgleich nicht leicht zu finden. Ronen Steinke jedenfalls kommentierte die Rechtsprechung zum Versammlungsrecht in der Pandemie als inkohärent[4]: „Den Überblick hat niemand, die Gesamtverantwortung auch nicht. Es ist ein verwirrendes, ein mancherorts peinliches Bild, das die kommunalen Ordnungsämter abgeben.“ Dieser Befund ist sicherlich nicht falsch. Doch weitaus gefährlicher für die Versammlungsfreiheit als unterschiedliche Versammlungsbehördliche und gerichtliche Entscheide zur Beauflagung, sind die Diskussionen, die sich infolge der Querdenken-Versammlungen ergeben haben.
Querdenken-Proteste laufen aus dem Ruder
Schon im April 2020[5] fanden die ersten sogenannten „Hygiene-Demonstrationen“ gegen die Coronamaßnahmen statt. Relativ schnell wuchs die Bewegung an, breitete sich deutschlandweit unter dem Namen „Querdenken“ aus und führte immer häufiger auch Demonstrationen mit bundesweiter Mobilisierung durch. Dabei wurde zunehmend im rechten bis extrem rechten Spektrum zur Teilnahme aufgerufen. Neben inhaltlichen Bezügen auf Freiheitsrechte und das Grundgesetz, proklamierten Redner*innen und Teilnehmende von Beginn auch verschwörungsideologische Inhalte und nutzten antisemitische Codes. Zusätzlich kündigten die Teilnehmenden offen an, infektionsbezogene Auflagen wie Abstandsgebote oder Mundschutzpflicht missachten zu wollen und taten dies auch. Als ein erster Höhepunkt in der Debatte um die Versammlungsfreiheit kann die Querdenken-Demonstration am 29. August 2020 in Berlin gelten.[6] Die Versammlungsbehörde verbot mehrere angemeldete Versammlungen, sowohl das Verwaltungsgericht als auch das Oberverwaltungsgericht hoben die Verbote auf. Letztlich demonstrierten mehrere 10.000 Teilnehmer*innen in Berlin. Die Polizei machte vor Ort das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes zur Auflage, weil die Mehrzahl der Demo-Teilnehmer keine Mindestabstände einhielt. Als auch das Tragen von Mund-Nasen-Schutz verweigert wurde, wurde die Versammlung mit den meisten Teilnehmer*innen aufgelöst.[7] Der Tag endete damit, dass einige hundert Personen, vornehmlich Reichsbürger*innen, Polizeiabsperrungen überrannten, die Treppe des Bundestagsgebäudes besetzten und dort Reichsflaggen schwenkten. In der Folge mussten sich Polizeibehörden und Landesregierung für die Bilder erklären. Berlins Innensenator Geisel (SPD), der im Vorfeld viel Kritik für die Verbotsversuche geerntet hatte, meinte, das ursprüngliche Verbot der Versammlungen durch die städtische Versammlungsbehörde sei eben doch richtig gewesen.
Den zweiten Höhepunkt und einen Wendepunkt in Bezug auf das Versammlungsrecht stellt die Querdenken-Großdemonstration am 7. November 2020 in Leipzig dar. Angemeldet waren zunächst 20.000 Personen für den Augustusplatz in der Leipziger Innenstadt. Entgegen der Auflage der Stadt, die Kundgebung aus Platzgründen zur Neuen Messe zu verlegen, entschied das Oberverwaltungsgericht (OVG) Bautzen, dass die Kundgebung am gewünschten Ort stattfinden dürfte, legte aber eine Obergrenze von 16.000 Personen fest.[8] Auch diese Versammlung lief komplett aus dem Ruder. Die Teilnehmer*innen waren aus ganz Deutschland angereist. Es war neben dem Querdenken-Netzwerk auch massiv in der rechten bis Neonazi-Szene mobilisiert worden. Eine Leipziger Forschungsgruppe zählte rund 45.000 Demonstrant*innen. Am Nachmittag wurde die Kundgebung durch die Polizei für beendet erklärt, weil der Großteil der Teilnehmenden gegen das Maskengebot und weitere Auflagen verstieß. Allerdings reagierten die Anwesenden nicht auf die Aufforderungen der Polizei, den Ort zu verlassen, stattdessen wollten sie demonstrieren - in der selbst proklamierten Tradition der Montagsdemonstrationen und Friedensgebete von 1989/90. Und das taten sie dann auch: nachdem Hooligans und bekannte Neonazis Polizeisperren durchbrochen und Polizist*innen gewaltsam angegangen hatten, marschierten Zehntausende durch die Innenstadt.[9] Die Polizei schaute dann nur noch zu und duldete unter anderem gezielte körperliche Angriffe auf Journalist*innen und Dritte, wenn Beamte die Journalist*innen nicht direkt selbst an der Arbeit hinderten.[10] Das Nichteinschreiten erklärte der Leipziger Polizeipräsident später damit, die Querdenken-Demonstrant*innen seien „zu übermächtig“ gewesen.[11]
Abgesehen davon, was diese Aussage der extremen Rechten an Auftrieb geben kann, ist es auch nur die halbe Wahrheit. Obwohl klar war, welche ideologisch weit rechts stehende Mélange in Leipzig unter dem Label „Querdenken“ zusammen kommen würde und massive Verstöße gegen Auflagen zu erwarten waren, ist die Polizei ein naives Konzept gefahren. Schweres Gerät wie Wasserwerfer und Räumpanzer waren zwar in der Stadt, wurde aber allein am Abend gegen linke Demonstrant*innen im Stadtteil Connewitz eingesetzt. Nicht, dass der Einsatz von Wasserwerfern je zu begrüßen wäre, allerdings ist auffällig, gegen wen der Einsatz offenbar gar nicht in Betracht gezogen wird. Rechte Demonstrant*innen werden selbst dann gewähren gelassen, wenn sie Beamt*innen und Journalist*innen angreifen. Polizei und Innenministerium in Sachsen machten mit ihrem Agieren zum wiederholten Mal deutlich, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Weder sind Strategiewechsel oder Lerneffekte aus den rassistischen und neonazistischen Mobilisierungen in Chemnitz im Jahr 2018 erkennbar, noch aus den Polizeiskandalen der letzten Jahre, in die nicht wenige Beamt*innen der sächsischen Polizei verwickelt sind. Die strukturelle Verharmlosung von rechter Gewalt setzt sich fort, das übertriebene und gewaltvolle Vorgehen gegen Antifaschist*innen ebenso.
Im Verantwortungsbingo verliert die Versammlungsfreiheit
Nach dem Leipziger Desaster wollte keine*r dafür verantwortlich sein und es wurde reihum die Verantwortung verschiedenen Akteuren in die Schuhe geschoben.[12] Polizeiführung und Innenminister Roland Wöller wiegelten ab – es sei doch „überwiegend friedlich“ geblieben. Die körperlichen Angriffe auf Beamt*innen und Journalisten kehrte Wöller unter den Teppich. Verurteilenswert fand er nur in Connewitz angezündete Barrikaden. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung schoss sich auf die Sächsische Landes- und Bundesregierung ein, die generell zu lasche Vorgaben in Bezug aufs Versammlungsrecht in der Pandemie gemacht hätten. Einig waren sich Oberbürgermeister und Innenminister hingegen darin, dass im Grunde das OVG Bautzen die Schuld trage, weil es die Kundgebung in der Innenstadt zugelassen habe. Laut Wöller habe dieses „die größte Corona-Party genehmigt“. Dass die Corona-Party wohl ebenso hemmungslos auf dem Messegelände gefeiert worden wäre und sich das Gericht maßgeblich auf die Gefahrenprognose der Polizei gestützt hatte[13], waren scheinbar zu vernachlässigende Details – Hauptsache, die Verantwortung liegt woanders. Der in Sachsen besonders stark ausgeprägte Unwillen, jemals kritisch auf Polizeihandeln zu schauen und die Rufe nach einer generellen Beschränkung des Versammlungsrechts verhallten dann auch nicht ungehört. Kurz darauf wurde die Sächsische Corona-Verordnung geändert und die zulässige Teilnehmer*innenzahl von Versammlungen auf 1.000 begrenzt[14], was verfassungsrechtlich mehr als bedenklich ist.[15]
Aber die Geschehnisse in Leipzig – inmitten eines sich rapide zuspitzenden Infektionsgeschehens – hatten auch überregional Auswirkungen auf den Umgang mit Querdenken-Demonstrationen: in der Folge wurden mehrere angemeldete Versammlungen verboten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bestätigte die Verbote in Eilentscheidungen. Sehr ausführlich begründete es die Aufrechterhaltung eines Versammlungsverbots in Duisburg für den 22. November 2020:[16]
- Das Gericht setzte voraus, „dass das SARSCoV-2-Virus hauptsächlich durch Tröpfcheninfektion über die Schleimhäute und Atemwege übertragen wird und dass deshalb das Risiko einer Verbreitung dieses Virus durch Versammlungen mit hoher Teilnehmerzahl sowie allgemein durch Zusammentreffen vieler Personen erhöht werde.“
- Die vorherigen Instanzen hatten eine Auflage von Schutzmasken als nicht zielführend verworfen und dies mit der weitgehenden Missachtung des Maskengebots auf vorherigen Querdenken-Versammlungen begründet. Obwohl der Duisburger Anmelder argumentierte, er sei nicht für diese Veranstaltungen verantwortlich gewesen, entschied das BVerfG, „dass für eine Gefahrenprognose durchaus Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden können, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen.“
- Weiter argumentierte es, dass auch von einer Einhaltung der Mindestabstände nicht auszugehen sei, u.a. weil der Anmelder keine Maßnahmenvorschläge zu deren Einhaltung unterbreitet hätte. Zudem wäre eine effektive Teilnehmer*innenbeschränkung auf 2.000 Personen nur durch Zugangskontrollen zu gewährleisten, die wiederum zu großen Menschenansammlungen führen könnten. Es finde sich kein passender Ort in Duisburg, um diesem Risiko wirksam zu begegnen.
- In der abschließenden Abwägung zwischen dem Versammlungsrecht und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit „einer großen Anzahl Dritter“ verweist das Gericht noch auf den zu dem Zeitpunkt sehr hohen 7-Tages-Inzidenzwert von 268,5 auf 100.000 Personen in Duisburg.
Für die Durchführung der Versammlung hätte „das Risiko einer Weiterverbreitung des SARSCoV-2-Virus durch geeignete Maßnahmen hinreichend eingeschränkt werden“ müssen, dies sei aber aus den aufgeführten Gründen, insbesondere durch das Versäumnis des Anmelders den Risiken ausreichend zu begegnen, nicht der Fall. Demnach ginge der Abwägungsprozess zu Lasten des Versammlungsanmelders aus.
In der Folge entwickelte sich laut Hecker[17] „eine neue Verwaltungspraxis“ präventiver Verbote. Sowohl eine als „Advents-Mega-Demonstration“ angemeldete Querdenken-Versammlung am 5. Dezember in Bremen, als auch für den 12. Dezember in Dresden und Frankfurt am Main geplante Versammlungen wurden im Vorfeld verboten. Begründet wurde dies jeweils mit der akut hohen Infektionsgefahr und der zu erwartenden Nichteinhaltung von Infektionsschutzmaßnahmen. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte alle Verbote und lehnte entsprechende Eilanträge der Veranstalter*innen ab.[18] [19]
Nuancierte Kritik an Verboten nötig
Seit jeher setzt sich das Grundrechtekomitee für ein umfassendes und uneingeschränktes Versammlungsrecht ein. Gerade in Krisensituationen ist dieses grundlegende Freiheitsrecht unverzichtbar, Gründe für Proteste gibt es auch aktuell mehr als genug. Insofern können uns die Beschränkungen und Verbote nur beunruhigen. Dennoch ist in der aktuellen Situation eine differenzierte Kritik nötig.
Die Gründe für oben genannte präventive Verbote sind von den Versammlungsbehörden und Gerichten detailliert dargelegt worden und in der Argumentation nachvollziehbar. Die Verbote der auf große Teilnehmerzahlen angelegten Querdenken-Versammlungen, deren „Markenkern“ in der aktiven und sichtbaren Leugnung der Coronapandemie und im Verweigern von Infektionsschutzmaßnahmen besteht, sind nur schwerlich zu kritisieren. Zwar müssen auch „verquere“ Meinungen im öffentlichen Raum ihren selbst gewählten Ausdruck finden dürfen, aber das Verhalten der Querdenker*innen geht weit über die reine, öffentliche Meinungsäußerung hinaus. Zwar stellt die demonstrative Nichteinhaltung des Maskengebots einen auf die staatlichen Maßnahmen gerichteten symbolischen Protest dar, der grundsätzlich möglich sein muss. Gleichzeitig müssen aber die möglichen gesundheitlichen Folgen für die Teilnehmenden selbst und für Dritte in die Abwägung einfließen. Letztlich gefährden die Teilnehmenden in ignoranter Manier oder in voller Absicht die Gesundheit einer unbestimmbaren Anzahl von Menschen, die wenig Möglichkeiten haben, sich davor zu schützen.
Zwar muss in Frage gestellt werden, ob und inwieweit die Versammlungen im Freien selbst zu einem erhöhten Infektionsgeschehen beitragen. Nach allem, was bekannt ist, ist das Ansteckungsrisiko im Freien deutlich geringer, insbesondere wenn gängige Infektionsschutzmaßnahmen wie Abstandhalten und das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes eingehalten werden. Aber gerade diese einfachen Maßnahmen werden abgelehnt und absichtlich missachtet. Es kann zudem nicht außer Acht gelassen werden, dass zehntausende Teilnehmer*innen teils bundesweit anreisen und somit über den Versammlungszeitpunkt hinaus Einfluss auf das Infektionsgeschehen nehmen.
In der Tat lässt sich in den Herkunftskommunen der Demonstrationsteilnehmer*innen ein Einfluss auf das Infektionsgeschehen nachweisen, wie die Vorveröffentlichung einer Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) nahelegt.[20] Die Forscher arbeiten heraus, dass die COVID19-Sieben-Tages-Inzidenz in den Wochen nach zwei Querdenken-Großdemonstrationen[21] in Landkreisen mit einer Bushaltestelle des Unternehmens „Honk for Hope“ deutlich stärker anstieg, als in Landkreisen ohne eine solche Bushaltestelle. „Honk for Hope“ ist ein Reiseunternehmen, das sich auf die Organisation von Bustransporten zu Querdenken-Demonstrationen spezialisiert hat. Besonders stark fiel der Zusammenhang in Landkreisen mit Städten mit weniger als 20.000 Einwohner*innen aus. Zum Ende des Betrachtungszeitraums am 23. Dezember lag die Sieben-Tages-Inzidenz in diesen Landkreisen mit einer entsprechenden Bushaltestelle um 75 Fälle auf 100.000 Personen höher als in den Vergleichskommunen, was eine Abweichung um 35,9 Prozent darstellt.
Das Studiendesign liefert keine Aussage darüber, ob die Versammlungen selbst, oder vielmehr die Busreisen zu den höheren Infektionszahlen beitragen. Insofern muss auch das Fazit der Forscher kritisch betrachtet werden, sie würden „den Zielkonflikt zwischen der Einschränkung von Freiheitsrechten und gesundheitspolitischen Maßnahmen zum Infektionsschutz“[22] quantifizieren. Diese Schlussfolgerung ist zu pauschal. Es ist zum Einen zu betonen, dass ein Zusammenhang nicht für jegliche Versammlungen erforscht wurde, sondern nur für den Zeitraum nach zwei konkreten Querdenken-Großversammlungen im November 2020. Die Forscher weisen zudem selbst darauf hin, dass große Zusammenkünfte nicht automatisch zu hohen Infektionszahlen führen müssten: das National Bureau of Economic Research (NBER) in Cambridge, Massachusetts, hatte den Einfluss von Black Lives Matter-Protesten in größeren US-amerikanischen Städten auf das Pandemiegeschehen untersucht und keinen Anstieg festgestellt.[23] Eine pauschale Aussage über den Zusammenhang von Versammlungen und Infektionsgeschehen kann demnach nicht abgeleitet werden. Es lässt sich aber zumindest schlussfolgern, dass die Kombination aus absichtlicher Missachtung von Infektionsschutzmaßnahmen durch (Zehn-)tausende und langen Busanreisen zu einem signifikant höheren Infektionsgeschehen beigetragen hat. Diese Erkenntnisse ergänzen die oben zitierten gerichtlichen Ausführungen zu den Verbotsverfügungen. Unter Beachtung dieser Faktenlage sind die konkreten Verbote der Querdenken-Großdemonstrationen im November und Dezember nicht zu beanstanden. Dennoch sollte künftig auch eine Beschränkung von Busanreisen als mildere Maßnahme geprüft werden.
Zu warnen ist zudem davor, dass diese „neue Verwaltungspraxis“ der Verbote sich in einzelnen Versammlungsbehörden schnell verstetigen und verselbständigen kann. Veranstaltungen könnten schlicht mit dem Verweis auf die Pandemie beschränkt und verboten werden, ohne dass die konkreten Begebenheiten dies begründen ließen. Es ist zudem gut möglich, dass Verbote und Beschränkungen alleinig ausgesprochen werden, um behördlichen und polizeilichen Aufwand zu vermeiden. Es bleibt also eine kritische Wachsamkeit geboten, auch mit Blick auf Versammlungen, deren Inhalte den eigenen politischen Überzeugung zuwiderlaufen. Teilnehmer*innen-zentrierte Gefahrenanalysen und die Zuschreibung von Gefährlichkeit durch Rückgriff auf vergangene Versammlungsgeschehen konnte bislang in aufwändigen Rechtsstreits gerichtlich begrenzt werden. Dass diese durch die Querdenken-Versammlungen ein Comeback feiern, ist eine sehr ernst zu nehmende Entwicklung. Aber nicht nur Verbote, auch Auflagen sollten weiterhin kritisch hinterfragt und durch Verwaltungsklagen überprüft werden.
Ein stimmungsgetriebener demokratischer Backlash?
Nicht nur das konkrete behördliche Handeln, auch die allgemeine Stimmung und das laute Rufen nach Einschränkungen der Versammlungsfreiheit geben Anlass zur Sorge. So äußerte der Verfassungsrechtler Christian Pestalozza im Tagesspiegel[24] „in Pandemiezeiten muss die Versammlungsfreiheit hinter dem Gesundheitsschutz zurücktreten“, da derzeit „das Versammeln an sich eine Gefahr“ darstelle. Aber auch im linken Spektrum und in sozialen Bewegungen wird teils heftig über Proteste auf der Straße debattiert. Großmobilisierungen wurden – verantwortungsvollerweise – schon zu Beginn der Pandemie eingestellt. Seitdem wird sich auf lokale Proteste beschränkt, aber dies führt selbst mit strengen Hygienekonzepten teils zu der Kritik, dadurch würden Menschen gefährdet.
Immer wieder wird auch das Argument angeführt, eine physische Versammlung sei nicht nötig, schließlich könne jede*r seine Anliegen auch online vorbringen. Sogar der Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes stimmte in diesen Chor ein und meinte, „in Zeiten der Dominanz sozialer Medien macht es letztlich keinen wirklichen Unterschied, ob die Demonstration auf einem Innenstadtplatz stattfindet, oder im Außenbereich. Teilnehmer und Journalisten sorgen dafür [...], dass die Anliegen der Demonstranten in die Öffentlichkeit transportiert werden.“[25] Zum einen stimmt das nicht, denn nicht jede Person hat gleichermaßen Zugang zum Internet und zu den dortigen öffentlichen Plattformen des Meinungsaustauschs. Zum anderen unterscheidet sich die Art der Öffentlichkeit doch ganz erheblich. Derlei Überlegungen verkennen die unmittelbare und unvermittelte Wirkung, die öffentliche Versammlungen auf Teilnehmende und Umstehende erzielen. Zudem leisten sie denen Vorschub, die aus einer autoritären Ecke die Versammlungsfreiheit ohnehin als störend empfinden und diese zu begrenzen oder aus Innenstädten und Konsumbereichen zu vertreiben suchen. Versammlungen sollen aber stören und Dissens vermitteln! Proteste sollen direkt hörbar und sichtbar sein und sie sollen die Öffentlichkeit direkt adressieren können. Auch darin liegt ihr demokratischer Gehalt.
Dieses Risiko eines demokratischen Backlashs in Bezug auf die Versammlungsfreiheit bleibt nicht rein theoretisch. Das Ausnutzen dieser Stimmung durch autoritäre Politiker ließ nicht auf sich warten. Herbert Reul, Innenminister von Nordrhein-Westfalen, ließ schon im April 2020 durchblicken, die Ausgestaltung der Versammlungsfreiheit sei seit dem dafür maßgeblichen Brokdorf-Beschluss von 1985, „auf den Prüfstand“ zu stellen. Obwohl er nach massiver Kritik zurückruderte, tut er das nun faktisch mit dem im Januar 2021 vorgelegten Versammlungsgesetz-Entwurf für NRW[26]. In der Begründung zum Entwurf wird offen damit kokettiert, mit dem liberalen Versammlungsrecht brechen zu wollen. Der Entwurf ist aus einer polizeilichen, nicht aus einer freiheitlichen Logik heraus formuliert worden. Versammlungen werden allein als Störungen begriffen, nicht als Mittel eines lebendigen, öffentlichen Meinungsaustauschs, das es zu schützen und zu unterstützen gilt. Nun wird es also mitten in der Pandemie nötig, das Versammlungsrecht gegen autoritäre Landesregierungen verteidigen zu müssen, ausgerechnet in einer Phase, die starken Protest auf der Straße erschwert. Es nützt allerdings nichts: bundesweiter und sichtbarer Widerstand gegen dieses Vorhaben darf nicht ausbleiben.
Letztlich ist auch in Bezug auf die selbst ernannten Querdenker*innen eine Antwort auf der Straße und auf den Plätzen notwendig. Eine emanzipatorische Kritik sollte sich nicht primär an den (Nicht-)Begrenzungen der Versammlungen von Querdenkern und dem entsprechenden Polizeihandeln abarbeiten. Es ist wichtiger, die Coronaleugner*innen selbst, ihre Ideologien, ihre Strategien und ihr Handeln in den Mittelpunkt von Kritik und Protest stellen. Mitten in einer Pandemie mag das frustrierend sein, wären doch möglichst wenige Kontakte sinnvoll und sind die Hürden für Gegenversammlungen höher als sonst. Aber antifaschistische emanzipatorische Bewegungen kommen auch jetzt nicht um den direkten Protest gegen rechte Ideologien und Bewegungen herum. Dort, wo dies schnell erkannt und konsequent umgesetzt wurde, konnten die lokal entstehenden Querdenken-Ableger gut in Schach gehalten und eingedämmt werden, so geschehen z.B. in Mainz oder Köln. Es sollte dem Reiz widerstanden werden, den repressiven Staat um Ordnung und Sicherung anzurufen. Denn dieser wird den freien Raum füllen und ihn nicht freiwillig wieder hergeben.
Autorin: Michèle Winkler
Versionsverlauf: am 16. März 2021 wurden einige sprachliche Präzisierungen vorgenommen und Quelle [15] ergänzt.
[1] BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 15. April 2020 - 1 BvR 828/20 - http://www.bverfg.de/e/rk20200415_1bvr082820.html
[2] https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/vg-koeln-7l809-20-teilnahme-demo-pflicht-namensliste-teilnehmer-unverhaeltnismaessig/
[3] OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.09.2020 - 13 B 1422/20 - https://openjur.de/u/2298890.html
[4] https://www.sueddeutsche.de/meinung/corona-demonstrationen-gerichte-1.5109606
[6] https://www.fr.de/politik/berlin-corona-demo-kundgebung-querdenken-711-protest-polizei-zr-90033019.html
[7] https://www.dw.com/de/polizei-l%C3%B6st-demonstration-in-berlin-auf/a-54752085
[8] Hensel, Roman: Justiz-Bankrott?: Zwischenruf zur übereilten Kritik am Sächsischen Oberverwaltungsgericht, VerfBlog, 2020/11/11, https://verfassungsblog.de/justiz-bankrott/
[9] Ulrich, Sarah: „Querdenker“-Protest in Leipzig: Triumph der Coronaleugner:innen; 2020/11/08 https://taz.de/Querdenker-Protest-in-Leipzig/!5726829/
[10] https://dju.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++507dedae-210f-11eb-b1c0-001a4a160100
[11] https://www.sueddeutsche.de/politik/leipzig-querdenken-woeller-1.5109106
[12] https://www.mdr.de/sachsen/corona-demo-leipzig-kritik-reaktionen-polizeitaktik-100.html
[13] Gutmann, Andreas; Vetter, Tore: Verquere Schuldzuweisungen: Die Versammlungsfreiheit in Sachsen nach #le0711, VerfBlog, 2020/11/13, https://verfassungsblog.de/verquere-schuldzuweisungen/
[14] https://www.revosax.sachsen.de/vorschrift/18996#p9
[15] Aden, Hartmut; Arzt, Clemens; Fährmann, Jan: Gefährdete Freiheitsrechte in Krisenzeiten – Lehren aus der COVID-19-Pandemie; in: vorgänge Nr. 230 (2/2020), S. 99-111 http://www.humanistische-union.de/nc/publikationen/vorgaenge/online_artikel/online_artikel_detail/back/vorgaenge-230/article/gefaehrdete-freiheitsrechte-in-krisenzeiten-lehren-aus-der-covid-19-pandemie/
[16] BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. November 2020 - 1 BvQ 135/20 - http://www.bverfg.de/e/qk20201121_1bvq013520.html
[17] Hecker, Wolfgang: Versammlungsfreiheit und Maskenpflicht, VerfBlog, 2020/12/16, https://verfassungsblog.de/versammlungsfreiheit-und-maskenpflicht/
[18] BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 05. Dezember 2020 - 1 BvQ 145/20 - http://www.bverfg.de/e/qk20201205_1bvq014520.html
[19] https://www.tagesspiegel.de/politik/niederlage-fuer-querdenker-bundesverfassungsgericht-bestaetigt-verbot-von-dresdner-demo/26711978.html
[20] Lange, Martin / Monscheuer, Ole / DISCUSSION PAPER: Spreading the Disease: Protest in Times of Pandemics; https://www.zew.de/fileadmin/FTP/dp/dp21009.pdf
[21] Am 7. November 2020 in Leipzig und am 18. November 2020 in Berlin.
[22] https://www.zew.de/presse/pressearchiv/mehr-covid-19-infektionen-nach-querdenken-demonstrationen
[23] Dave, D., A. Friedson, K. Matsuzawa, J. Sabia, and S. Safford (2020). Black lives matter protests, social distancing, and COVID-19. NBER Working Paper Series (27408). https://www.nber.org/papers/w27408
[24] https://www.tagesspiegel.de/politik/nach-eskaliertem-corona-protest-berliner-verfassungsrechtler-fordert-obergrenze-fuer-demos/26611070.html
[25] Feltes, Thomas: Pars pro Toto: Das „Leipziger Fiasko“ als Bankrott unserer freiheitlichen Gesellschaft, VerfBlog, 2020/11/09, https://verfassungsblog.de/pars-pro-toto/
[26] https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-12423.pdf