Den Titel „Verfassungsfeinde über uns!“ wählte Helmut Gollwitzer[1] 1975 in den Auseinandersetzungen über die Berufsverbote. Mittlerweile hat diese Titelformulierung fast ihr Erschrecken verloren angesichts von Grundrechtseinschränkungen weit über die des Asylrechtes hinaus. In seinem Aufsatz weist Gollwitzer daraufhin, „dass alle GG-Artikel, die ich zitiert habe[2], Schutzbestimmungen sind für den Staatsbürger gegenüber der von ihm gewählten Obrigkeit“[3] und fährt fort: es „müssen jetzt schon die Schutzbestimmungen des Staatsbürgers umgedeutet werden in Kontrollvollmachten der Obrigkeit über den Staatsbürger“[4], den eigentlichen Souverän unserer demokratischen Verfassung. Diese Überlegungen Gollwitzers erscheinen mir relevant für den Fall, von dem ich berichte: Es handelt sich m.E. um einen eklatanten Eingriff in das grundgesetzlich garantierte Recht auf „die ungestörte Religionsausübung“, die laut Artikel 4 Absatz 2 „gewährleistet wird“ in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 2: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt (!, Hervorhebung von mir) angetastet werden.“
Am 23. Juli 2021 auf einer Etappe des „Kreuzweges für die Schöpfung – Von Gorleben nach Garzweiler“ hat sich bei Schloss Oberwerries in Hamm Folgendes zugetragen: Hier stoppte die „zufällig“ (so der Polizeisprecher Malte Gerwin) anwesende Polizei in einem aus Sicht der Pilger:innen „unverhältnismäßigen und unbegründeten“ Einsatz den Pilgerzug. Die Situation eskalierte. Eine der Pilger:innen musste sich wegen einer Gehirnerschütterung, die sie bei einem Sturz auf den Boden erlitten hatte, ins Krankenhaus begeben.
Jede Seite hat ihre eigene Realität
Auf dem Internetauftritt des Kreuzweges[5] liest sich der Vorfall so:
Polizei stoppt Pilgerweg – Kreuzträger festgenommen 18. Etappe / 23. Juli
Veröffentlicht am 23. Juli 2021 von admin_J
Bei Schloss Oberwerries (Hamm / Westfalen) wurde der “Kreuzweg für die Schöpfung” durch die Polizei gestoppt. Die Einsatzkräfte aus Nordrhein-Westfalen haben dem Pilgerzug den religiösen Charakter abgesprochen.
“Auf unserer heutigen 22km-langen Tagesetappe von Beckum nach Hamm haben wir gerade am Schloss Oberwerries eine Rast eingelegt, als die Polizei auffuhr”, so Michael Friedrich vom Organisationsteam. “Die Polizei hat uns unter Androhung von Pfeffersprayeinsatz das Weitergehen verboten.”
Der Vorwurf lautet, es handle sich bei dem religiösen Kreuzweg um eine “nicht angemeldete, politische Versammlung”, u.a. weil politische Fahnen mitgeführt werden. Darauf ist zum Beispiel das Zitat “Diese Wirtschaft tötet.” von Papst Franziskus zu lesen.
Bei dem Polizeieinsatz wurde ein Rentnerehepaar von “Christians for future Aachen” von der Polizei zu Boden gestoßen. Der bekannte Waldpädagoge Michael Zobel wurde in Handschellen abgeführt. Der Kreuzträger Jonas wurde festgenommen und auf das Polizeipräsidium Hamm gebracht.
Nach Intervention mehrerer Pfarrer*innen beider großer Konfessionen durfte der Kreuzweg zwar weitergehen, aber mit der Auflage, ausschließlich explizit religiöse Fahnen und Transparente mitzuführen. Der “Kreuzweg für die Schöpfung” ist am 4. Juli am verhinderten Atommüllendlager Gorleben gestartet und führt bis zum rheinischen Braunkohlegebiet Garzweiler. Am 10. Juli wurde die Gruppe beim niedersächsischen Landesbischof Meister empfangen. Ein breites Bündnis von politischen- und religiösen Organisationen unterstützt die Klimaschutz-Aktion.
Drei Tage später hat sich auch die Polizei erinnert und nach der Darstellung durch die Pilger:innen eine Erklärung abgegeben, die sich Punkt für Punkt an den Vorwürfen der Pilger:innen abarbeitet[6]:
Polizei: Papst-Zitat bei Klimapilgern nicht beanstandet
Wurde Klimapilgern der Gebrauch eines Papst-Zitates verboten? Die Teilnehmenden des "Kreuzwegs für die Schöpfung" werfen der Polizei das vor. Die verneint – und widerspricht auch weiteren Vorwürfen der Pilger.
Die Polizei hat Vorwürfen der Teilnehmenden des "Kreuzwegs für die Schöpfung" am Freitag in Hamm in zentralen Punkten widersprochen. So sei das Zeigen des Papst-Zitates "Diese Wirtschaft tötet" sowie des Misereor-Hungertuches "zu keinem Zeitpunkt beanstandet" worden, teilte die Polizei Hamm auf Anfrage von katholisch.de am Montag mit. Einige Klimapilger hatten zuvor geklagt, die Polizei habe beide Transparente verboten. Weitere Vorwürfe der Teilnehmenden waren, dass die Polizei "mit völlig unangemessener Härte" gegen die Pilger vorgegangen sei. Polizisten seien mit Schlagstöcken und Pfefferspray auf die Klimapilger zugegangen und hätten Teilnehmende zu Boden gestoßen, das Herbeirufen eines Krankenwagens sei abgelehnt worden.
Polizei widerspricht Vorwürfen
Die Polizei antwortet auf diese Vorwürfe, dass ein 26-Jähriger verdächtigt wurde, eine Einsatzbesprechung der Polizei mit seinem Smartphone aufgezeichnet zu haben. Er sei vor den Einsatzkräften geflüchtet. Daraufhin hätten Teilnehmende die Polizei daran gehindert, dem Mann zu folgen. "Infolgedessen wurden vier Personen von den Beamten nach mehrfach wiederholter Zwangsandrohung zur Seite gestoßen, zwei von ihnen kamen dabei zu Fall", so die Polizei. "Die Einsatzkräfte boten den beiden am Boden liegenden Personen Hilfe und die Hinzuziehung eines Rettungswagens an. Dies wurde von den Betroffenen abgelehnt." Schlagstöcke und Pfefferspray seien von den Einsatzkräften "aus Eigensicherungsgründen" einsatzbereit gehalten, aber nicht eingesetzt worden, teilte die Polizei mit.
… Der rheinische Präses Thorsten Latzel hat den nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul (CDU) um eine Klärung der Vorfälle gebeten. (cph)
Offener Brief des „Ökumenischen Instituts für Friedenstheologie“
Das „Ökumenische Institut für Friedenstheologie“ hat diesen Pilgerweg wie viele andere Gruppen, Organisationen und Institutionen wie beispielsweise die Evangelische Kirche im Rheinland unterstützt, einige seiner Mitglieder sind einige Etappen mitgewandert. Als Unterstützergruppe haben wir einen offenen Brief an den nordrhein-westfälischen Innenminister Reul geschrieben.
Offener Brief an den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen Herrn Herbert Reul
25. Juli 2021
Betr.: Polizeieinsatz gegen Christinnen und Christen des „Kreuzweges Schöpfung von Gorleben nach Garzweiler“
Sehr geehrter Herr Minister Reul,
mit Schrecken, Entsetzen und völligem Unverständnis haben wir Kenntnis erhalten von dem Polizeieinsatz gegen Teilnehmer:innen des „Kreuzweges Schöpfung von Gorleben nach Garzweiler“. Unser Ökumenisches Institut für Friedenstheologie gehört zum Kreis der Unterstützer-Organisationen dieses Pilgerweges, auf dem sich Christ:innen und Nichtchrist:innen im Rahmen einer großen Ökumene für Klimagerechtigkeit, für die Bewahrung der Schöpfung und ein Leben in Fülle für alle einsetzen. Sie stehen damit in völliger Übereinstimmung mit dem Programm der Pilgerwege des Ökumenischen Rates der Kirchen und den Herzensanliegen von Papst Franziskus.
Wir verurteilen auf Schärfste den Polizeieinsatz gegen Christinnen und Christen auf einem Pilgerweg vor dem Schloss Oberwerries. Ausgangspunkt des Konfliktes ist hier nach den uns vorliegenden Informationen eindeutig die Polizei des Landes NRW.
Dieser Polizeieinsatz ist unseres Erachtens ein eklatanter Eingriff in das grundgesetzlich garantierte Recht auf „die ungestörte Religionsausübung“, die laut Artikel 4. Abs 2 „gewährleistet wird“ in Verbindung mit Art 19 Abs. 2: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt (!, Hervorhebung von uns) angetastet werden.“ Es handelt sich hier u. E. nicht lediglich um einen Rechtsbruch seitens staatlicher Organe, sondern um einen Eingriff in verbriefte Grundrechte unserer verfassungsmäßigen Ordnung. Und dies geschieht in einem Bundesland, das 1. ein Versammlungsgesetz gerade versucht zu verabschieden, das verfassungsrechtlich hoch umstritten ist, und 2. von einem Ministerpräsidenten regiert wird, der Mitglied einer Partei ist, die das Prädikat „christlich“ für sich reklamiert und deshalb wissen müsste, aufgrund welcher historischer Erfahrungen die Inhalte des Art 5 GG in Verbindung mit Art 19 GG Eingang in die Verfassung gefunden haben.
Wir bitten Sie, Herr Innenminister Reul deshalb – trotz Ihrer weitreichenden aktuellen Aufgaben im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe in Nordrhein Westfalen und Rheinland Pfalz – dringend, um die Wahrung des Rechtsfriedens wieder herzustellen – zum einen um eine lückenlose Aufklärung der Vorgänge des Polizeieinsatzes gegen die Pilger:innen des „Kreuzweges Schöpfung von Gorleben nach Garzweiler“, zum anderen in Übereinstimmung mit der Evangelischen Kirche von Westfalen um eine sofortige, vollständige und rechtswirksame Garantie für die – unter den gegenwärtigen Bedingungen – grundgesetzlich garantierte Durchführung des „Kreuzweges Schöpfung von Gorleben nach Garzweiler“ ohne weitere polizeiliche Maßnahmen.
Wir haben uns angesichts des u. E. grundgesetz-widrigen Polizeieinsatzes auch mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie in Verbindung gesetzt, dem Mitglieder unseres Institutes ebenfalls angehören.
Mit freundlichen Grüßen und guten Wünschen für Ihr Amt
Für das Ökumenische Institut für Friedenstheologie: Dipl. theol. Peter Bürger, Pfr. Dr. Matthias Engelke, Dr. phil. Gudula Frieling, Prof. em. Dr. Gottfried Orth, Rainer Schmid (evang. Theologe); Prof. Dr. Stefan Silber
Nahezu postwendend erreichte uns am folgenden Tag eine Antwortmail des Innenministers, in dem dieser versicherte, die Pilgergruppe könne den Kreuzweg „unbehelligt von der Polizei“ fortsetzen, und den Unterzeichnern ‚versprach‘, dass diese auf dem Wege einer Email noch einmal von ihm hören werden, wenn eine Bewertung des Vorfalls erfolgt ist. Offensichtlich ist diese noch nicht abgeschlossen, denn ein weiterer Brief des Innenministers ist noch nicht bei mir eingetroffen.
Der Pilgerweg konnte in der Tat fortgesetzt werden ohne weitere Eingriffe der Polizei – jedoch nicht unbehelligt von dieser.
Mit Datum vom 19. August 2021 erinnerte ich Innenminister Reul an sein ‚Versprechen‘ und bat ein weiteres Mal um Klärung der im Brief 25. Juli 2021 genannten Punkte sowie weiterer Anfragen im Blick auf die Stellungnahme der Polizei vom 26. Juli sowie hinsichtlich der die Pilger:innen betreffenden Anzeigen, um deren Rücknahme ich eindringlich bat.
Eine persönliche Zwischenbemerkung
Wenn der Innenminister Nordrhein-Westfalens drei Tage nach dem Polizeieinsatz am 23. Juli 2021 am 26. Juli schreibt, dass die Pilger:innen den weiteren Kreuzweg in Nordrhein-Westfalen „unbehelligt von der Polizei“ fortsetzen können, dann bedeutet dies für mich, dass entweder der Polizeieinsatz drei Tage zuvor nicht rechtskonform war oder die Auskunft des Innenministers nicht rechtskonform ist. Von daher sind wir auf den weiteren Brief des Innenministers Reul gespannt.
Sind die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land der Souverän und garantiert dies unser Grundgesetz ebenso wie es die ‚ungestörte Religionsausübung gewährleistet‘, dann ist jede Regierung, so auch die Nordrhein-Westfalens, Rechenschaft schuldig über ihre Aussagen ebenso wie über die Praxis der ihr unterstellten Behörden – erst recht wenn es sich um Verletzungen von Grundrechten handelt, die allesamt Schutzbestimmungen sind für den Staatsbürger – den eigentlichen Souverän in Demokratien – gegenüber der von ihm/ihr gewählten Regierung sind und eben keine Kontrollvollmachten der Regierung oder ihr untergeordneter Beamten über die Staatsbürger:innen.
Als Kind lernte ich, ich könne mich auf der Straße immer an den Schutzmann wenden, der mir sicherlich helfen würde, weil er dazu da sein, die Menschen zu schützen. Dieses Bild der Polizei hat sich mir als Kind eingeprägt. Heute frage ich mich: Wen oder was schützt ‚der Schutzmann‘?
(Eine Fortsetzung folgt nach dem erhofften Eingang des Briefes von Innenminister Reul)
[1] H. Gollwitzer, „Verfassungsfeinde über uns!“ Vortrag bei einer Veranstaltung gegen die Berufsverbote in der Freien Universität Berlin am 10. Juni 1975. Wieder veröffentlicht in: H. Gollwitzer, Christentum/Demokratie/Sozialismus II. Aufsätze zur Politik. Berlin/West 1980. S. 34-44.
[2] Alles Artikel aus dem Grundrechtskatalog.
[3] AaO. S. 37 f.
[4] AaO. S. 42 f.
[5] https://kreuzweg-gorleben-garzweiler.de/2021/07/23/polizei-stoppt-pilgerweg-kreuztraeger-festgenommen/
[6] www.katholisch.de/artikel/30689-kreuzweg-fuer-die-schoepfung-polizei-verbietet-banner-mit-papst-zitat