Die politischen Eliten des Landes lassen sich, von Talk-Show zu Talk-Show unbekümmerter, über Grenzen aus: Obergrenzen, Begrenzungen der Fluchtmigrationen nach Deutschland, intensivere Grenzsicherung an den Außenrändern Europas oder gleich Schließung der deutschen Grenze zum Nachbarland Österreich.
Jetzt müssten gesetzlich auch denen Grenzen gesetzt werden, die unser „Gastrecht“ missbrauchen: den sexuell und kriminell marodierenden Nordafrikanern - aus eigentlich sicheren Herkunftsländern, den bloßen Wirtschaftsmigranten aus Afrika, den Familiennachzüglern und überhaupt allen, die sich nicht ordentlich haben registrieren lassen, um kriminell ihre Identität zu verschleiern. Nur „Grenzen“ scheinen die verlorengegangene Ordnung in der Krise der europäischen Migrationspolitik und die Kontrolle über die Migrationsbewegungen wiederherstellen zu können. Die finanziellen und physischen Grenzen kommunaler Belastbarkeit seien zudem erreicht, so einmütig der Debattierclub. Wer jetzt keine Grenzen zieht, muss sich Gutmensch schimpfen lassen.
Gleich, welche unausgegorenen Grenzpläne sich hinter mimisch besorgten Politikerworten verbergen, der nach Homogenität süchtige Pöbel versteht sogleich. Haben wir, also das „deutsche Staatsvolk“, haben wir uns nicht schon immer kulturell und überdies zivilisatorisch von den anderen, vor allem von den sexistischen Grabschern und Taschendieben, von den religiös unbelehrbaren Fanatikern, von den afrikanischen glückssuchenden Arbeitsmigranten, den bärtigen Terroristen unterschieden, ja, eindeutig abgegrenzt und abgehoben. Folglich: Kulturelle Differenzen wuchern ins Wesensmäßige. Deshalb: Grenzen dicht. Und der Pöbel hilft, wo er kann: Kommentieren, protestieren, provozieren in den sozialen Medien. Aber auch schlagkräftig auf der Straße: Demonstrieren, randalieren, niedersengen und abfackeln. Grenzen ziehen, setzen, markieren, das versteht das gemeine Volk. Im Tanzclub, im Schwimmbad, alles klar, auch Binnengrenzen müssen gezogen werden.
Nur, jenseits aller juristischen Fragen, die Grenzen aller Art nach innen und außen, insbesondere die Obergrenze von Menschenrechten, aufwerfen, wohin mit all den Menschen, die dann keinen Platz zum Überleben in EU-Europa finden, die deportiert, in Sonderlager an Brennpunkten oder in Transitzonen eingesperrt werden? Wo sollen sie bleiben? Die Kriegsflüchtlinge in den Auffanglagern der Vereinten Nationen, in denen nur noch Hungerrationen verteilt werden und eine perspektivlose, verlorene Generation heranwächst? Wohin mit den Klimaflüchtlingen, die keinen international anerkannten Status haben? Wohin mit all denen, die den kapitalistisch betriebenen ökonomischen Verwüstungen in ihren Herkunftsregionen zu entfliehen suchen? Wohin mit den 60 Millionen politisch und kriegerisch Verfolgten, die der UNHCR allein im Vorjahr ausgemacht hat? Wo bleiben sie alle, wenn die deutsch-europäische Politik die Grenzen porendicht schließen will? Im Mittelmeer? Irgendwo auf dem Balkan? In der zu einem Lager degradierten Türkei? Nirgendwo in Afrika? Aus den Augen, aus dem Sinn? Verhungert, verdurstet, ertrunken? Im Elend verreckt? Oder: Gefallen, gefoltert, geschunden in den außereuropäischen Verwüstungszonen?
Wie und mit welchen Mitteln soll die Sicherung der europäischen Außen- und möglicherweise bald auch Binnengrenzen letztlich betrieben werden? Meterhohe Zäune wie in Ceuta und Melilla, europäische Außengrenzen übrigens, die dem Menschen beim Überklettern tiefe, lebensgefährliche Schnittwunden zufügen? Vom möglichen tödlichen Absturz an den meterhohen Grenzbefestigungen ganz zu schweigen. Mit welchem Maß an Gewalt? Mit Tränengas und Wasserwerfern wie im „Sommer der Migration“ auf der Balkanroute? Mit Schlagstöcken und deutschen Schäferhunden? Mit Militär, Polizei und FRONTEX? Was aber, wenn sich die Menschen nicht abhalten lassen zu fliehen und zu migrieren, weil die flucht- und migrationstreibenden Ursachen fortbestehen, und sie die europäischen Grenzen belagern? Gleich wo, ob schon in Europa oder außen vor. Zu wie viel Gewaltmaß werden wir Bürgerinnen und Bürger Europas noch bereit sein, um die europäischen Wohlstandsgrenzen zu verteidigen? Die Volksvertreter geben bekanntlich darauf keine Antwort. Mit Ausnahme der nationalistischen Populisten: die suggerieren die Legitimität des Schießbefehls. Allgemein wird allein vom internationalen Recht geredet, das erlaubt, hoheitliche Grenzen gegen unbefugten Übertritt zu sichern. Die politische Klasse handelt souverän im Sicherheitsinteresse der Bürgerinnen und Bürger, die sie gewählt hat. Sie sucht zugleich fernab staatliche Kollaborateure, die das schmutzig blutige Handwerk des Sicherns erledigen. In der Türkei, in der Sahelzone! Die inzwischen tausenden von Grenztoten im Mittelmeer drücken die Gewissen der Politiker schon lange nicht mehr. Noch mehr Grenzsicherung. Folglich: Noch mehr tote Frauen, Männer und Kinder. Noch mehr abgrundtiefes Elend, noch mehr Gewalt.
Und wir aufgeklärten Bürgerinnen und Bürger wissen doch, oder: könnten zumindest wissen, das ist erst der Anfang globaler Fluchtmigrationen, die in den kommenden Jahren noch anwachsen werden, wenn die europäisch profitabel bewaffneten Konflikte nicht enden; der zerstörerische militärische Interventionismus im Namen von Fortschritt und Demokratie, von Sicherheit und Stabilität in den westlichen Einflusszonen fortbetrieben wird, der zudem ganze Landstriche und Staatengebilde verwüstet und Fluchtbewegungen hervorruft; wenn der Klimawandel ungebremst zur Klimakatastrophe fortschreitet. Oder: Wenn der globalen kapitalistischen Landnahme, Lebensentwertung und Ausbeutung keine Grenzen gesetzt werden - in den wohlhabenden Metropolen zuallererst. Die Wanderungs- und Fluchtbewegungen sind doch Folgen dieser von uns Bürgerinnen und Bürgern zu lange schon mitgetragenen und tolerierten Politik. Die imperiale Lebensweise der militär- und kapitalmächtigen Staaten dieser Welt ist desaströs für den überwiegenden Teil der Menschheit. Sie ist bekanntlich grenzenlos in ihrem Verwertungsdrang, sie treibt dabei die globale Ungleichheit in nie gekannte Dimension voran, die wiederum den Terror der Ausgeschlossenen und Perspektivlosen in unterschiedlich religiösen und ideologischen Gewändern nährt – auf beiden Seiten der Wohlstandsgrenzen, in den Todes- wie in den Zitadellen der Wohlstandszonen.
Werden nur die Grenzen ordentlich gesichert, änderte sich nichts. Das Sterben wird weitergehen. Rassismus in seinen diversen Ausdrucksformen als Legitimation von Ungleichheit und Ausgrenzung wird zu einem fetten Geschwür in Europa, das alsbald alles Humane überwuchern und nationalistische Wege in den Ausnahmezustand bereiten wird. Weitere Grenzhochrüstung, beschleunigte Deportationen, deutsches Lagerland, alle diese anvisierten Lösungen stammen aus dem Arsenal der einfachen, undifferenzierten, der populär schwarz-weißen Scheinlösungen. In dieser existenziellen Auseinandersetzung kann es keine einfachen Lösungen geben. Ein humaner Anfang allein wäre die Durchlässigkeit der Grenzen aufrecht zu erhalten und die Ursachen von Flucht und Migration politisch endlich Schritt für Schritt anzugehen: von der europäischen Handels- bis zur Militärpolitik. Oder, anders ausgedrückt, von den kapitalistischen Grundlagen der Gesellschaft bis hin zu ihren globalen globalisierten Auswirkungen. Nur dann bestünde überhaupt eine Chance, dass sich etwas änderte. Im humanen Sinne. Oder ist die politisch herrschende Einfältigkeit inzwischen alternativlos? Wir Bürgerinnen und Bürger sind gefragt, mehr denn je, den politischen Protest auf die Straßen zu tragen, sich in temporären organisatorischen Zusammenschlüssen zu vereinen und in den Nachbarschaftsinitiativen gemeinsam und solidarisch mit denen, die geflüchtet und migriert sind, lebenswerte Alternativen zu entwickeln.
Abgedruckt in: Graswurzelrevolution Nr. 407, März 2016, S. 7