Innerhalb von zwei Monaten sind Ende 2021 allein in Nordrhein-Westfalen drei junge Männer verstorben, nachdem die Polizei sie in Gewahrsam genommen hatte. Namentlich bekannt ist nur der 25-jährige Georgios Zantiotis, der im Gewahrsam der Wuppertaler Polizei starb. Die drei Polizeimeldungen lesen sich alle ähnlich: Die Polizei sei zu einer Auseinandersetzung gerufen worden, der junge Mann hätte Widerstand geleistet, es seien Alkohol und Drogen im Spiel gewesen, auf der Wache sei der Mann „plötzlich“ kollabiert. Aus „Neutralitätsgründen“ übernehme eine Polizeidienststelle der Nachbarstadt die Ermittlungen.
Jedes Jahr gibt es mehrere dieser Todesfälle in Polizeigewahrsam. Selten wird mehr bekannt als das, was die Polizeimeldungen hergeben. Doch in den letzten Jahren werden die Polizeidarstellung immer öfter hinterfragt, Solidaritäts- und Aufklärungsinitiativen gegründet. So auch im Fall von Georgios Zantiotis: Seine Schwester, bei der Festnahme anwesend, weist die polizeiliche Darstellung zurück, sie habe Streit mit ihrem Bruder gehabt. Sie macht die Brutalität der Polizist*innen für Georgios‘ Tod verantwortlich und stellte Strafanzeige. Doch die Staatsanwaltschaft hat nach rund zwei Monaten die Akten geschlossen, ohne, dass die Todesursache noch die Umstände des Todes zweifelsfrei festgestellt wurden. Die Familie hat Beschwerde eingelegt und sammelt Geld für eine zweite Obduktion.
Die Verweigerung von Ermittlungen und das übereilte Schließen der Akten ist bei Todesfällen in Polizeigewahrsam die Regel. Dabei folgt die behördliche Kommunikation immer demselben Muster: der zu Tode Gekommene sei aggressiv oder bewaffnet gewesen, die eingesetzten Beamt*innen hätten mit dem Tod nichts zu tun. Es handele sich schlicht um einen tragischen Todesfall, ausgelöst durch Drogenkonsum oder Vorerkrankungen. Die vorgebrachten Behauptungen lassen sich zumeist nicht widerlegen. Hinterbliebenen, die Zweifel an der Darstellung hegen, bleibt oft als einzige Möglichkeit, selbst Ermittlungen anzustellen. Doch selbst wenn umfangreiche Unregelmäßigkeiten belegt werden, wie etwa beim Tod des 19-jährigen Qosay Khalaf in Delmenhorst, oder es sich offensichtlich um einen Mord handelt, wie bei Oury Jalloh, wird von staatlicher Seite gemauert.
Dabei sollte jeder Todesfall in Zusammenhang mit staatlichen Behörden bis ins kleinste Detail untersucht werden. Nicht nur, um einen möglichen Vorsatz nachzuweisen, sondern auch, um sämtliche Fälle von rechtswidrigen Ingewahrsamnahmen, von Fahrlässigkeit oder unangemessenen Reaktionsketten zu verbessern - um künftige Todesfälle zu vermeiden. In jeder anderen Situation, etwa bei Betriebsunfällen, ist das Standard – nicht, wenn staatliche Bedienstete beteiligt sind. Warum? Festzustellen ist, dass es keinen Willen zur Transparenz, keinen Aufklärungswillen und erst recht keinen Willen zur Verbesserung gibt. Im Gegenteil: es wird verharmlost, vertuscht und gelogen.
Um diesem Problem zu begegnen, wurde in den letzten Monaten die Forderung immer lauter, unabhängige Ermittlungsstellen einzurichten. Deutschland käme damit zumindest lange angemahnten Menschenrechtsstandards nach. Laut Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen Ermittlungen, die Verletzungen in Polizeigewahrsam untersuchen, unabhängig, angemessen und unverzüglich geführt werden. Sie sollen öffentlicher Kontrolle unterliegen und Opfer und Angehörige einbeziehen. Keine dieser Vorgaben wird aktuell eingehalten.
Einige Bundesländer haben in den letzten Jahren vom Landtag berufene Polizeibeauftragte eingesetzt. Der Bund will laut Ampelkoalitionsvertrag nachziehen. Doch die Hoffnung, damit ließe sich auch adäquat auf Todesfälle in Gewahrsam reagieren, ist naiv. Keine der Stellen wurde explizit eingerichtet, um solche Fälle aufzuklären. Vielmehr sollen sie laut Gesetz den „Dialog zwischen Polizei und Bürger*innen“ fördern. Die bisherigen Stellen sind zudem prekär ausgestattet, haben keine eigenen Ermittlungsbefugnisse und sind in ihrer institutionellen Verankerung weit entfernt von zivilgesellschaftlichen Akteuren, insbesondere von stark betroffenen Gruppen wie Asylsuchenden, migrantisierten Personen, Obdachlosen und Menschen in psychischen Ausnahmesituationen.
Erfahrungen in Großbritannien, wo über Jahrzehnte verschiedene Formen unabhängiger Ermittlungsstellen eingesetzt wurden, zeigen zudem, dass auch besser ausgestattete Stellen selten zur Aufklärung von Todesfällen beitragen und erst recht keine strukturellen Verbesserungen anstoßen, um Todesfälle zu verhindern. Um zu erreichen, dass weniger Menschen in Polizeigewahrsam sterben, braucht es deshalb dringend weitergehende Überlegungen. Mit der Forderung nach unabhängigen Beschwerdestellen ist es keinesfalls getan.