31. Okt. 2024 © Umbruch Bildarchiv © catwithanicecamera
(Anti-)Rassismus / Abolitionismus / Klimakrise & Klimaschutz / Menschenrechte / Seenotrettung

Umkämpftes Terrain für das Recht auf Leben. Fluchtweg zentrales Mittelmeer

Die italienische Regierung unter Giorgia Meloni von der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia war im Herbst 2022 angetreten, die Migration nach Italien signifikant zu senken. Mit über 150.000 Ankünften an den italienischen Küsten im Jahr 2023 – statt 100.000 im Jahr zuvor – machten die Flüchtenden Melonis Plänen allerdings einen Strich durch die Rechnung.

Italien erreichen die meisten Flüchtenden von Libyen und Tunesien aus; Letzteres fungiert seit ein paar Jahren ebenso wie Libyen als Transitland auf dem Weg nach Europa, unter anderem für Menschen aus den Ländern Westafrikas. Der Anteil der zivilen Seenotrettung an den Ankünften in Italien betrug 2023 wie gewöhnlich unter 10 Prozent. Dabei ist die Rettungsflotte im Zentralen Mittelmeer mit insgesamt 20 kleinen bis großen Schiffen aktuell so groß wie nie zuvor. Trotz der faktisch niedrigen Rettungsquote ist die zivile Flotte ein Hauptziel staatlicher Repression. Denn die zivilen Akteure skandalisieren die illegalen Praktiken des EU-Migrationsregimes gegen Menschen auf der Flucht und positionieren sich öffentlich gegen das Migrationsregime und für eine solidarische Gesellschaft der Vielen und für Bewegungsfreiheit für alle Menschen.

Mit dem Anfang 2023 von Meloni eingeführten „Piantedosi-Dekret“ hat Italien ein effektives Mittel zur Behinderung der zivilen Seenotrettung gefunden: Nach einer Rettung muss unverzüglich ein zugewiesener Hafen auf dem italienischen Festland angesteuert werden – vorgeblich, um die Auffangzentren Siziliens zu entlasten, und damit Gerettete so schnell wie möglich an Land kommen. Allerdings liegen etwa die nördlichsten Häfen von Ravenna oder Genua weit über 1.000 Kilometer entfernt, jede Fahrt kostet mehrere Tage und hohen Treibstoffverbrauch. 

Währenddessen ist ein Schiff als Rettungsschiff faktisch außer Betrieb gesetzt. Bei Nichtbefolgen drohen Bußgeld und Festsetzung. Die Strafen scheinen von den italienischen Behörden äußerst willkürlich verhängt zu werden, sie hängen wie ein Damoklesschwert über jedem Einsatz, bei dem jede Rettungsoperation potentiell Sanktionen nach sich ziehen kann. Teilweise können erfolgreich Rechtsmittel eingelegt werden und es werden Wege gesucht, das Dekret irgendwann als Ganzes zurückzudrängen.

Ob sich die Pläne für das angekündigte Lager im EU-Beitrittskandidaten Albanien auf die zivile Seenotrettung auswirken werden, bleibt abzuwarten. Laut Vorgabe sollen durch die zivile Rettungsflotte Gerettete zwar nicht in Albanien interniert werden, sondern nur solche von der italienischen Küstenwache. Allerdings könnte diese Regelung umgangen werden, indem Gerettete von den NGO-Schiffen noch auf See an Schiffe der italienischen Küstenwachen übergeben werden müssen und die zivile Seenotrettung ungewollt zur perfiden Drittstaatenlösung beitragen müsste.
 

Tödliche Repression in Tunesien
 

Parallel zur Migrationsabwehr auf See hat sich eine brutale Praxis zu Land entwickelt: Im Februar 2023 hatte der tunesische Autokrator Kais Saied eine Jagd auf Schwarze Menschen initiiert und diese, begleitet von rassistischen Hetzreden, für vogelfrei erklärt. Schwarze Menschen dürfen in Tunesien seitdem keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, an sie dürfen weder Zimmer vermietet noch Arbeit vermittelt werden, sie dürfen kein Bankkonto führen und jegliche solidarische Unterstützung wird repressiv verfolgt. Dies macht sich die EU zunutze: Für einen Milliardendeal versprach Tunesien Italien im Sommer 2023, Menschen aus den westafrikanischen Staaten von nun an von Italien fernzuhalten. Dazu rüsten die EU-Staaten aktuell die tunesische Küstenwache auf.

Als Folge sind die Ankünfte aus Tunesien im Sommer 2024 im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückgegangen (Stand Ende August). Die tunesischen Behörden greifen zu brutalen Mitteln: Geflüchtete werden entweder direkt auf den Straßen Tunesiens aufgegriffen oder auf dem Meer gestoppt, wenn sie versuchen, auf roh gebauten eisernen Booten zu entkommen. Wieder zurück an Land, werden sie in den tunesischen Grenzgebieten zu Algerien und Libyen in der Wüste ausgesetzt, ihre Handys konfisziert und sie sich selbst überlassen. Tunesien rühmt sich damit, allein in diesem Jahr knapp 30.000 Menschen aufgehalten zu haben, die Anzahl der Deportierten und Verdursteten ist unbekannt. Die deutsche Bundespolizei und der Thinktank ICMPD unterstützen das Land mit 13,5 Millionen Euro bei Überwachung, dem Abfangen der Boote und den Deportationen. Die Skandalisierung dieser Praktiken und insbesondere der deutschen Beteiligung an ihr haben bislang nicht dazu geführt, diese zu ahnden oder gar zu beenden. Im Gegenteil arbeitet die deutsche Regierung an einem Abschiebeabkommen mit Tunesien.
 

Abolish Frontex


Nach der Rekordzahl von Ankünften auf der italienischen Insel Lampedusa im September 2023 beschrieb die Europäische Grenzschutzpolizei Frontex ihre Mission so ehrlich wie sonst selten: Gegen die irreguläre Migration würde sie ihre Flugstunden über dem zentralen Mittelmeer verdoppeln. Ihre Überwachungsflüge, um Boote auf dem Weg nach Europa aufzuspüren, werden sonst gern als humanitäre Einsätze geschönt. Deren Drohnen und Flugzeuge übermitteln täglich Informationen in Echtzeit an die als Grenzschutz für Europa fungierenden Küstenwachen von Libyen und Tunesien, um Boote auf dem Weg nach Europa aufzuspüren und die fliehenden Menschen zurück zu zwingen. Dies sind die sogenannten Pushbacks, eine illegale Praxis, die nicht nur im zentralen Mittelmeer, sondern an sämtlichen EU-Außengrenzen inzwischen Alltag sind.

Immer wieder kommt es zu Schiffsunglücken, weil Küstenwachen im Ernstfall nicht eingreifen. Wird ein Boot von den Behörden als „irreguläre Migration“ eingeordnet und nicht als „Seenotfall“, werden die Menschen darin sich selbst überlassen – mit oft tödlichen Folgen. Dazu kommt, dass die Such- und Rettungszonen (SAR-Zonen) vermehrt wie Nationalgebiete behandelt werden: In der libyschen SAR-Zone weisen staatliche Akteure wie Italien und Malta nämlich jegliche Verantwortung für Menschen auf der Flucht in Seenot von sich, während die sogenannte libysche Küstenwache das Areal als ihren Herrschaftsbereich betrachtet und dort sogar NGO-Schiffe mit Waffen angreift. Dieses nicht rechtmäßige Verhalten bleibt ebenso ohne Konsequenzen wie deren Aktivitäten tief in der „europäischen“ SAR-Zone von Malta: Dortige Pushbacks nach Libyen werden geduldet bzw. aktiv unterstützt.

Am 26. Oktober 2024 feierte Frontex sein 20-jähriges Bestehen. Seit der Gründung 2004 als Agentur der Europäischen Union hat Frontex einen erschreckenden Aufstieg zurückgelegt. Ihre Aufgaben und Mittel wurden in mehreren Schritten erheblich erweitert. Mit der von den EU-Mitgliedsstaaten als „Flüchtlingskrise“ benannte Krise des Flüchtlingsschutzes im Jahr 2015 beschloss die Europäische Kommission eine Verschärfung ihres Migrationsregimes. Teil davon waren die Umstrukturierung und Ausweitung des Frontex-Mandats. Eine stehende Armee mit perspektivisch 10.000 Einsatzkräften als „ständige Reserve“ bewacht inzwischen die Grenzen der EU-Mitgliedstaaten und soll Abschiebungen aus der EU verstärken. Das Frontex-Budget ist rasant gewachsen: von 6 Millionen Euro im Jahr 2005 bis 754 Millionen Euro im Jahr 2022.

Zwar ist der ehemalige Frontex-Direktor Fabrice Leggeri nicht mehr im Amt und sitzt inzwischen für die französische rechtsextreme Partei „Rassemblement National“ im EU-Parlament. Aber auch unter seinen Nachfolgern hören die skandalösen Menschenrechtsverletzungen nicht auf. Seit Beginn gab es Vorwürfe gegen Frontex über gewalttätige Übergriffe, Pushbacks und andere Menschenrechtsverletzungen, an denen ihre Beamt*innen direkt beteiligt oder zumindest anwesend sind. Eine wirksame Kontrolle der EU-Agentur ist rechtlich nicht vorgesehen. Als Dienstleisterin für die EU-Mitgliedsstaaten kann Frontex nur indirekt für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden, eine unklare Kompetenzverteilung zwischen Frontex und den Mitgliedsstaaten führt zu einem Haftungsvakuum. Frontex scheint nicht zu stoppen zu sein.

Ganz im Gegenteil, ihr Vorgehen ist akzeptiert und gewollt: Migration nach Europa wird allein als Bedrohung deklariert, kriminalisiert und mit allen Mitteln bekämpft. Die Anforderungen der EU-Staaten an ihre Grenzschutz-Agentur Frontex ist die Sicherung des Wohlstands und der imperialen Lebensweise der EU-Bevölkerung unter Aufrechterhaltung des postkolonialen Machtgefälles gegenüber dem Globalen Süden – notfalls mit massiver Gewalt, auch wenn dies im eklatanten Widerspruch zu den Menschenrechten steht. Gegen Frontex kämpfen unter anderem Aktivist*innen wie das transnationale Bündnis „Abolish Frontex“ aktionistisch und „Front-Lex“ und andere auf rechtlichem Weg.

Auf See wird das Migrationsregime derweil täglich ganz praktisch geschlagen: Auf neuen Routen wird der Luftüberwachung von Frontex und den Menschenjägern der libyschen Küstenwache einfach ausgewichen. Die unaufhörliche Aufrüstung des Grenzregimes hat allerdings ihren Preis: Sie führt zu mehr Leid und mehr Sterben für Menschen auf der Flucht.

Der sich immer weiter entfesselnde rassistische Angriff auf Fluchtbewegungen nach Europa wird uns noch mehr Solidarität und Standvermögen abverlangen als bisher. Doch so lange es Migration gibt, wird es auch solidarische Strukturen von unten geben, und das sollte uns ein Ansporn sein.

Der Beitrag ist erschienen im Friedensforum 6 / 2024 mit dem Schwerpunkt Flucht und Migration