Die Kommentare überschlagen sich. Was bedeuten die Veränderungen der Frontstellungen im türkisch-kurdisch-islamistischen und US-amerikanischen Verhältnis? Hier einige Thesen:
- Der gegenwärtig oft zitierte türkisch-kurdische Friedensprozess war von türkischer Seite vorrangig ein taktisches Mittel, um vor den Wahlen Stimmen für die Regierungspartei AKP zu werben. Nach den Wahlen wurden Versprechen nicht eingelöst oder nicht weiter verfolgt. PKK-Führer Abdullah Öcalan, der sich stark für einen Prozess der Aussöhnung zwischen Türken und Kurden auch in Gesprächen mit Repräsentanten aus Ankara einsetzte, wurde so desavouiert. Die Ermordung von zwei türkischen Polizisten einer Spezialtruppe durch PKK-Kämpfer dürfte nicht in seinem Sinne gewesen sein, war dies doch eine Steilvorlage für Erdogan, um der PKK die Schuld für die Beendigung des Friedensprozesses in die Schuhe zu schieben. Zeigt sich hierin ein Abklingen seines Einflusses in der PKK, die von seiner Friedenspolitik enttäuscht ist?
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Während der Zeit des sogenannten türkisch-kurdischen Friedensprozesses hat Ankara in den Gebieten, aus denen sich die PKK zurückgezogen hatte, viele militärische Stützpunkte aufgebaut und dorthin erhebliche Truppen verlegt. Dies konnte nicht als ein Anzeichen für eine friedliche Lösung gedeutet werden. – Erdogan hatte die Vormacht des türkischen Militärs im Nationalen Sicherheitsrat gebrochen und viele Generäle unter dem Vorwand der Vorbereitung eines Militärputsches verhaften und anklagen lassen. Verurteilungen wurden ausgesprochen – ein bis dahin unvorstellbarer Vorgang! Mit der Zuspitzung der Verhältnisse im Konfliktbereich Türkei-Kurden-Syrien-Irak wurden jedoch diese Urteile aufgehoben und die hohen Offiziere rehabilitiert. Das deutete auf ein neues Bündnis der AKP-Regierung mit dem Militär, deren Gewaltpotentiale gebraucht werden sollten.
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Seit langer Zeit hat Ankara den Kampf des IS in Syrien und Irak unterstützt. Die Türkei war die Rückzugsbasis und der Nachschubhafen für den IS. Als der IS den syrisch-kurdischen Ort Kobane angriff, hinderte die Türkei den Nachschub und die humanitäre Hilfe für die kurdischen Verteidiger und ließ die IS-Angreifer gewähren. Ankara verweigerte den USA die Nutzung des viel näher gelegenen türkischen Flughafens Irkcilik für ihre Kampfflugzeuge gegen die Truppen des IS, wohl wissend, dass die Schlagkraft der US-Jets von fernen Flugzeugträgern aus erheblich geschwächt würde. Dabei gehören die Türkei wie auch die USA der NATO an. Ankara nahm also mit seiner Politik bewusst einen Konflikt mit den USA auf.
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Die aktuelle Politik Ankaras hat nun eine drastische Wende vollzogen. Der Konflikt mit den USA wurde durch den Tausch Irkcilik-Nutzung durch die US-Bomber gegen US-Zustimmung zur türkischen Bombardierung der PPK im Irak entschärft. Der IS wurde als Terrorist eingeordnet, Angriffe auf die syrischen Autonomiegebiete (Rojava) der Kurden wurden begonnen und in der Türkei vermutliche IS-Anhänger sowie PKK-verdächtige Kurden inhaftiert. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat den Friedensprozess mit den Kurden offiziell abgebrochen. "Es ist nicht möglich, einen Lösungsprozess fortzuführen mit denjenigen, die die Einheit und Integrität der Türkei untergraben", sagte er nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu. Politiker mit Verbindungen zu terroristischen Gruppen sollten ihre Immunität verlieren und juristisch belangt werden. Er zielt damit offenbar auf Abgeordnete der prokurdischen HDP. Weiter sagte Erdoğan, die Türkei werde ihren Militäreinsatz gegen Stellungen der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien und PKK-Lager im Nordirak "mit Entschlossenheit" fortsetzen.
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Ich kann nicht NSA-mäßig in die Köpfe, Dokumente und Amtsstuben der türkischen Regierung schauen, um die Wende in der türkischen Politik zu deuten. Einige wichtige Momente liegen jedoch nahe. Die jüngsten Parlamentswahlen in der Türkei haben Staatspräsident Erdogan nicht die erwünschte Mehrheit gebracht, um eine autoritäre Präsidentschaft durch Veränderung der Verfassung zu ermöglichen. Die AKP kann sogar nicht mehr ohne Koalitionspartner regieren. Wenn bis Mitte August keine Koalition gebildet sein sollte – und danach sieht es aus – kann der Präsident Neuwahlen innerhalb 45 Tagen ausschreiben. Da die kurdisch dominierte HDP bei den jüngsten Wahlen die 10%-Hürde mit 13% weit übersprungen und damit die Mehrheitsverhältnisse zu Ungunsten der AKP verschoben hatte, geht es für Erdogan bei Neuwahlen darum, die HDP so weit zu schwächen, dass sie unter die 10%- Marke fällt. Die ständige Diffamierung der PKK und damit auch der HDP dient diesem Ziel ebenso wie die Luftangriffe auf die PKK in Irak.
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Die bisherige Politik Ankaras im syrisch-irakischen Konfliktbereich zielte meines Erachtens darauf, in den möglicherweise zerfallenden Staaten Irak und Syrien eine hegemoniale Rolle als regionale Vormacht unter islamischen Vorzeichen zu erreichen. Vermutlich glaubte Ankara sich mit dem IS auf eine solche Rollenverteilung verständigen zu können. Das hätte auch seine Position gegenüber dem Westen und insbesondere gegenüber der EU gestärkt. Ein wichtiges Element bei der Neuorientierung der türkischen Politik dürfte nun die Erkenntnis in Ankara sein, dass der IS keineswegs bereit ist, sich einer türkischen Oberherrschaft einzuordnen und dem Anspruch des Kalifats zu entsagen. Es gab schon früher den Vorfall, dass türkische Beamte von dem IS festgenommen und erst nach relativ langwierigen Verhandlungen freigelassen wurden. Man versuchte damals, dieses Ereignis herunterzuspielen. Der jüngste IS-Anschlag im türkischen Suruc, bei dem 32 junge Menschen starben, die sich auf die Mithilfe beim Wiederaufbau Kobanes vorbereiteten, lässt sich nicht mehr unter den Tisch kehren. Das war ein deutlicher Affront gegen Ankara und dürfte dort auch so verstanden worden sein.
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Dem türkischen Vormachtstreben standen und stehen auch entgegen, dass die USA ein islamistisches Herrschaftsgebiet mit weit ausstrahlender Dynamik bis in andere Regionen (z. B. Afrika) offensichtlich nicht hinnehmen wollen, wie ihr militärischer Einsatz in Irak und Syrien zeigt. Dabei stützen sich die USA auf kurdische Kräfte in Irak und Syrien, die gegen den IS als Bodentruppe der USA kämpfen und damit tendenziell aufgewertet werden. Das stärkt in der Türkei – ob zu Recht oder zu Unrecht – die Befürchtung, die Kurden könnten näher zusammenrücken und separatistische Bestrebungen sich verstärken. In diesem Zusammenhang lassen sich die jüngsten Luftangriffe auf das Gebiet von Rojava, dem kurdisch-syrischen Autonomiegebiet, erklären. Es soll keine kurdische Selbständigkeit in Syrien entstehen. Gleichzeitig könnte im geeigneten Zeitpunkt ein wichtiger Grenzstreifen Syriens durch das türkische Militär kontrolliert werden und dadurch Einfluss auf die Gestaltung der syrischen Entwicklung genommen werden. Die Angriffe auf PKK-Stellungen in den irakisch-kurdischen Kandilbergen und die korrespondierenden Diffamierungen aus Ankara dürften nur die Begleitmusik zu der Beendigung des angeblichen Friedensprozesses sein. Die USA waren bereit, im Austausch für die Nutzung des türkischen Flughafens in Irkcilik, diese Angriffe zu billigen.
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Ankara hat seit fast hundert Jahren die Aussöhnung mit dem einstigen „Brudervolk“ der Kurden im nationalen Freiheitskampf der Türkei gegen die Siegermächte des ersten Weltkrieges versäumt. Stets wurden nur Gewalt, Repression und Zwangsassimilierung eingesetzt. Die heute oft genannte Zahl von 40.000 Toten durch den Kampf zwischen Ankara und der PKK sind zum weit überwiegenden Teil auf das Konto Ankaras zu verbuchen. Die Chance, eine Politik der Aussöhnung zu betreiben, erschien in jüngster Zeit möglich, wurde jedoch nicht ergriffen, obwohl vermutlich hierin die Chance besteht, der gegenwärtigen Sackgase der türkischen Politik zu entrinnen. Deutsche Politik und andere aus der EU appellieren zwar an Ankara, die Friedenspolitik gegenüber den Kurden wieder aufzunehmen, doch ohne Überzeugungskraft, bezeichnen doch auch sie die PKK nach wie vor als Terroristen und fördern nicht die Dialogbereitschaft.