Von Oktober 2019 bis Dezember 2020 wurden Teile des Dannenröder Waldes, in Mittelhessen zwischen Kassel und Marburg gelegen, von hunderten Aktivist:innen besetzt, um den Weiterbau der Autobahn A49 zu verhindern.
Ständig lebte eine wechselnde Zahl von Aktivist:innen, zu denen ich zeitweise gehörte, in ca. 100 Baumhäusern und verschiedenen Baumhausdörfern, sogenannten ›Barrios‹. Ziel war es, das zutiefst klimaschädliche Transport- und Verkehrsprojekt zu verhindern, das in Zeiten des Klimakollaps der nötigen Mobilitätswende diametral entgegensteht. Anwohner:innen protestieren bereits seit 40 Jahren gegen den Autobahnbau.
Dieser würde zwei wertvolle Wälder zerschneiden, davon einer ein Fauna-Flora-Habitat-Schutzgebiet, und könnte die Trinkwasserversorgung von 500.000 Menschen gefährden.[1] Selbst die Genehmigung des Baus kam durch Verfahrensfehler zustande.[2] Besonders vor dem Hintergrund, dass 40 Prozent der hessischen CO2-Emissionen dem Verkehr entspringen [3], erscheint der Bau der A49 irrational und ungerecht, da die Entwicklungen im hessischen Verkehrssektor die selbstgesteckten Ziele zum Erreichen der Klimaneutralität massiv bedrohen.
Die Besetzung hat versucht, sich gegen diese Politik zu wehren und im Dannenröder Wald (auch liebevoll „Danni“ genannt) einen emanzipatorischen Freiraum und Ort des Austauschs geschaffen, der ein Symbol für eine klimagerechte Verkehrswende war und immer noch ist. Von Oktober bis Dezember 2020 ließ die schwarz-grüne Landesregierung den Wald durch einen massiven Polizeieinsatz räumen.
Strukturelle Polizeigewalt?!
Zentral in der Debatte während der Räumung war die Frage der Polizeigewalt. Kathy Walter, Sprecherin für Straßenbau und Lärmschutz der hessischen Grünen, äußerte sich in einer Landtagsdebatte am 10. Dezember 2020 zur Räumung des Dannenröder Waldes wie folgt:
„Strukturelle Polizeigewalt hat es im Dannenröder Forst nicht gegeben. Wer dieses Bild stellt und in den sozialen Medien verbreitet, lügt und hat andere Motivationen als den Schutz der Wälder, die Verkehrswende oder die Einhaltung der Pariser Klimaziele. Dem geht es um den Kampf gegen unseren Rechtsstaat und für eine andere Gesellschaft“.[4]
Viele Stimmen aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, bis hin zu NGOs und parlamentarischen Beobachter:innen, widersprechen dieser Darstellung und kritisieren das Handeln der Justiz, der Politik und der Polizei massiv. Doch was bedeutet „strukturelle Polizeigewalt“?
Nach Johan Galtung ist strukturelle Gewalt „die Form von Gewalt, die in der Gesellschaft systemisch wirkt und durch die menschliche Grundbedürfnisse in der Weise beschränkt werden, dass die potenzielle Entfaltung der Individuen eingeschränkt ist.“[5] Viele Berichte, Aufnahmen und Dokumentationen belegen, dass es im Sinne dieser Definition bei der Räumung des Dannenröder Walder strukturelle Polizeigewalt gegeben hat – auch der Bericht der parlamentarischen Beobachter:innen zeigt dies klar.
Erfahrungen aus dem Wald
Um diese These zu belegen und anschaulich zu machen, werde ich hier von meinen Erfahrungen im Wald berichten. Während der Räumung hat die Polizei immer wieder ihr Motto „Sicherheit vor Schnelligkeit“ gepredigt, die Einsatzrealität war allerdings eine andere. Es wurde zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche geräumt.[6] Das hat für uns bedeutet, morgens um fünf aufzustehen, den ganzen Tag in der Kälte ohne die Möglichkeit zu pinkeln in Blockadestrukturen zu sitzen, nachts die durch die Polizei ausgeübte Zerstörung zu beseitigen und darauf zu hoffen, dass unsere Freund:innen unverletzt aus der GeSa (Gefangenensammelstelle) kommen.
Die Fällungsarbeiten sind zudem systematisch zu nah an Aktivist:innen durchgeführt worden, weil es entgegen des Mottos „Sicherheit vor Schnelligkeit“ für sinnvoll erachtet wurde, gleichzeitig zu räumen und zu roden. Das bedeutete, dass in nächster Nähe zu uns gearbeitet und kein Sicherheitsabstand eingehalten wurde. In diesem Zusammenhang kam es auch zu einem schweren Pendelsturz, bei dem eine Person verletzt worden ist.[6]
Außerdem war das polizeiliche Verhalten, je nach An- oder Abwesenheit parlamentarischer Beobachtung, sehr ambivalent.[6] Während der Räumung waren wir hauptsächlich an den Rodungskanten und sind morgens von mehreren Hundertschaften gekesselt worden. Im Rest des Waldes war es dementsprechend leer. Das hat die Polizei sich zunutze gemacht und Exkursionseinheiten losgeschickt, die ohne Begleitung von parlamentarischen Beobachter:innen und Presse loszogen, um in anderen Baumhausdörfern, die zwar auf der geplanten Autobahn-Trasse, aber noch nicht an der Rodungskante lagen, Strukturen zu zerstören und wahllos Leute zu verhaften.[6]
In Abwesenheit parlamentarischer Beobachtung sind auch zwei Menschen von den Cops besonders schwer verletzt worden.[6] Einmal wurde ein tragendes Seil einer Blockadestruktur von einem Cop durchgeschnitten, ein anderes Mal wurde so lange auf einem Seil herum getrampelt, bis es riss. Zwei Menschen sind aus mehreren Metern Höhe abgestürzt und haben sich dabei Wirbel gebrochen [6].
Zufall, Unfall oder doch Absicht? In Anbetracht der Tatsache, dass überall im Wald Warnschilder hingen, die das Durchtrennen von Seilen als lebensgefährlich kennzeichneten, und beim zweiten Vorfall trotz Rufen nicht reagiert wurde, scheint die Frage diskutabel. Besonders vor dem Hintergrund der Auflösung des SEK Frankfurt wegen rechtsextremer Umtriebe [7], welches maßgeblich an der Räumung beteiligt war, hinterlassen die dokumentierten Verletzungen einen faden Beigeschmack. (Rechtsextreme) Polizeigewalt gegen linken Protest hat in Deutschland eine traurige Kontinuität.
Die genannten Ereignisse sind nur ein kleiner Ausschnitt der Gewalt, die wir tagtäglich erfuhren. Wie die Polizei beispielsweise systematisch Leute auf dem Weg zum Danni, teilweise sogar schon in Frankfurt abgefangen hat [8,9], kann hier wegen des Umfangs nicht beleuchtet werden. Die Waldbesetzer*innen gingen sogar dazu über, Konstruktionspläne zu veröffentlichen und so strategische Nachteile zu riskieren, um weitere Verletzungen zu vermeiden.[10] Vielleicht hätten auch die Unfälle bei der Räumung vermieden werden können, wenn uns einfach mal eine Pause gegönnt worden wäre. Die Rodungen wurden im Dezember 2020 und damit drei Monate vor Ende der Rodungssaison, die bis Ende Februar geht, beendet. Mehr Zeit für mehr Sicherheit wäre geblieben.
Harter Umgang mit Blockierenden
Die Räumung des Danni kann nicht ohne die Autobahnblockaden, die sich mit der Besetzung solidarisiert haben, analysiert werden, weil diese heftigst diskutiert worden sind und politische und rechtliche Konsequenzen nach sich zogen, die die Klimagerechtigkeitsbewegung als Ganze betreffen. Im Rahmen der ersten Autobahnblockade am 6. Oktober 2020 auf der A5 bei Reiskirchen hat die Staatsanwaltschaft Gießen ein strafrechtliches Gutachten erstellt, das argumentiert, die Blockade habe keinen strafrechtlich relevanten Tatbestand erfüllt.[11]
Bei der zweiten Blockade eine Woche später, am 13. Oktober 2020 auf der A3 bei Idstein, kam es leider zu einem schweren Auffahrunfall am Stauende. Viele Stimmen haben hierzu kontroverse Positionen ausgetauscht, unter anderem auch die Polizei, die auf Twitter direkt nach dem Unglück eine kausale Verknüpfung zwischen der Blockade und dem Unfall hergestellt hat.[12]
Die Aktivist:innen der drei darauffolgenden Autobahnblockaden am 26. Oktober auf der A3, der A5 und der A661 sind vom Amtsgericht Frankfurt in Untersuchungshaft genommen worden[13] und saßen teils monatelang im Knast.[14] Dies ist ein absolutes Novum – bis dato waren keine U-Haft-Fälle im Zusammenhang mit Verkehrsblockaden bekannt. Die gerichtlichen Beschlüsse zur U-Haft werden aus dem Kreise der Aktivist:innen als konstruiert und politisch motiviert kritisiert.[15]
Pikant ist außerdem, dass der hessische Innenminister Peter Beuth, ehemaliger rechtspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion und von Beruf Rechtsanwalt, in einem FAZ-Interview die Blockaden als „schwere Straftaten“ und „gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr“[16] einordnet und auch justizielle Abschreckung ins Spiel bringt: „Wie hart so eine gefährliche Aktion dann bestraft wird, um auch abzuschrecken, […] ist eine Frage für die Justiz.“[16] Beuth widerspricht hier ohne eine Begründung dem strafrechtlichen Gutachten der Gießener Staatsanwaltschaft und kriminalisiert wissentlich Menschen, um der Bewegung weitere Unterstützung zu entziehen.
Strukturelle Repression!
Wie die hessischen Grünen auf die Idee kommen, wir würden lügen, wenn wir von struktureller Polizeigewalt sprechen, haben sie noch nicht beantwortet. Vielmehr stellt sich die Frage, ob diese Aussage nicht vorgeschoben ist, um die Bewegung zu delegitimieren und zu spalten, den Diskurs politisch zu lenken, Fehler zu vertuschen und die eigene Position zu stärken.
Es ist zwar anzuerkennen, dass die A49 im Bundesverkehrswegeplan und durch die verschiedenen Gerichtsurteile ihre rechtliche Grundlage hat. Im Konflikt um den Danni haben es die Grünen vermieden, klar Position zu beziehen, ihre realen parlamentarischen Möglichkeiten für eine Überprüfung des Baus auf Klimafolgewirkungen nicht genutzt und autoritäre Argumentations- und Handlungsmuster ihrer Koalitionspartnerin übernommen.
Die Rodungen in dieser Form durchzuführen war kein „notwendiges Übel“, dem sich die Grünen nicht erwehren konnten, sondern eine politische Entscheidung, an deren Umsetzung sie aktiv mitgewirkt haben. Sie haben sich aus Angst vor der Konfrontation mit der CDU dazu entschieden, die Bewegung, als deren parlamentarischer Arm sie sich selbst verstehen, wortwörtlich aus dem Wald zu prügeln. In ihren machtstrategischen Überlegungen haben sie sich gegen ihre (zumindest in den Anfängen der Partei) ureigenen Werte und für das Wohlwollen einer bürgerlich-konservativen Mehrheitsgesellschaft entschieden.
Was wir im Danni erlebt haben, war meines Erachtens mehr als strukturelle Polizeigewalt. Es war viel mehr strukturelle Repression. Nicht nur die Polizei hat systematisch Freiheiten beschränkt, vielmehr haben hier alle staatlichen Apparate und große Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit zusammengearbeitet. Eine repressive Politik hat die systematisch gewalttätige Polizei geschützt. Die Justiz muss sich vorwerfen lassen, politisch geurteilt zu haben. Konservative Leitmedien haben das alles bejubelt.
Was soll die Verhinderung demokratischer Teilhabe und Debatte anderes sein als strukturelle Repression? Die hessische Polizei und Politik muss sich diesem Missstand stellen und endlich transparent mit ihren Fehlern umgehen und akzeptieren, dass (staatliche) Gewalt immer einer Rechtfertigung bedarf und durch die Verweigerung von Diskurs die eigene Position delegitimiert wird.
Letztendlich hat die Besetzung für eine lebenswerte, friedliche Zukunft für alle gekämpft, in der nicht-menschliches Leben genauso geachtet wird, wie menschliches. Dafür wurden wir mit massivster Repression und Gewalt überzogen und mussten tagtäglich damit rechnen, dass wieder ein Mensch abstürzt.
Nicht wenige haben sich die Frage stellen müssen: Bin ich bereit für den Wald und eine klimagerechte Welt schwer verletzt zu werden oder gar zu sterben? Dieser psychische Druck und die Angst haben wohl verhindert, dass viele Menschen ihr demokratisches Recht nutzten, sich gegen den Bau der Autobahn zu wehren und die Rodungen zu blockieren.
Was bedeutet das für die Klimagerechtigkeitsbewegung? Die Bewegung muss sich fragen, ob Waldbesetzungen so noch durchführbar sind. Wie können wir den Widerspruch lösen, uns gleichzeitig gegen staatliche Repressionsstrukturen wehren zu wollen, aber bei einer Räumung der Polizei unsere körperliche Unversehrtheit anzuvertrauen und unsere Leben in ihre Hände legen zu müssen? Außerdem sollte sie über ihr Verhältnis zu den (hessischen) Grünen nachdenken. Solidarisch mit der Bewegung oder gar Verbündete in einem Kampf für eine klimagerechte Welt waren sie im Danni jedenfalls nicht.
Quellen
1: Hessenschau (2020): Wie gefährlich wird der A49-Ausbau für das Grundwasser? - URL: https://www.hessenschau.de/gesellschaft/wie-gefaehrlich-wird-der-a49-ausbau-fuer-das-grundwasser,grundwasser-autobahn-mittelhessen-100.html?fbclid=IwAR15a06VTMQjElmXA_uUkRwmEt36ziK12AmnFNk3rKZiAkmZGu3qBlntWqo [letzter Zugriff 02.03.2021]
2: Forst, R. (2020): 11A 49 und “zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses”- URL: https://a-49.de/wp-content/uploads/2020/10/2020-10-22-A-49-und-zwingende-Gruende-mit-Quellen-angaben.pdf [letzter Zugriff: 10.05.2021]
3: Hessisches Statistisches Landesamt (2020): Nachhaltigkeitsstrategie Hessen. Ziele und Indikatoren. Fortschrittsbericht 2020. Wiesbaden. S. 100.
4: Hessenschau (2020): Katy Walther (Grüne): “Die Polizei hat im Dannenröder Forst viel geleistet“. Film. – URL: https://www.hessenschau.de/politik/landtag/landtagsvideos/katy-walther-gruene-die-polizei-hat-im-dannenroeder-forst-viel-geleistet,video-139140.html [letzter Zugriff: 05.01.2021]
5: Hidebrandt R. & S. Lück-Hildebrandt (2019): Herrschaft und Beherrschung- Hegemoniale Formationen – Strukturelle Gewalt in der Gesellschaft. Reihe Politikwissenschaft. Band 83. Tectum Verlag. S. 2.
6: Leidig, S. & M. Frauenlob (2020): „Sicherheit vor Schnelligkeit“ – eine zweifelhafte Losung. -URL: https://www.nachhaltig-links.de/index.php/strasse-individualverkehr/2122-danni-polizeieinsatz [letztre Zugriff: 22.03.2021]
7: Tagesschau (2021): Frankfurter SEK wird aufgelöst. – URL: https://www.tagesschau.de/inland/sek-frankfurt-rechtsextreme-chats-aufgeloest-101.html [letzter Zugriff:26.07.2021]
8: Dannenröder Waldbesetzung (2020): „Anlasslose ID-Kontrollen“ – eine Ergänzung. -URL: https://waldstattasphalt.blackblogs.org/2020/11/19/anlasslose-id-kontrollen-eine-ergaenzung/ [letzter Zugriff: 23.03.2021]
9: Dannenröder Waldbesetzung (2020): Politisches Engagement kann zu willkürlichen Kontrollen führen. – URL: https://waldstattasphalt.blackblogs.org/2020/12/06/politisches-engagement-kann-zu-willkuerlichen-kontrollen-fuehren/ [letzter Zugriff: 23.03.2021]
10: Dannenröder Waldbesetzung (2020): Notruf aus dem Dannenröder Wald. Wir veröffentlichen Pläne, Aufzeichnungen und Funktionsweisen unserer Strukturen, um unsere Leben sowie den Wald zu retten und zu schützen. – URL: https://cdn.website-editor.net/a121c282bd29435984d17f58f604c305/files/uploaded/Notruf%2520aus%2520dem%2520Danni.pdf [letzter Zugriff: 23.03.2021]
11: Gießener Anzeiger (2020): Autobahnblockade bei Reiskirchen war keine Straftat. – URL:https://www.giessener-anzeiger.de/lokales/kreis-giessen/landkreis/autobahn-blockade-bei-reiskirchen-war-keine-straftat_22451204 [letzter Zugriff:15.03.2021] 8:
12: Twitter (2020): https://twitter.com/Polizei_MH/status/1315961258043232257 [letzter Zugriff: 15.03.2021]
13: Polizeipräsidium Mittelhessen (2020): Polizei Presse A 49: Gemeinsame Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main und der Polizei Mittelhessen. Gießen. - URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/148303/4746857 [letzter Zugriff 16.03.2021]
14: https://freethemall.blackblogs.org/
15: Dannenröder Waldbesetzung (2020): Zweite Pressemitteilung zu den Autobahnblockaden von vorgestern. Skandalöse Justizentscheidungen zu gestrigen Autobahnaktionen. – URL: https://waldstattasphalt.blackblogs.org/2020/10/28/zweite-pressemitteilung-zu-den-autobahnblockaden-von-vorgestern/ [letzter Zufriff: 15.03.2021]
16: Knop. C. & H. Schwan (2020): „Abseilen über der Autobahn ist eine schwere Straftat“. Innenminister Beuth zu A49-Protest. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.12.2020. - URL: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/region-und-hessen/hessens-innenminister-peter-beuth-abseilaktion-ist-schwere-straftat-17085557.html?premium#void [letzter Zugriff: 19.02.2020]