Wer in Deutschland von A nach B kommen will, braucht Geld. Auch mit Einführung des „Deutschlandtickets“ hat längst nicht jede Person in der Bundesrepublik die finanziellen Möglichkeiten dazu, sich einen Fahrschein für den ÖPNV zu kaufen. Schließlich liegt der Preis für ein solches Ticket (49€) aktuell recht genau bei einem Zehntel des gesamten monatlichen Bürgergeld-Grundsatzes (502€).
Wem das zu viel ist, drohen heftige Strafen: Verkehrsbetriebe verlangen von Zuwiderhandelnden zunächst ein erhöhtes Beförderungsentgelt, was diese oftmals erst recht nicht bezahlen können. Zudem erstatten Betriebe vielerorts Strafanzeigen an die örtlichen Behörden. Denn, so absurd es auch klingt: Das Fahren ohne Fahrschein gilt in Deutschland als sogenanntes „Erschleichen von Leistungen“ und ist damit, nach § 265a des Strafgesetzbuchs (StGB) eine Straftat, die bis ins Gefängnis führen kann. Und das tut sie auch – Jahr für Jahr, viele tausende Male.
Denn wenn eine Geldstrafe für das vermehrte Fahren ohne Fahrschein unbezahlt bleibt, wird die Geldstrafe in eine Haftstrafe verwandelt – die sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe (EFS) greift. Das trifft gerade diejenigen, die schon am Anfang dieses Prozesses nicht genug Geld für einen Fahrschein hatten und jene, die besonders häufig ins Visier der Kontrolleur:innen und Sicherheitsdienste geraten.
Die Absurdität des Straftatbestands „Erschleichen von Leistungen“ steht längst außer Frage. In den vergangenen Jahren auch verstärkt medial diskutiert, stößt er mittlerweile geradezu gesamtgesellschaftlich auf Entrüstung und Ablehnung.
Dazu gehört die wachsende Aufmerksamkeit dafür, dass Verkehrsbetriebe besonders vermeintlich wohnungslose Personen und rassifizierte Menschen teilweise gewaltvollen Kontrollen unterziehen und besonders oft anzeigen. Mobilität ist das Recht aller – und darf nicht länger das Privileg derjenigen sein, die ökonomisch abgesichert und sozial anerkannt leben.
Vor dem Hintergrund historischer Armutsraten in Deutschland ist es kein Wunder: Bundesweit sind die Gefängnisse voll von Menschen, die nicht genug Geld haben, sich regelmäßig ein ÖPNV-Ticket zu kaufen, und die aufgrund äußerer Merkmale Gefahr laufen, kontrolliert und schikaniert zu werden.
Deswegen hat § 265a zuletzt auch die Debatte um die Reform zur Ersatzfreiheitsstrafe geprägt. Kaum eine Berichterstattung kommt ohne einen Verweis darauf aus, dass es sich bei den ca. 56 000 jährlichen Fällen der Ersatzfreiheitsstrafe oft um den Straftatbestand Erschleichen von Leistungen handelt. In diese Debatte waren wir als Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe unmittelbar involviert. Der Bundestag lud mehrere Angehörige unseres Bündnisses dazu ein, als Sachverständige in Anhörungen zum Gesetzentwurf für die Neuregelung der Ersatzfreiheitsstrafe vorzusprechen, wo wir unsere Argumente für eine vollständige Abschaffung präsentierten.
Für unser Bündnis steht fest:
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Gefängnis löst keine sozialen Probleme.
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Die Bundesregierung hat bis dato ihr Koalitionsversprechen, eine neue Strafpolitik einzuführen, nicht eingelöst. Im Sommer 2023 hat sie zuletzt durch einen halbgaren Gesetzentwurf die Möglichkeit vergeben, die Ersatzfreiheitsstrafe abzuschaffen. Wenigstens die Entkriminalisierung des Fahrens ohne gültigen Fahrschein muss nun dringend umgesetzt werden.
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Das Fahren ohne Fahrschein ist ein Teil eines umfassenden Strafsystems, das sozioökonomische Ungleichheit aufrechterhält und verstärkt.
Dieses System umfasst mehr als § 265a. Es reicht vom Racial Profiling in den ÖPNVs und an sogenannten „kriminalitätsbelasteten“ Orten über rassistische Razzien gegen sogenannte „Clankriminalität“ bis zur Kriminalisierung von Armutsdelikten wie dem Fahren ohne Fahrschein oder Lebensmitteldiebstahl, die mit unverhältnissmäßigen Tagessatzhöhen geahndet werden und deswegen oftmals bis ins Gefängnis führen.
Wirtschaftlich und gesellschaftlich marginalisierte sowie rassifizierte Menschen trifft staatliche Bestrafung somit härter und gezielter.
Die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein ist eine Maßnahme, die die Auswirkungen der Klassenjustiz in Deutschland mildern kann.
Allerdings wird durch sie nicht die grundlegende Ungerechtigkeit im Kern des Strafsystems angegangen. Die größere Chance dazu wurde zuletzt mit der kosmetischen Reform der Ersatzfreiheitsstrafe vergeben.
Dennoch fordern wir als Bündnis im Rahmen der Debatte um die Straffreiheit für Fahren ohne Fahrschein:
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„Ja“ zur Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein.
Eine umfassende Entkriminalisierung ist längst überfällig. Mobilität als grundlegendes Recht für alle zugänglich zu machen, sollte die Priorität aller Kommunen, Städte, Länder und des Bundes sein. Dass Mobilität Geld kostet, ist bereits eine ungleich verteilte Einschränkung. Dass sie kriminalisiert wird, ist eine Verletzung von Grundrechten.
Dies wird seit 50 Jahren immer deutlicher, genauer seit der Einführung des bis heute gültigen Geldstrafensystems, das aufgrund des sg. „Netto-Einkommen-Prinzips“ von vornherein bestimmte Personengruppen strukturell benachteiligt. Geldstrafen sind dadurch für viele unbezahlbar. Immer mehr dieser Strafen führen seitdem ins Gefängnis.
- „Nein“ zur Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit. „Ja“ zur vollständigen Entkriminalisierung.
1. Würde das Fahren ohne Fahrschein zur Ordnungswidrigkeit „herabgestuft“ werden, blieben die Erfahrungen derer, die für das Fahren ohne Fahrschein rassistische und/oder armenfeindliche Gewalt erfahren, bestehen. Tief verankerte Muster des Kontrollierens und Polizierens (d.h. Aktionen, die in den Verantwortungsbereich der Polizei fallen, aber nicht zwansläufig von ihr ausgeführt werden, sondern z.B. auch durch private „Sicherheits“ Firmen) würden sich nicht ändern, sondern träfen weiterhin insbesondere gesellschaftlich und wirtschaftlich marginalisierte Menschen. Die rechtliche Einstufung des Vergehens spielt hierbei kaum eine Rolle. Zehntausende Menschen würden jährlich weiterhin Übergriffe durch Security-Personal und Vollstreckungsbehörden erleben. Die Praktiken der Kontrolldienste, die bisweilen durch Bonuszahlungen geschürt werden, würden fortbestehen – und damit all jene schmerzhaften Alltagsdimensionen der Kriminalisierung, wie wir sie heute bereits kennen.
2. Anders als Straftaten führen Ordnungswidrigkeiten zwar nicht zu Geldstrafen, sondern zu Bußgeldern, doch auch diese sind verheerend. Denn mit Bußgeldern gibt es ebenfalls grundlegende Probleme: Erstens, so berichten diverse Erwerbsloseninitiativen, sind Bußgelder, ähnlich wie die bisherigen Geldstrafen, i.d.R. zu hoch für Menschen am Existenzminimum – und demnach unbezahlbar. Zweitens können auch Bußgelder ins Gefängnis führen – durch die sogenannte „Erzwingungshaft“. Im Gegensatz zur Ersatzfreiheitsstrafe führt die Vollstreckung der Erzwingungshaft jedoch nicht zur Tilgung eines Geldbetrags. Das bedeutet, selbst wenn Betroffene in Erzwingungshaft landen, schulden sie dem Staat weiterhin Bußgeld. Aus der Forschung wissen wir, dass Geldstrafen von denen, die zahlen können, auch gezahlt werden. Nur bei Menschen, die nicht zahlen können, führt eine Geldstrafe zur Ersatzfreiheitsstrafe. Es ist folglich davon auszugehen, dass sich diese Beobachtungen auf den Sachverhalt Bußgeld analog übertragen lassen – nur, dass die weitere Verschuldung hier nochmals andere Ausmaße annehmen könnte.
In vielen Bundesländern liegen bereits heute viele hunderte bzw. tausende Anträge zur Vollziehung von Erzwingungshaft vor.
Eine Herabsetzung zur Ordnungswidrigkeit würde bedeuten, dass die Menschen, die heute kontrolliert werden, auch morgen kontrolliert werden. Außerdem würden die Menschen, die heute in Ersatzfreiheitsstrafe landen, morgen in Erzwingungshaft sitzen. Ihre Bestrafungs- und Schuldenfalle würde kein Ende finden, und Gefängnisse würden weiterhin für die gewaltvolle Verwahrung von mittellos gemachten Menschen eingesetzt werden.
- „Nein“ zur kosmetischen Reform. „Ja“ zur Entkriminalisierung aller Armutsdelikte
Für uns steht fest: Das heutige Strafsystem, sowohl Geld- als auch Gefängnisstrafe, hilft nicht dabei, Gesellschaft fair zu gestalten. Im Gegenteil: Es verstärkt Ungleichheit und bietet keine Antworten auf soziale Problemlagen. Wir sind überzeugt, dass es Zeit ist für einen grundlegenden Wandel in Bezug auf das System Strafe. Ein Anfang kann hierbei durch Entkriminalisierung gemacht werden – und zwar von einer Reihe von Delikten. Beim Fahren ohne Fahrschein handelt es sich um ein sogenanntes „Armutsdelikt“. Es sind die Umstände, in die Menschen durch unser Wirtschaftssystem gedrängt werden, die dazu führen, dass sie a) auf den ÖPNV angewiesen sind und b) dass sie nicht genug Geld dafür haben, sich regelmäßig ein Ticket dafür zu kaufen. Wer dabei ins Netz von Kontrolleur:innen gerät, wird effektiv für seine bzw. ihre Armut bestraft – zunächst mit einem erhöhten Beförderungsentgelt, dann mit einer Geldstrafe und anschließend oft mit einer Ersatzfreiheitsstrafe. Wer genug Geld für ein Ticket hat, muss sich um keines dieser Szenarien sorgen. Kriminalisierungsmuster sind demnach geprägt von Klassenverhältnissen.
Fahren ohne Fahrschein ist jedoch bei weitem nicht der einzige Straftatbestand, durch den Armut systematisch kriminalisiert und bestraft wird. Auch geringfügiger Diebstahl zählt beispielsweise dazu. Alleine aus diesen zwei Delikten ergeben sich zusammen rund 58 % aller Ersatzfreiheitsstrafen.
Doch nicht nur dort, wo die Kriminalisierung von Armut stattfindet, wirkt das System Strafe ungerecht. Vielerorts wird gestraft, wenn soziale Antworten und Umgangsweisen angmessen wären. Statt kostenfreie Aufklärungs- und Unterstützungsprogramme anzubieten, werden Gegenden und Personengruppen durch ein hohes Kontrollieren durch Polizei und durch Strafanzeigen, wie bspw. zu Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz, geprägt und sozial immer weiter marginalisiert.
Das System Strafe muss grundlegend überdacht werden und ein Beginn kann heute gemacht werden. Nur wenn wir aufhören, Strafe und Gefängnis als erstes Mittel der Politik einzusetzen und stattdessen andere sozialpolitische Maßnahmen ergreifen, können wir es schaffen, dass die Schere zwischen Arm und Reich und zwischen denen, die teilhaben dürfen, und denen, die ausgeschlossen werden, nicht immer weiter aufgespannt wird. Wir können mit der Legalisierung von Armutsdelikten, Drogen und Migration beginnen.
Auch wenn die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein längst überfällig ist: Sie darf nicht als Augenwischerei dienen, um über das Versäumnis der jüngst beschlossenen „Reform“ der Ersatzfreiheitsstrafe hinwegzutäuschen. Eine Entkriminalisierung kann nur dann effektiv sein, wenn sie an den Wurzeln der sozialen und wirtschaftlichen Probleme ansetzt und mit der Entkriminalisierung aller Armuts- sowie Migrationsdelikte und der Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe einhergeht.
Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe
Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Berlin | Basta | Berliner Obdachlosenhilfe e.V. | BiJoC (Black, indigenous Jurastudierende of Color) | Bürgerrechte & Polizei/ CILIP | #BVGWeilWirUnsFürchten| EXIT-EnterLife e.V. | Entknastung – Naturfreundenjugend Berlin | Freiheitsfonds | Gefangenen Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) | HYDRA e.V. | Ihr Seid Keine Sicherheit | Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V.| Justice Collective e.V. | Kritische Jurist*innen der FU Berlin | Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. | Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V. | ReachOut e.V. | Strafvollzugsarchiv e.V. | Tatort Zukunft e.V.| Verein demokratischer Ärzt*innen |