Mit Abscheu verfolgen wir die deutsche Interventionspolitik in Afghanistan und ihre Folgen. Die vermeintlich überraschende Einnahme Kabuls durch die Taliban und der folgende überstürzte Truppenabzug demaskierte die ewige Erzählung des „demokratiebildenden Friedenseinsatzes“. Um die Menschen in Afghanistan ging es freilich nie. „Unsere eigene Sicherheit“ sollte „am Hindukusch verteidigt werden“, wie der damalige Verteidigungsminister Peter Struck 2004 formulierte.
Während die in Afghanistan Zurückgelassenen medial inzwischen in den Hintergrund rücken und die Bundesregierung das Scheitern des 20-jährigen Einsatzes möglichst nicht thematisiert, bleiben die Konsequenzen real: Neben der tödlichen Bedrohung für Verfolgte des Taliban-Regimes führen Sanktionen des Westens und die aktuelle Dürre Afghanistan in eine multiple Krise.
Menschenrechte und insbesondere die Rechte von Frauen müssen gewöhnlich vor allem dann herhalten, wenn es in Wirklichkeit um ökonomische und geopolitische Staatsinteressen geht. So geschehen auch bei dem NATO-Einsatz in Afghanistan. Dem Land sollte in neokolonialer Manier „die Demokratie gebracht“ werden. Doch hat die gescheiterte Politik des Westens die Rückkehr der Taliban überhaupt erst ermöglicht.
Waren Menschenrechte und demokratische Mitbestimmung für Menschen in Afghanistan von der westlichen Allianz in der Vergangenheit vorgeschobene Gründe, dienen sie auch jetzt nur als Phrase: Den Verfolgten des Taliban-Regimes wird ungenügende Hilfe geboten. Deutschland führte Evakuierungen nach der Machtübernahme der Taliban bislang nur für deutsche Staatsangehörige und wenige afghanische Ortskräfte der Bundeswehr bzw. deutscher Behörden sowie ihre Kernfamilien durch. Die wenigen von ihnen, die einreisen konnten, stehen nun vor dem bürokratischen Ungetüm des BAMF.
Berichte über Nötigungen zu Asylanträgen statt versprochener Aufenthaltstitel häufen sich. Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen und privaten Trägern werden beiden Evakuierungen gleichsam nachrangig behandelt wie diejenigen, die Verfolgung durch die neue Taliban-Regierung fürchten müssen: Regime-Kritiker*innen, Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und alle, die die Gleichberechtigung für Frauen einfordern, werden zwar von der Bundesregierung als evakuierungswürdig anerkannt, doch werden ihre Ausreisegesuche nur schleppend oder gar nicht unterstützt.
Denn die größte Furcht Deutschlands herrscht nicht vor Menschenrechtsverletzungen der Taliban gegen die Afghanische Bevölkerung, sondern vor denen, die Schutz suchen. „Eine Situation wie 2015 vermeiden“ das ist das vordringliche Ziel der meisten EU-Mitgliedsstaaten und auch der Bundesregierung, und zwar nicht nur kurz vor der Bundestagswahl. Dafür wird aktuell die belarussische Grenze zur EU massiv aufgerüstet und das europäische Konzept des brutalen Grenzregimes auch dort angewendet.
Finanzielle Unterstützung der Bundesregierung für die Nachbarstaaten Afghanistans soll zudem dazu dienen, Flüchtende vor Ort zu behalten. In diesem Sinne hatte die Bundesregierung auch Abschiebungen nach Afghanistan erst Mitte August 2021 ausgesetzt. Dies erfolgte allerdings keineswegs freiwillig, sondern nur durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Afghanistans Ex-Präsident Karsai hatte zuvor die Europäischen Staaten angewiesen, von Abschiebungen bis auf weiteres abzusehen, was Protest von Horst Seehofer und anderen bei der EU-Kommission hervorrief. Abgeschobene stehen in Afghanistan nun, Berichten zufolge, unter Generalverdacht der Taliban, westliche Sympathien zu hegen, werden überwacht und gewaltvoll für ihre Flucht nach Europa bestraft.
Manche Stimmen behaupten aus politischem Eigeninteresse, dass Afghanistan jetzt – unter den Taliban – sicher sei: Ihr Streben nach internationaler diplomatischer Anerkennung sorge dafür, dass die Islamisten nun eine gemäßigtere Politik betrieben. Andere beschreiben das Land und seine Bewohner*innen im Gegenteil allein als bedürftige Opfer, die wie jeher auf die Hilfe von außen angewiesen seien. Die Kämpfe und Errungenschaften all derjenigen Afghan*innen, die seit Jahren für demokratische Strukturen vor Ort kämpfen, werden bis heute konsequent ignoriert. Für kritische Stimmen ist die Gefahr im Land jedoch unübersehbar.
Schon kurz nach der Regierungsbildung der Taliban wurden Demonstrationen faktisch verboten – eine Reaktion auf die massiven Proteste vor allem von Frauen. Sie werden nun in den häuslichen Raum und in die reproduktive Funktion gedrängt: Frauen dürfen nicht mehr in Ministerien und Universitäten arbeiten, der Zugang zu höherer Schulbildung wird stetig erschwert und die Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt.
Neben Diskriminierung und Repression ist die Einschränkung von Grundrechten wie das Versammlungsrecht oder der Pressefreiheit allgegenwärtig, auch die Bedrohung von ethnischen und religiösen Minderheiten. Demonstrationen auf Afghanistans Straßen sind zwar schwer möglich, doch geht der Protest im Internet weiter. Frauen demonstrieren dort beispielsweise unter dem Hashtag #DoNotTouchMyClothes in traditionellen afghanischen Kleidern gegen die neue Kleiderverordnung. Informierte Stimmen warnten schon seit Anfang des Jahres vor den Folgen eines Abzugs der NATO-Truppen.
Die Bundesregierung reagierte zu spät und mit einigen wenigen Evakuierungen ehemaliger Ortskräfte. Bis Mitte Oktober wurden mit militärischen Evakuierungen rund 6.000 Menschen nach Deutschland gebracht. Mithilfe der Zivilgesellschaftlichen Rettungsinitiative „Luftbrücke Kabul“ konnten seit dem Vormarsch der Taliban bis Mitte Oktober immerhin rund 500 weitere Menschen aus Afghanistan ausreisen. Die meisten jedoch retten sich selbst.
Der gründlich gescheiterte Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wurde schließlich am 13. Oktober 2021 mit einem Zapfenstreich zur Ehrung der Soldat*innen feierlich beendet. Das militaristische Ritual mit Trommeln und Fackeln trug einmal mehr dazu bei, das politische Versagen von Bundesregierung und Bundeswehr zu überdecken. Mit dem Schweigen über die unzähligen zivilen Opfer nach 20 Jahren Krieg war dieses Schauspiel eine weitere Provokation gegenüber jenen, die sich über Jahre hinweg gegen diesen Militäreinsatz engagieren und für jene, die ihre Angehörigen, Freund*innen und Liebsten in diesem Krieg verloren haben und bis heute mit den Traumata leben müssen.
Die Kriegsverbrechen westlicher Staaten in Afghanistan sind bis heute ohne juristische Konsequenzen. Darunter auch die Tötung von afghanischen Zivilist*innen am 4. September 2009 durch den deutschen Oberst Georg Klein. Ein Drohnenschlag tötete auf seinen Befehl hin hunderte Menschen. Statt dieses hässliche Kapitel deutscher Interventionspolitik klammheimlich zu schließen, muss der Afghanistan-Einsatz im Gegenteil dringend kritisch und unabhängig aufgearbeitet werden. Hier darf es nicht allein um den Truppenabzug gehen, sondern der gesamte Einsatz muss auf den Prüfstand gestellt und die nötigen Konsequenzen gezogen werden. Eine Abkehr von militärischer Interventionspolitik und stattdessen die Stärkung der zivilen Konfliktbearbeitung sowie ein striktes Rüstungs- exportverbot sollten endlich ganz oben auf der Tagesordnung stehen.