Der Rechtsstaat ist dem Seehofer‘schen Innenministerium eine Herzensangelegenheit. Um ihn durchzusetzen, leistet es geradezu Unmenschliches – und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Der Rechtsstaat ist in seinen Augen derzeit besonders im Bereich der Flüchtlingspolitik in Gefahr. Allerdings nicht, wie man meinen könnte, weil die Rechte von Migrant*innen und Geflüchteten immer weiter beschnitten werden oder weil viele Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) fehlerhaft sind und zu Ungunsten von Asylsuchenden ausfallen oder weil Gesetze von den Ordnungsbehörden bewusst widerrechtlich ausgedehnt oder übertreten werden. Nein, der Rechtsstaat ist vermeintlich in Gefahr, weil nach Ansicht des BMI die Ausreisepflicht nicht zu Genüge durchgesetzt wird. Dafür wurde jetzt ein Gesetz entworfen mit dem euphemistischen Namen "Geordnete-Rückkehr-Gesetz".
Während staatliche Maßnahmen mit die inhärente Gewalt bewusst verschleiernden Titeln wie „freiwillige Ausreise, „Ankerzentrum“ oder „Rückführung“ bezeichnet werden, gelten Geflüchtete politisch oftmals pauschal als Straftäter*innen oder Sozialschmarotzer. Es gibt den "guten Flüchtling" und den schlechten. Von denen mit "guter Bleibeperspektive" gibt es allerdings nicht (mehr) so viele.
Die deutsche Flüchtlingspolitik konzentriert sich aktuell auf die Themen „Obergrenzen und Abschiebungen“. Asyl und Schutz? Perspektive und Teilhabe? Einwanderungsland und Gesellschaft der Vielen? Keine Rede davon. Deutsche Flüchtlingspolitik charakterisiert traditionell das menschenfeindliche Zusammenpferchen von Asylsuchenden in riesigen Lagern, neuerdings "Ankerzentren" genannt. Diese produzieren bekanntermaßen Ausschluss, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Aggression unter den Insassen. Es stauen sich absehbar Frust und Depression, die sich gelegentlich gewaltförmig unter den Bewohner*innen entladen, und dies anschließend als Beleg für die vermeintliche kriminelle Energie von Asylsuchenden herhalten muss. Auch ist der im Grundgesetz normierte Zugang zu einem Rechtsbeistand in vielen Fällen das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt wurde, denn die Realität sieht anders aus: Die Arbeit unabhängiger Beratung für Asylsuchende wird zunehmend erschwert und verunmöglicht. Oft greifen Abschiebungen einer rechtlichen Entscheidung vor. Nicht selten stellt sich im Nachhinein heraus, dass eine Abschiebung nicht rechtmäßig war. Abschiebungen finden unangekündigt und damit überraschend statt, selbst Abschiebungen von Schwangeren und Schwerkranken sind keine Einzelfälle mehr. Der Einsatz von Gewalt und Zwangsmitteln bei Abschiebungen ist im letzten Jahr zudem drastisch angestiegen und wurde mittlerweile sogar vom Antifolterkomitee des Europarats (link is external) verurteilt.
Zumutbar oder Zumutung?
Doch wird weiter lamentiert, die bisherigen gesetzlichen Grundlagen reichten nicht aus: Zu wenige Menschen würden abgeschoben, zu viele Abschiebungen scheitern – ein neues Gesetz müsse her. Die bisherige Entrechtung und Diffamierung von Asylsuchenden ist der Bundesregierung offenbar noch nicht genug: Waren Migrant*innen und Geflüchtete bisher schon Menschen mit Rechten zweiter Klasse, geht der aktuelle Gesetzentwurf über alles bisher Dagewesene hinaus. Ein neu eingeführter Status für Personen „mit ungeklärter Identität“ unterhalb der bisherigen Duldung zwingt Menschen zur „Mitwirkungspflicht“ bei der eigenen Abschiebung. Wer nicht alle „zumutbaren Handlungen“ vornimmt, um einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz zu erlangen, dem drohen künftig unter anderem ein Arbeitsverbot. Als zumutbar gelten etwa die Antragstellung von Papieren bei den Behörden des Herkunftslandes oder gar die Erfüllung der Wehrpflicht im Heimatland.
Die Konzentration von Asylsuchenden in Lagern zielt auf die gesellschaftliche Entsolidarisierung mit den Geflüchteten und auf die soziale Isolation. Bundesweit sind zahlreiche Initiativen gegen diese Spaltungsversuche aktiv. Die lokale Unterstützung durch Freundeskreise, Kolleg*innen oder solidarische Strukturen helfen in vielen Fällen auch, sich gegen die unmenschliche Abschiebe-Praxis zu wehren – und sind den Ordnungsbehörden daher ein Dorn im Auge. In dem ursprünglichen Gesetzentwurf gerieten daher Beratungsstellen und Initiativen ins strafrechtliche Visier: Für die Verbreitung von Terminen von Abschiebeflügen sollte zunächst gar Haft drohen. Applaus erhielt der Vorschlag postwendend vom BAMF-Präsidenten Hans-Eckard Sommer, der Gewerkschaft der Polizei und aus der CDU, den üblichen Garanten einer rechtsstaatlich in Gesetze gegossenen Politik der Feindschaft. Auf Druck der SPD richtet sich der Entwurf nun vor allem an die Behörden: Abschiebetermine, sowie Orte und Namen betroffener Personen oder Details zum Ablauf von Abschiebungen sollen den Status von Dienstgeheimnissen erhalten. Tragen solidarische Initiativen dazu bei, eine Abschiebung zu verhindern, können sie wegen Beihilfe ebenfalls bestraft werden. Dabei sind gerade Informationen über bevorstehende Abschiebetermine notwendig, um überprüfen zu können, ob noch rechtliche Schritte gegen eine Abschiebung eingeleitet werden können. Bis 2015 teilten Behörden derartige Informationen daher regelhaft mit, damit wurde der Berücksichtigung der Interessen von Betroffenen Rechnung getragen.
Fluchtgefahr überall
Der Gesetzentwurf erweitert Arten und Anlässe der Abschiebehaft und unterstellt Fluchtgefahr regelhaft. Die Abschiebehaft soll bis zu 1,5 Jahre ausgedehnt und zum rechtlichen Standard werden, denn lediglich vermutete Fluchtgefahr kann als Haftgrund beinahe regelhaft unterstellt werden, etwa bereits dann, wenn ein Termin zur medizinischen Untersuchung nicht wahrgenommen wurde. Der Betroffene soll zukünftig beweisen, dass keine Fluchtgefahr besteht. Die Abschiebehaft soll entgegen geltendem Europarecht zukünftig in regulären Gefängnissen erfolgen können, obgleich räumlich getrennt von Strafgefangenen. Dies soll gelten, bis die Zahl der Haftplätze und Abschiebegefängnisse ausgebaut worden ist, die Zielmarke sind 1.200 Plätze. Zehn Tage Ausreisegewahrsam zur Durchsetzung einer Abschiebung in einem Lager oder im Flughafentransit könnten zukünftig gängige Praxis werden, auch wenn der Entwurf lediglich von einer Kann-Regelung spricht. All diese Pläne transportieren eine klare Botschaft: Wer sitzt, der muss etwas verbrochen haben.
Der Rechtsstaat, den es laut Innenministerium zu verteidigen gilt, dient offensichtlich nicht allen Menschen gleich. Zahlreiche Expert*innen im Flüchtlingsrecht weisen auf die massive Entrechtung von Geflüchteten auch im überarbeiteten Gesetzentwurf hin. Diverse darin enthaltene Vorschriften sind zudem verfassungswidrig. Mehr denn je ist also zivilgesellschaftliches Engagement und solidarisches Handeln gegen die staatliche Abschiebepolitik gefragt. Solidarische Initiativen sollten sich daher von den Drohgebärden aus dem Innenministerium nicht einschüchtern lassen, sondern Schulter an Schulter mit Geflüchteten gegen das Gesetz und für gleiche Rechte für alle streiten.
Ein Kommentar von Britta Rabe
„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so eine einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“
| Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche 1940/41