Anfang Mai stand fest – die Corona-Pandemie wird sich erheblich auf die Aktivitäten des Projekts Ferien vom Krieg in diesem Jahr auswirken. Wir entschieden uns schweren Herzens, die Dialogseminare mit jungen Erwachsenen aus Israel und Palästina und die Begegnungen und Friedencamps mit Jugendlichen aus Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kroatien abzusagen. Alle Partner*innen suchen nach Corona- kompatiblen Alternativen, um zumindest vor Ort aktiv zu bleiben. Wie auch in anderen politischen Kontexten finden derzeit viele Treffen online statt und für den Herbst gibt es Planungen für Begegnungen jenseits virtueller Räume: Nachfolgeaktivitäten vor Ort mit den Teilnehmenden der Vorjahre aus Israel und Palästina und ein Treffen für Mitarbeiter* innen und junge Aktivist*innen des Netzwerks Youth United in Peace im ehemaligen Jugoslawien.
Neben der Corona-Pandemie sind es die aktuellen politischen Entwicklungen auf der lokalen aber auch globalen Ebene, die Teilnehmende und Mitarbeitende umtreiben. In Israel sind viele Menschen, die sich politisch engagieren, wütend: wütend auf die Regierung unter Benjamin Netanjahu, der, anstatt sich um die Eindämmung der zweiten Coronawelle zu kümmern, die Annexion des Jordantals vorantreibt; wütend auf die Polizei, die auch dort People of Colour (viele davon sind dort Palästinenser*innen) mit zunehmender Brutalität begegnet. Gleichzeitig berichten sie von einem Gefühl der Ohnmacht. „Das System zerfällt und stinkt gerade offensichtlicher denn je zum Himmel. Zudem rückt die Frage nach Perspektiven für aktive Veränderung immer mehr in den Hintergrund“, schreibt Leah Z.* (Teilnehmerin des Frauen*- seminars 2019). „Grundsätzlich fühlt sich seit Beginn der Coronakrise alles noch extremer und unmöglicher an als je zuvor. Die Kategorien, durch die ich die Welt bisher betrachtet habe, brechen zusammen (…) und jeder Versuch in Richtung Protest führt mich und alle anderen nur wieder in eine Sackgasse.“ Wie viele andere Menschen in Israel nahm Leah in den letzten Wochen an zahlreichen Kundgebungen und Demonstrationen teil.
Viele Menschen in Palästina und Israel sehen in der Ermordung eines 32-jährigen, autistischen Palästinensers in Jerusalem Ende Mai 2020 durch israelische Grenzpolizisten Parallelen zur Ermordung von George Floyd: es geht um strukturellen Rassismus. Hiervon sind neben Palästinenser-*innen in Israel vielfach auch Jüdinnen und Juden als People of Colour betroffen. In Israel und Palästina gingen mehrere Tausend Menschen in Solidarität unter den Hashtags #BlackLivesMatter und #PalestinianLivesMatter gegen Polizeigewalt und die Annexionspläne auf die Straßen. „Der schreckliche Mord an Iyad Al-Hallaq war ein weiterer Hieb auf meine unerträgliche Glasglocke aus Privilegien“, berichtet Leah. Bei Demonstrationen überkommt sie das Gefühl „zu schreien und niemand hört Dir zu“.
Auch im Westjordanland herrscht Entmutigung hinsichtlich der eigenen politischen Handlungsmöglichkeiten und die der Palästinensischen Autonomiebehörde in Bezug auf den Umgang mit der Pandemie und auch die Annexionsdrohungen Israels. „Palästina ist kein unabhängiger Staat und hat keine Kontrolle über seine Grenzen. Das Gesundheitssystem leidet seit Jahren unter dem Mangel an medizinischer Ausstattung und Expertise. All diese Faktoren beeinflussen das Spektrum der Maßnahmen und Entscheidungen, die die Autonomiebehörde treffen kann. Seit Ausbruch der Pandemie gibt es eine öffentliche Debatte über die Kompetenz und Kapazitäten der Autonomiebehörde“, erzählt Rhana K.* (palästinensische Koordinatorin des Frauen*seminars). Ein erneuter Lockdown mit strikten Ausgangsbeschränkungen, in dem die meisten Orte völlig voneinander abgeschnitten sind, macht politische Aktionen zurzeit fast unmöglich.
Gerade jetzt sind Onlinetreffen für viele Aktivist*innen unabdingbar, aber auch bestärkend, da sie eine Möglichkeit bieten, sich mit Verbündeten auszutauschen und trotz aller Unwägbarkeiten weiter aktiv zu bleiben. Martha D.*, israelische Koordinatorin des Frauen* seminars fasst dies so zusammen: „Zu Beginn des Lockdowns entschied unsere Gruppe israelischer Teilnehmer *innen des letzten Jahres, dass wir uns nun einmal die Woche per Videokonferenz treffen werden, um uns auszutauschen und gemeinsam zu lernen. (…) Diese digitalen Treffen erfüllen mich mit Hoffnung, Inspiration und Stolz in dieser herausfordernden Zeit. So sehr ich darum trauere, dass wir das diesjährige Seminar absagen mussten, so sehr ich freue mich darauf, jetzt Zeit und Energie in Stärkung und den Ausbau unserer Aktiven-Basis hier vor Ort zu investieren.“