Die offensichtlich rassistisch motivierte Tötung des schwarzen US-Bürgers George Floyd durch einen weißen Polizisten am 25. Mai in Minneapolis hat auch in der Bundesrepublik für Proteste gesorgt. Sehen Sie Unterschiede zwischen dem von staatlichen Stellen praktizierten Rassismus in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik?
Natürlich gibt es Unterschiede. Die sind einerseits historisch bedingt, haben auch mit den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun. Wichtiger sind aber die Parallelen: Europa und Deutschland haben wie die USA wirtschaftlich enorm von der Kolonisierung und Ausbeutung weiter Teile der Welt profitiert. Der heutige europäische Reichtum gründet sich auf diese Ausbeutung. Dieses Handeln wurde über Jahrhunderte hinweg mit rassistischen Konzepten von vermeintlich weißer Überlegenheit begründet und normalisiert. Entsprechend sind auch die europäischen Gesellschaften durchzogen von strukturellem Rassismus, der sich sowohl institutionell – also beispielsweise in der Gesetzgebung oder im Polizeihandeln – als auch im Alltag wiederfindet.
Die SPD-Kovorsitzende Saskia Esken bescheinigte den deutschen Sicherheitsbehörden jüngst »latenten Rassismus«. Ausgerechnet Dietmar Bartsch, Kovorsitzender der Bundestagsfraktion von Die Linke, nahm die Polizei hingegen explizit in Schutz und ging auf Distanz zu Esken. Hat Bartsch den Sinn für Realitäten verloren, oder hat er recht?
In Bartschs Aussagen zeigt sich aus meiner Sicht zweierlei: Er scheint einen veralteten Rassismusbegriff zu nutzen, der sich nur auf die offensichtlich rassistische Handlung bezieht und strukturellen Rassismus außen vor lässt. Das allein ist ein Armutszeugnis für einen führenden Vertreter der Linkspartei. Aber noch viel schlimmer ist die opportunistische Haltung, in Abgrenzung zur SPD-Vorsitzenden einen politischen Gewinn einfahren zu wollen, bei dem die Betroffenen rassistischer Polizeigewalt instrumentalisiert werden. Das hätte ich eher von Christian Lindner, FDP, erwartet, aber nicht unbedingt aus der Linkspartei, wo es mit Martina Renner und einigen anderen Expertinnen auf dem Gebiet gibt. Ich empfehle Herrn Bartsch, bei seinen Kolleginnen Nachhilfe zu nehmen oder sich bei einem Antirassismustraining anzumelden.
Für Sie ist es eindeutig: Die deutsche Polizei hat ein strukturelles Rassismusproblem?
Ja, das hat sie. Das beginnt schon bei der Abwehr dieser absolut basalen Feststellung. In dieser Gesellschaft ist niemand frei von rassistischen Denk- und Handlungsmustern. Hinzu kommt der institutionelle Rahmen: Angefangen bei einem Bundesinnenminister und damit obersten Dienstherren, der rassistische Aussagen am laufenden Band produziert und Migration als »Mutter aller Probleme« bezeichnet hat. Außerdem sind da: die gesetzlich geschaffene Befugnis für anlasslose Kontrollen, die einer diskriminierenden und oftmals rassistischen Auswahl der Kontrollierten Vorschub leistet; der besondere Fokus auf migrantisch geprägte Stadtteile als »gefährliche Orte«, gruppenbezogene Kriminalisierungskonzepte wie das der sogenannten Clankriminalität und vieles mehr. Und da haben wir noch nicht einmal von der allzu oft rassistischen Umsetzung dieser institutionellen Vorgaben gesprochen: von Herabwürdigungen, von übermäßiger Gewalt, von den in Deutschland von der Polizei getöteten schwarzen Menschen und People of Color, vom Versagen in der Aufklärung der NSU-Morde, von den nahezu täglichen Nachrichten über extrem rechte Polizistinnen und Polizisten.
Was kann man angesichts der beschriebenen Situation unternehmen?
Der erste Schritt ist, das Problem endlich als solches zu begreifen. Der Unwille, Rassismus überhaupt als gesellschaftliches und damit auch als institutionelles Problem anzuerkennen und polizeiintern Maßnahmen dagegen zu ergreifen, muss überwunden werden. Schluss mit den Abwehrreflexen! Der Anspruch muss sein: Jeder rassistische Vorfall ist einer zuviel.
Zudem liegen eine Menge konkreter Forderungen und angemahnter Reformen schon seit Jahren auf dem Tisch: unabhängige und mit Ressourcen ausgestattete Ermittlungsstellen gegen polizeiliches Fehlverhalten und Polizeigewalt, individuelle Kennzeichnungspflicht für alle Polizistinnen und Polizisten, Antirassismustrainings, Antidiskriminierungsgesetze wie gerade in Berlin beschlossen. Nötig wäre auch ein Moratorium für eine weitere Verschärfung der sogenannten Sicherheitsgesetze. Aber der Blick in die USA zeigt: Reformen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es braucht auch ganz grundsätzliche Überlegungen zur Funktion der Polizei in einer Gesellschaft und dazu, was »Sicherheit für alle« bedeutet und wie diese Sicherheit gewährleistet werden kann.
Nach »Fridays for Future« entstehen in Anlehnung an die US-Bewegung »Black Lives Matter« auch in der Bundesrepublik antirassistische Zusammenschlüsse, an deren Arbeit sich viele junge Menschen beteiligen. Ist die in den vergangenen Jahren so oft als »unpolitisch« gescholtene Jugend vielleicht gar nicht so desinteressiert, wie stets behauptet wurde?
Ja, diese Meinung dürfte endgültig überholt sein.
Drohen Bewegungen dieser Art schnell von der Bildfläche zu verschwinden, weil sie in übergroßer Mehrheit moralisch und nur begrenzt politisch argumentieren ?
Vielleicht haben wir nur das Gefühl, dass sie von der Bildfläche verschwinden, weil in der Aufmerksamkeitsökonomie die Berichterstattung über die Zeit nachlässt. Viele Medien berichten häufig nur über den aktivistischen Part und nehmen die Demonstrierenden in ihren Analysen und Forderungen nicht ernst. Zudem kommen beide Bewegungen nicht aus dem Nichts. »Black Lives Matter« arbeitet kontinuierlich seit vielen Jahren auf dem Fundament der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Wenn jetzt so schnell Forderungen wie »Defund the Police« (in etwa: Entzieht der Polizei die Finanzierung, jW) laut wurden, dann basiert das auf dem politischen Engagement der letzten Jahre und Jahrzehnte.
Trotzdem stellt sich die Frage, ob Großdemonstrationen gegen Rassismus und für Solidarität in Zeiten der Coronapandemie unbedingt erforderlich sind, oder ob sie ihre hehren Ziele nicht sogar ad absurdum führen, wenn durch riesige Menschenansammlungen ausgerechnet die schwächsten Glieder der Gesellschaft – Stichwort chronisch kranke oder betagte Menschen – in Gefahr gebracht werden.
Dazu kann ich nur sagen: Alle Teilnehmenden, die ich bei den Demonstrationen gesehen habe, trugen eine Maske. Soweit das möglich war, wurde auf Abstände untereinander geachtet, und die Versammlungen fanden unter freiem Himmel statt. Ich möchte zudem ungern in eine Argumentation gedrängt werden, in der ich die Leben schwarzer Menschen und chronisch Kranker gegeneinander aufwiegen soll. Erst recht, da Gesundheit eine Klassenfrage ist und gerade von Rassismus betroffene Menschen häufig zu den ökonomisch schlecht gestellten zählen und somit einen nicht unerheblichen Teil der chronisch Kranken ausmachen. Der Aufstand gegen Rassismus ist notwendig, auch und gerade mitten in einer Pandemie, in der die höchsten Todesraten in der armen, migrantischen und schwarzen Bevölkerung verzeichnet werden.
Der Autor, Kabarettist und Physiker Vince Ebert hat bei Facebook einen interessanten Beitrag zu dieser Diskussion veröffentlicht. Er schreibt dort: »Noch vor sehr kurzer Zeit blickten wir geschockt auf das Sterben in Bergamo und New York. Wir verschanzten uns in unseren Wohnungen, hielten Abstand und versuchten alles, um uns und unsere Mitmenschen zu schützen. Nur zwei, drei Wochen reichen aus, um all das wieder zu vergessen. Jetzt stellen wir uns zu Tausenden auf Plätze, halten Schilder mit ›I can't breathe‹ in die Höhe und riskieren dabei, dass in einer zweiten Welle vielen unserer Mitbürger genau das passieren wird. Dass sie an Beatmungsgeräte angeschlossen werden und um ihr Leben kämpfen müssen. Wir geben vor, dass uns George Floyd und das Schicksal der Afroamerikaner am Herzen liegt. Und dabei simulieren wir nur Mitgefühl. Wir faseln etwas von Verantwortung und moralischer Pflicht, und dabei geht es uns doch nur um uns selbst. Wir sind kleine Narzissten, die berauscht vom eigenen Gutsein unserem Facebook-Foto einen ›Black Lives Matter‹-Rahmen verpassen. Damit wir uns alle ein bisschen so fühlen können wie Martin Luther King. Und dabei ist uns die Gesundheit unserer nächsten Mitmenschen völlig egal. Es ist erbärmlich.« Trifft Ebert damit nicht das Dilemma, vor dem alle Protestbewegungen, seien sie noch so fortschrittlich, seit Ausbruch der Pandemie stehen?
Wenn das die Meinung von Vince Ebert ist, kann er gerne daheim bleiben und sich dort vielleicht Gedanken über seine Privilegien machen. Gerade in den USA können – im Gegensatz zu diesem weißen Akademiker – viele nicht zu Hause bleiben, weil sie auf ihre prekären Jobs angewiesen sind. Das betrifft ganz besonders die schwarze Bevölkerung, die sich in der Folge wiederum überdurchschnittlich häufig mit Corona infiziert. Da es in den USA keine universale Krankenversicherung gibt, können sich viele Betroffene nicht einmal eine Behandlung leisten und werden im Fall der Fälle auch nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Die schwarze Bevölkerung hat also mehr als genug Gründe, auf die Straße zu gehen, Veränderungen einzufordern und zu erkämpfen.
Wie wollen Sie diese Widersprüche auflösen?
Da hilft nur eins: Die Wirtschafts- und Sozialsysteme müssen auf ökologisch nachhaltige Art und Weise nach den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet werden – anstatt auf Kapitalvermehrung. Wir könnten den notwendigen Umbau mit einem weltweit universalen Zugang zu guter Gesundheitsversorgung beginnen. Das ist übrigens keine utopische Spinnerei, dafür gibt es umsetzbare Konzepte, beispielsweise von der Organisation »Medico international«.
Seit den ersten staatlichen Maßnahmen im Kampf gegen die Coronapandemie marschieren in allen größeren bundesdeutschen Städten Personengruppen von Esoterikern bis Nazis auf, die vorgeben, dass Grundgesetz verteidigen zu wollen. Wie bewerten Sie die »Hygienedemos«?
Tatsächlich Zulauf hatten sie ja erst Mitte April, als die Infiziertenzahlen schon fielen und die ersten Lockerungen umgesetzt wurden. Ich würde sagen, es war vor allem der Versuch, in einem ersten Moment der Entspannung eine Deutung der aktuellen Lage von rechts anzubieten. All jenen, die tatsächlich wegen »ihrer Grundrechte« an diesen Demonstrationen teilgenommen haben, sage ich: Das an der Seite derjenigen zu tun, denen die Grundrechte eines Teils der Bevölkerung vollkommen egal sind, macht das Anliegen unglaubwürdig. Zudem ist der einseitige Fokus auf die persönliche Freiheit nicht gleichbedeutend mit dem Eintreten für universelle Grundrechte. Viele der Teilnehmenden haben überhaupt nicht auf Schutzmaßnahmen geachtet. Und dann werden zur Rechtfertigung des eigenen Egoismus auch noch Fehlinformationen, Mythen und Verharmlosungen herangezogen. Ich glaube, man hätte auf verantwortlichere Weise für Grundrechte demonstrieren können.
Nun sind Sie persönlich nicht verdächtig, keinen Wert auf Grund- und Freiheitsrechte zu legen. Erst Anfang des Monats haben Sie in Berlin den »Grundrechte-Report« für 2020 vorgestellt. Auch im diesjährigen Bericht geht es um Rassismus, Diskriminierung und die Aufrüstung und Militarisierung der Polizei. Wie ist es denn grunsätzlich – unabhängig von der Coronapandemie – um die Grund- und Freiheitsrechte in der BRD bestellt?
Wir nennen den Grundrechte-Report auch den alternativen Verfassungsschutzbericht. Darin versuchen wir einerseits, einen möglichst umfassenden Überblick zu geben, andererseits die gravierendsten Entwicklungen eines Jahres abzubilden. Insgesamt können wir nicht zufrieden sein. Nur ganz wenige der 39 Texte des diesjährigen Reports behandeln Themen, bei denen Fortschritte gemacht wurden. Im ganz überwiegenden Teil müssen wir Verstöße, unverhältnismäßige Einschränkungen und die Missachtung demokratischer oder rechtsstaatlicher Grundsätze feststellen. Auch in diesem Jahr ist die Redaktion zu dem Schluss gekommen, dass die Gefährdung von Demokratie, Grund- und Menschenrechten wesentlich vom Staat, insbesondere der Exekutive, ausgeht.
Auffällig ist, dass wir sehr viele Beiträge haben, die sich kritisch mit den Befugnissen und dem Handeln der Polizei beschäftigen. Aber auch mit deren immer umfänglicheren Datenbanken, die weder dem Datenschutz genügen, noch vor Fehlern und Missbrauch geschützt sind. Zudem gibt es viele Beiträge, die den diskriminierenden Umgang mit Migrantinnen und Migranten sowie schwarzen Menschen in Deutschland beleuchten, bis hin zu Todesfällen und deren mangelhafter Aufklärung. Dieser schon bestehende institutionelle Rassismus verstärkte sich in den letzten Jahren, unter anderem durch ausgrenzende Gesetzgebung. Beispielsweise, indem Seenotrettung kriminalisiert wird und damit gezielt Menschen dem Tod überlassen werden. Oder indem Geflüchtete erst gezwungen werden, in Lagern zu leben und diese dann pauschal zu sogenannten gefährlichen Orten erklärt werden, in die die Polizei Tag und Nacht reinspazieren kann und das auch tut.
In besagtem Bericht wird in diesem Jahr stark Bezug genommen auf soziale Rechte wie das Recht auf Wohnen oder das auf eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung. Derlei soziale Menschenrechte sind in der Vergangenheit nicht nur von der politischen Linken oft vernachlässigt worden. Sehen Sie die Chance, dass einst von links besetzte Themen – wie die soziale Frage oder auch das Recht auf ein Leben in Frieden – künftig wieder größere Bedeutung bekommen könnten?
Das sollten sie, ja. Gerade die Coronapandemie hat ja die Defizite in der sozialen Infrastruktur offengelegt und auch gezeigt, wer in schlecht bezahlten Jobs alles am Laufen hält. Wir müssen jetzt für den universellen Zugang zu guter Gesundheitsversorgung und für ein Grundrecht auf Wohnen streiten. Es müssen wieder mehr Arbeitskämpfe geführt und unterstützt werden, wie beispielsweise der Streik von vorwiegend rumänischen Saisonarbeiterinnen und -arbeitern bei Spargel-Ritter in Bornheim. Zudem wünsche ich mir, dass dies alles sich nicht auf nationaler Ebene abspielt. Die Krisen unserer Zeit sind globale Krisen, so müssen sie auch angegangen werden. Was natürlich nicht heißen soll, dass lokale Kämpfe Quatsch wären – aber es braucht immer auch den Abgleich mit der Frage nach globaler Gerechtigkeit.
Wagen Sie eine Prognose: Wie kommt unsere Gesellschaft aus der Pandemie heraus?
Wir haben keine andere Wahl, als für eine bessere Welt zu streiten.
Das Interview erschien in der Wochenendausgabe der Jungen Welt am 20.6.2020. Interview: Markus Bernhardt