07. Dez. 2022 © Momozumkreis Flickr
Abolitionismus / Gefangenenunterstützung / Klimakrise & Klimaschutz / Rechtsstaatlichkeit / Versammlungsrecht

Rechtswidrige Präventivhaft bei Datteln IV-Protesten

Kurz vor Beginn der Pandemie erschien das Kraftwerk Datteln IV als nächster zentraler Ort der Klimaproteste. Das jahrelang rechtswidrig gebaute wurde schließlich entgegen der Vereinbarungen innerhalb der Kohlekommission Mitte 2020 in Betrieb genommen. Mit seiner Verbrennung von Steinkohle, die in Deutschland nicht mehr gefördert und daher u.a. aus Kolumbien verschifft wird, schafft es eine Nachfrage für einen häufig unter umwelt- und gesundheitsschädlichen Bedingungen geförderten Rohstoff.

In den frühen Morgenstunden des 2. Februar 2020 besetzten 102 Personen aus der Klimagerechtigkeitsbewegung das Kraftwerksgelände. Bereits am Vorabend gegen 23 Uhr waren zwei Mitarbeiter:innen des Münsteraner Instituts für Theologie und Politik (ITP) sowie ein Begleiter, in einem PKW in der Nähe des Werksgeländes von der Polizei angehalten worden.

Der gerichtlichen Sachverhaltsermittlung zufolge, hatten die drei Aktivist:innen Wechselkleidung, Verpflegung, Schlafsäcke und eine Stirnlampe bei sich. Auf einem mitgeführten Mobiltelefon stellte die Polizei zudem eine Nachricht mit dem Inhalt „Viel Erfolg“ fest. Gegenüber der Polizei äußerten die Aktivist:innen, in der Nähe wohnende Freund:innen zu besuchen, deren Personalien sie jedoch nicht angeben wollten. Im späteren Klageverfahren gaben sie an, vor Ort gewesen sein, um die Protestaktion zu beobachten.

Die Polizei ordnete im Anschluss an die Kontrolle die präventive Ingewahrsamnahme der drei Münsteraner:innen gemäß § 35 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 PolG NRW an. Zudem verhängte die Polizei am nächsten Tag ein dreimonatiges Betretens- und Aufenthaltsverbot für den Bereich um das Werksgelände gegen die Aktivist:innen gemäß § 34 Abs. 2 PolG NRW.

Beide Maßnahmen wurden nun mit Urteil vom 10. August 2022 vom Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen für rechtswidrig befunden.

Über das Betretens- und Aufenthaltsverbot entschied das VG Gelsenkirchen (Aktenzeichen 17 L 185/20 und 17L 186/20) bereits im Februar 2020 im Rahmen eines Eilverfahrens. § 34 Abs. 2 PolG NRW erlaube ein solches Verbot nur, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Betreffende in dem Bereich Straftaten begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird.

Entsprechende Tatsachen habe die Polizei jedoch nicht vorweisen können. Vielmehr sei die Prognose der Polizei „rein spekulativ, zumal keine Erkenntnisse über strafbares Verhalten der Antragsteller bei ähnlichen Anlässen in der Vergangenheit vorliegen würden.“ Allein die von der Polizei angenommene Nähe zur Bewegung Ende Gelände reiche dafür nicht aus. Bezeichnend ist an dem Verfahren auch, dass die Polizei mit einem Verbot für den Zeitraum von 3 Monaten das Maximum des in § 34 PolG NRW vorgesehenen Zeitrahmens ausgeschöpft hatte. Offenbar hielt man die Klimaaktivist:innen trotz fehlender Anhaltspunkte für Straftaten für besonders „gefährlich“ und glaubte, damit erhebliche Freiheitseinschränkungen rechtfertigen zu können.

Für das Polizeihandeln dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass die Rhetorik der Landesregierung 2018 Klimaaktivist:innen als Bedrohung konstruierte und pauschal kriminalisierte. Besonders deutlich zeigte sich dies im Zuge der Verschärfung des Polizeigesetzes und der Räumung des Hambacher Forstes, die als größter Polizeieinsatz in der Geschichte Nordrhein-Westfalens gilt. Innenminister Herbert Reul scheute sich nicht davor, anhand zwei Jahre alter Beweismittel ein falsches Bild über vermeintliche Bewaffnung der Waldbesetzer:innen zu erzeugen, das er später korrigieren musste.

Die auf das Baurecht gestützte Räumung der Waldbesetzung wurde vom VG Köln im Nachgang für rechtswidrig befunden. Allerdings ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, da die Landesregierung die Stadt Kerpen anwies, das Urteil gegen den erklärten Willen des Stadtrates anzufechten.1

Gesetzliche Voraussetzungen der Ingewahrsamnahme nicht erfüllt

Zurück zum 1. Februar 2020. Den drei Münsteraner Aktivist:innen konnte zwar kein konkreter Tatvorwurf gemacht werden. Dennoch wurden sie von der Polizei in Gewahrsam verbracht und wurden dort, nach eigener Aussage, „für eine Nacht unter erniedrigenden Bedienungen entkleidet festgehalten.“ Auf Anordnung des zuständigen Amtsgerichts wurden die Aktivist:innen am Morgen des 2. Februar 2020 zwischen 9 und 10 Uhr entlassen.

Gem. § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW kann die Polizei Personen in Gewahrsam nehmen, „wenn das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.“ Ob diese gesetzlichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall als erfüllt anzusehen waren, hatte das VG Gelsenkirchen in seinem Urteil vom 10. August 2022 (Az. 17 K 4838/20) zu prüfen.

Hierzu stellte das Gericht fest, dass keines der drei erforderlichen Tatbestandsmerkmale einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr, der hohen Wahrscheinlichkeit der Begehung von Straftaten sowie der Unerlässlichkeit der Maßnahme im Fall der Münsteraner Aktivist:innen sicher vorlag. So setzt das Kriterium der unmittelbar bevorstehenden Gefahr voraus, dass der „Schaden“, also etwa die Besetzung des Kraftwerksgeländes oder damit verbundene Straftaten, sofort oder in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Schon allein wegen des zeitlichen Abstandes zwischen der Kontrolle der Aktivist:innen am Abend und der in den frühen Morgenstunden erwarteten Protest- und Störaktion hielt das Gericht dies für zweifelhaft.

Auch fehlte es an tragfähigen Grundlagen für eine Gefahrenprognose, dass von den Aktivist:innen Straftaten zu erwarten seien. Die im Fahrzeug der Kläger:innen aufgefundenen Gegenstände, deren Bekleidung oder die auf einem Handy vorgefundene Nachricht „Viel Erfolg“ ließen zwar den Schluss zu, dass diese anlässlich der Protestaktion angereist waren. Darauf, dass über das Beobachten der Aktion hinaus strafbare Handlungen zu befürchten waren, ließen weder „polizeiliche Erkenntnisse“ schließen, die die Kläger:innen dem linken politischen Spektrum zuordnen, noch eine von der Polizei vermutete Nähe der Kläger:innen zur Bewegung Ende Gelände. Vielmehr hielt das Gericht fest, dass die Ingewahrsamnahme offenbar auf „ersichtlich spekulative Erwägung[en]“ der Polizei gestützt war.

Schließlich kann die Ingewahrsamnahme der Kläger:innen auch nicht als „unerlässlich“ angesehen werden. Diese gegenüber der Erforderlichkeit gesteigerten Anforderungen gelten nur dann als erfüllt, „wenn die Gefahrenabwehr nur auf diese Weise möglich und nicht durch eine andere Maßnahme ersetzbar ist.“ Hierzu waren insbesondere die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Ostendorf gegen Deutschland aufgestellten Kriterien von der Polizei nicht beachtet worden.

Der EGMR hatte damals festgehalten, dass eine präventive Ingewahrsamnahme nur mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar wäre, wenn Personen durch die Polizei spezifisch und konkret dazu aufgefordert wurden, eine bestimmte strafbare Handlung zu unterlassen, und sich erkennbar über diese Aufforderung hinwegsetzen. Im vorliegenden Fall konnte das Gericht jedoch nicht einmal feststellen, dass die Polizei den Aktivist:innen gegenüber überhaupt in irgendeiner Weise angab, welche Straftaten von ihnen befürchtet würden. Das Gericht stellte daher fest, dass die polizeiliche Ingewahrsamnahme rechtswidrig war und die Kläger:innen in ihren Grundrechten verletzte.

Verschärftes Vorgehen gegen Klimaaktivist:innen

Über das Vorgehen gegen die Münsteraner Aktivist:innen hinaus wirft der Fall auch ein Schlaglicht auf die erweiterten polizeilichen Befugnisse seit der Verschärfung des nordrhein-westfälischen Polizeigesetzes 2018. Damals verlängerte die von CDU und FDP getragene Landesregierung die Dauer des für den hier besprochenen Fall maßgeblichen Präventivgewahrsams zur Verhinderung von Straftaten von zwei auf 14 Tage (§ 38 Abs. 2 Nr. 1 PolG NRW).

Auch führte die schwarz-gelbe Koalition weitere Gewahrsamstatbestände für (vermeintliche) Gefährder:innen zur Durchsetzung einer Aufenthaltsanordnung, eines Kontaktverbotes oder der Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung ein (§ 35 Abs. 1 Nr. 6 PolG NRW). Auf die Klimaaktivist:innen im Rheinischen Braunkohlerevier ist jedoch vor allem die „Lex Hambi“ in § 38 Abs. 2 Nr. 5 S. 2 PolG NRW zugeschnitten. Danach darf die Polizei Personen bis zu sieben Tage festhalten, „Sofern Tatsachen die Annahme begründen, dass die Identitätsfestellung innerhalb der Frist [von 12 Stunden] vorsätzlich verhindert worden ist“, etwa durch das Verkleben der Fingerkuppen o.ä.

Das Bündnis „Polizeigesetz NRW stoppen!“, in dem auch das Komitee für Grundrechte und Demokratie mitgewirkt hat, kritisierte die Vorschrift bereits 2018. Eine gemeinsam mit der NGO Digitalcourage erhobene Verfassungsbeschwerde wurde jedoch bisher nicht vom Bundesverfassungsgericht entschieden. Seit Ende Juni 2022 ist in Nordrhein-Westfalen eine neue Landesregierung, bestehend aus CDU und Bündnis 90/Die Grünen im Amt.

Obwohl im Wahlprogramm der Grünen „die von der Landesregierung betriebene Kriminalisierung der Klimagerechtigkeitsbewegung“ abgelehnt wird (Wahlprogramm S. 86), findet sich im Koalitionsvertrag keine Reform des 2018 auch von der der grünen Landtagsfraktion massiv kritisierten Polizeigesetzes. Stattdessen will die Koalition „bei möglichen Änderungen und Anpassungen der Sicherheitsgesetze stets überprüfen, ob Befugnisse noch erforderlich und verhältnismäßig sind“ (Koalitionsvertrag S. 83). Das ist für eine progressive und grundrechtsorientierte Innenpolitik viel zu wenig.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass akute gesellschaftliche Auseinandersetzungen wie die Proteste um die sich verschärfende Klimakrise niemals ein Grund dafür sein dürfen, etablierte menschenrechtliche und rechtsstaatliche Standards unter die Räder kommen zu lassen. Dies gilt für das hier besprochene Verfahren über den rechtswidrig angeordneten Präventivgewahrsam, den im November 2022 gegen mehrere Aktivist:innen der „Letzten Generation“ verhängten 30-tägigen Präventivgewahrsam in München, aber auch für das im August 2022 durchgeführte „System Change Camp“ in Hamburg.

Dort hatte die Polizei als Versammlungsbehörde ein Protestcamp der Klimabewegung zunächst untersagt, obwohl das Bundesverwaltungsgericht erst im Mai entschieden hatte, dass Camp-Infrastrukturen regelmäßig auch von der Versammlungsfreiheit umfasst sind. Letztendlich hob auch in diesem Fall das Hamburgische Oberverwaltungsgericht das polizeiliche Verbot auf, sodass das Camp stattfinden konnte.

 

1 Siehe dazu auch der von Michèle Winkler verfasste Beitrag „Rechtswidrige Räumung des Hambacher Waldes – vom symbolischen Wert einer Verwaltungsgerichtsentscheidung“ auf Seite 149 im Grundrechte-Report 2022.