Die Coronakrise bedeutet noch immer einen radikalen Ausnahmezustand nicht nur für tägliche Lebensrealitäten, sondern auch für die Demokratie und gesellschaftliche Werte wie Gleichheit, Freiheit und Solidarität. Nicht ohne Grund stand das Jahr 2020 nicht nur im Zeichen einer pandemischen Gesundheitskrise, sondern auch einer Krise der Demokratie. Die fehlende parlamentarische Legitimation für die beschlossenen Maßnahmen bestätigte die These, Krisen fungierten als die Sternstunden der Exekutive.
Der Ruf, die Maßnahmen sollten nicht per Anordnung nach dem aktualisierten Infektionsschutzgesetz erfolgen, sondern im Bundestag diskutiert und entschieden werden, ist richtig. Dabei wird oft vergessen: Eine radikaldemokratische Perspektive braucht mehr als die Legitimation durch ein Parlament. Das neue Jahr, so trüb und dystopisch es auch begann, bringt Hoffnung auf ein Ende der Pandemie. Doch welche Lehren nehmen wir für das Zusammenleben nach Corona mit? Ein Zurück zum Normalzustand ist durch die Einsicht der Verschärfungen von sozialer Ungleichheit, die uns durch die Krise wie in einem Brennglas erscheinen, weder möglich noch erstrebenswert.
WOHIN GEHT ES ALSO?
Zunächst trägt die vehemente Verteidigung von Kapitalakkumulation dazu bei, dass sich die voranschreitende Verschränkung von Neoliberalismus und einem starken Staat in Zeiten der Pandemie noch rasanter entwickelt und durch konservative Individualisierung unbeirrt das Soziale verdrängt. Konkret zeigt sich das daran, dass die Hauptlast der Pandemie von Familien und den ohnehin Benachteiligten getragen werden, während Milliardensubventionen an Tui und Lufthansa gingen. Gleichzeitig lebt ein Nationalismus auf, der in der Krise reflexhaft nationalistische Abschottungsmechanismen legitimiert und so Nährboden für rechts-autoritäre Kräfte bietet.
QAnon, Querdenken und Co. haben verdeutlicht, wie flexibel diese Kräfte jede politische Situation für die Verbreitung von rassistischen und antisemitischen Parolen und ihre autoritären Interessen nutzen. Auch wenn, zumindest in Deutschland, rechtspopulistischen Antworten auf die Krise zurzeit weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden: Nach der Gesundheitskrise droht eine Wirtschaftskrise.
Die derzeitigen Tendenzen – mögliches Schließen der Grenzen, sogenannter Impfstoffnationalismus, ausbleibendes Herunterfahren weiter Teile der Wirtschaft, dafür aber Ausbau von Kooperationen von Staat und großen Technologieunternehmen, etc. – könnten beide Szenarien in beängstigend greifbare Nähe bringen. Doch viele sehen auch ein drittes Szenario: radikale Demokratie, welche sich kritisch mit den bestehenden demokratischen Verhältnissen und Institutionen auseinandersetzt und dadurch Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität neu definiert und zu Leitmotiven macht.
EINE RADIKALDEMOKRATISCHE VISION
Doch wie kann dieses Szenario weitergedacht und ausformuliert werden? Es sind viele Fragen offen, über die es lohnt, weiterhin zu streiten. Viele sehen durch das Erstarken des Neoliberalismus und des Rechtspopulismus der letzten Jahren im Zusammenhang mit den massiven Einschränkungen der Grundrechte und den Ausbau der Exekutive in der Krise nun die wichtigste Herausforderung darin, zunächst politische Partizipation, parlamentarische Handlungsmöglichkeiten und Grundrechte zurück zu gewinnen, bevor Demokratie radikalisiert und demokratisiert werden kann. Dem ist entgegenzusetzen, dass diese Strategie eines einfachen Zurück zum Status Quo im Kampf gegen Rechtspopulismus und Neoliberalismus zum Scheitern verurteilt ist. Die ZeroCovid-Kampagne ist, mit all der berechtigten Kritik, ein erster Anstoß für eine linke Gegenstrategie.
Eine radikaldemokratische Perspektive muss visionär sein und verlangt nach mehr als parlamentarischer Legitimation und Wiederherstellung der Grundrechte, um das demokratische Miteinander auch für zukünftige Krisensituationen zu rüsten. Primär gilt es aus radikaldemokratischer Perspektive, in der Pandemie Schutz und soziale Absicherung für alle zu gewährleisten – eine Forderung, die sich aus der Gleichheit aller Menschen ergibt. Und damit ist nicht die vermeintliche Gleichmachung durch das Virus gemeint, sondern der Grundpfeiler einer Gesellschaft, die nicht mit neoliberal individualisierten Freiheiten, sondern durch kommunikative Aushandlungsprozesse und demokratische Willensbildung mit Solidarität auf Verwundbarkeit reagiert.
In einer radikaldemokratischen Gesellschaft kann uns in der Krise Freiheit nicht genommen werden, sondern wir schränken uns selbst solidarisch und selbstbestimmt ein, um die Freiheit und das (Über-)Leben der anderen zu ermöglichen. Solidarität könnte dann niemals hohle Phrase sein und vor allem nicht an der nächsten Nationalstaatsgrenze enden.
Die derzeitige Krise der Demokratie ist eine Krise der demokratischen Institutionen, die den Ansprüchen demokratischer Mitbestimmung nicht mehr gerecht werden. Radikale Demokratie hingegen wird durch Krisen und Konflikte stets gestärkt. Ihr ist inhärent, dass sie sich stetig weiter demokratisieren und infrage stellen muss, wenn sie die Bedürfnisse aller ernst nimmt – auch, und gerade wenn sich diese widersprechen. Sie fundiert auf produktiven Konflikten, aus umkämpften Räumen, Kämpfen an den Rändern gesellschaftlicher Teilhabe und auf den vom Diskurs ausgeschlossenen marginalisierten Stimmen, die sich nicht einschüchtern lassen.
Die durch die Coronakrise verschärften Zustände sozialer Ungleichheit in Bezug auf Wohnraum, Care-Arbeit, prekäre Beschäftigung und Lagern an den Grenzen Europas dürfen weder dem Markt noch den Institutionen der repräsentativen Demokratie überlassen werden. Nur durch die Verteidigung einer radikaldemokratischen Agenda von unten, die Menschenrechte auch in Krisen ernst nimmt, kann dem drohenden Erstarken von Rechtspopulismus und Neoliberalismus begegnet werden.
Laura Kotzur ist im Koordinationskreis und bei den Dialogseminaren des Projekts „Ferien vom Krieg“ tätig und studiert Friedens- und Konfliktforschung mit Fokus auf queerfeministische und postkoloniale Ansätze. Sie ist seit Ende 2019 im Vorstand des Grundrechtekomitees.