29. Okt. 2020
Corona / Gesundheit / Neoliberalismus/Kapitalismus / Soziale Menschenrechte

"Prinzipiell müssten im Gesundheitswesen Profite verboten werden"

Schon bei der Erstellung des Grundrechte-Reports 2020 haben wir uns intensiv mit Grundrechtsfragen in Bezug auf das Gesundheitswesen beschäftigt. Die Corona-Pandemie hat die Dringlichkeit des Themas nochmals deutlich auf die Tagesordnung gesetzt. Deshalb führten wir für dieses Heft ein Interview mit Nadja Rakowitz. Sie ist Medizinsoziologin und Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää) und Sprecherin des Bündnisses „Krankenhaus statt Fabrik“.


Liebe Nadja Rakowitz, Sie setzen sich seit vielen Jahren für eine grundlegende Veränderung des Gesundheitssystems ein, insbesondere für die Entkopplung von kapitalistischen Wirkungsweisen. Was genau muss sich ändern?

Es müsste sich mindestens in drei Bereichen folgendes verändern: Die solidarischen gesetzlichen Krankenversicherungen müssten wieder zu wirklich solidarischen Institutionen werden: einerseits müsste die Konkurrenz zwischen ihnen wieder abgeschafft und alle Einkommen und Einkommensarten verbeitragt werden, andererseits müsste die private Krankenversicherung abgeschafft werden. Es bräuchte also eine solidarische Bürgerversicherung. Im ambulanten Sektor müsste es dringend eine Trennung von der Bezahlung der Ärzt*innen und deren medizinischen Entscheidungen geben. Das würde bedeuten, dass der Kleinunternehmerstatus der Ärzt*innen zugunsten einer an Daseinsvorsorge orientierten Primärversorgung abgeschafft werden müsste. Prinzipiell müssten im Gesundheitswesen Profite – wie bis 1984 in den Krankenhäusern der Fall – verboten werden, sodass keine dieser Bereiche mehr interessant wäre für kapitalistische Unternehmen. Im Bereich der Krankenhäuser müsste die Finanzierung durch die DRG* abgeschafft und ersetzt werden durch eine bedarfsgerechte kostendeckende Finanzierung. Zusätzlich müssten gesetzliche Regelungen eingeführt werden, wie viel Personal mit welcher Ausbildung es für wie viele Patient*innen braucht.

Sind diese Ziele durch die Coronapandemie näher gerückt oder in weitere Ferne?

Bei den Krankenkassen und im ambulanten Bereich sehe ich im Moment wenig Bewegung, aber bei den Krankenhäusern tut sich gerade eine ganze Menge. Die DRGs waren schon vor Corona tendenziell delegitimiert und mit dem Pflegepersonalstärkungsgesetz zum Teil schon außer Kraft gesetzt. Mit Corona ist nun aber allen klar, dass diese Art der Finanzierung nicht sinnvoll ist. Die Vorhaltekosten für leere Betten, die man für mögliche Corona- Patient*innen freigehalten hatte, müssen anders finanziert werden, denn die DRGs geben keine Vorhaltekosten her. In der Pandemie zeigte sich, wie kontraproduktiv die Konkurrenz von Krankenhäusern in unterschiedlicher Trägerschaft ist, denn es war Kooperation gefordert. Die deutschen Krankenhäuser sind zwar technisch gut ausgerüstet und haben viele Intensivbetten, wären diese Betten aber voll geworden, hätte es nicht genügend Personal zur Versorgung der Patient*innen gegeben. Auch dies ist eine Folge der DRG-Finanzierung und wurde so in der Krise wie unter einem Brennglas deutlich. Selbst konservative Stimmen haben seit der Coronapandemie davon gesprochen,dass man auch die Privatisierung überdenken müsste. Was also die Krankenhäuser angeht, sehe ich durchaus Chancen, dass Corona uns hilft, unsere Ziele der Verwirklichung näher zu bringen.

Die Coronapandemie wurde größtenteils im nationalen Rahmen bearbeitet. Gibt es notwendige systemische Änderungen, die nur global gedacht werden können?

Am augenscheinlichsten wird die internationale Dimension des Problems wohl bei den Arzneimitteln und den Impfstoffen deutlich. Es gab kurzfristig zu Beginn der Pandemie auch in Deutschland einen Mangel an bestimmten Medikamenten, die nur noch von zwei Firmen auf der ganzen Welt hergestellt werden. Hier stellte sich auch für CDUPolitiker* innen die Frage, ob es nicht eine öffentliche Pharmaproduktion braucht, die zumindest die wesentlichen Medikamente nach Bedarf herstellen kann. Die Diskussion über die Impfstoffe zeigt, wie sehr die Produktion und Verteilung von Impfstoffen und Medikamenten eine Frage der ökonomischen Ungleichheit und der daraus resultierenden Machtverhältnisse ist. Wir beteiligen uns gerade an einer Kampagne gegen die aktuell geltenden Patentrechte-Regelungen, im Rahmen derer wir fordern, dass der Impfstoff für alle, auch für die ärmeren Gesellschaften, da sein muss.

Was braucht es, um Ihre Visionen umzusetzen?

Um unsere Vorstellungen umsetzen zu können, braucht es eine starke Bewegung von unten. Dass wir im Krankenhaussektor schon einen Paradigmenwechsel unter dem konservativ-liberalen Gesundheitsminister Jens Spahn erlebt haben, lag daran, dass es so viele Proteste von Beschäftigten und auch Bürger*innen in diesem Bereich gibt. Das hat die Politik unter Druck gesetzt. Selbstverständlich braucht es auch theoretische Konzepte von Kritik an Kommerzialisierung und Vorstellungen von einer bedarfsgerechten Versorgung, aber entscheidend sind die Beschäftigten. Hier könnten sich die Ärzt *innen durchaus eine Scheibe abschneiden von der Energie und dem Widerstandspotential der Pflegekräfte.

* Seit 2004 werden Behandlungen in Krankenhäusern bundesweit nach diagnosebasierten Fallpauschalen, den sogenannten „Diagnosis Related Groups“ (DRG), abgerechnet. Dies verstärkte die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und wirkt sich negativ auf die Patientenversorgung und den Arbeitsalltag der Beschäftigten in Krankenhäusern aus. Eine ausführliche Kritik an den Fallpauschalen findet sich beispielsweise im aktuellen Grundrechte-Report im Artikel „Gesundheit als Ware“.


Das Interview führte Michèle Winkler