Das Komitee für Grundrechte und Demokratie widerspricht den Darstellungen der Polizei Sachsen, nach denen diese am 11. Januar 2025 in Riesa „sowohl die Durchführung des AfD-Parteitags als auch die Versammlungsfreiheit gewährleistet habe“. Die Versammlungsfreiheit wurde durch die Polizei vielerorts vielmehr empfindlich eingeschränkt. Dies berichten insgesamt 15 Demonstrationsbeobachter*innen des Grundrechtekomitees, die seit den frühen Morgenstunden das Protestgeschehen und den Polizeieinsatz im gesamten Riesaer Stadtgebiet den Tag über beobachteten.
Michèle Winkler, die die Demobeobachtung koordiniert hatte, fasst zusammen: „Nach dem ersten Zusammentragen und der Analyse aller Beobachtungsberichte können wir bereits feststellen, dass die Versammlungsfreiheit und die körperliche Unversehrtheit der Demonstrierenden im Einsatzkonzept der Polizei eindeutig nachrangig waren. Unsere Beobachter*innen berichteten durchgängig von Versammlungsrechtseinschränkungen und von situativ stark eskalativen Gewalteinsätzen. Selbst schwere Verletzungen der Demonstrierenden wurden in Kauf genommen, um die Zufahrt von Parteitagsteilnehmenden durchzusetzen.“
Protest war dort möglich, wo er nicht störte
In den frühen Morgenstunden ging es der Polizei zunächst sichtlich darum, die Protestierenden so lange wie möglich aus der Stadt und von der WT-Arena fernzuhalten. Nahezu alle Zufahrtsstraßen nach Riesa waren von Polizeiwagen versperrt, nur die Zufahrten über die B169 waren offen. Die bis zu 200 Busse mit Protestierenden aus dem gesamten Bundesgebiet sollten einzeln durch Kontrollstellen geleitet werden. Dies führte vorhersehbar zu massiven Verzögerungen und langen Staus. Diese Kontrollstellen stellten damit nicht nur eine Einschüchterung, sondern auch eine Behinderung des Zugangs zu Versammlungen dar und sind somit als klare Einschränkungen der Versammlungsfreiheit zu werten. Zudem kritisierte das Grundrechtekomitee bereits im Vorfeld die Unrechtmäßigkeit dieser Einschränkung auf Basis einer fehlenden Befugnisnorm.
Auch in der Innenstadt kam es dann zu gravierenden Eingriffen in die Versammlungsfreiheit. Ein angemeldeter Demozug mit mehreren hundert Personen wurde am frühen Morgen auf dem Weg vom Bahnhof zur WT-Arena von der Polizei auf einen großen Platz an der Agentur der Arbeit gelotst und dort für mehrere Stunden ohne Begründung am Weitergehen gehindert. Dadurch entstand faktisch ein Polizeikessel, da der einzige Weg aus dieser Sperrsituation über eine enge Fußgängerbrücke führte und über diese beständig weitere Zuganreisende nachrückten. Selbst einzelne Personen, die den Platz seitlich oder in Richtung der WT-Arena verlassen wollten, wurden gewaltsam mit Pfefferspray und Schlägen davon abgehalten und es wurden Panik und Verletzungen hervorgerufen.
Gravierende Einschränkungen wurden auch von weiteren Versammlungsorten im Stadtgebiet berichtet: Demonstrierende wurden mehrfach und teils über Stunden festgesetzt Eilversammlungsanmeldungen wurden ignoriert oder mit unhaltbaren Begründungen abgelehnt. Spontanversammlungen wurden teils einfach für nichtig erklärt. Viele dieser Polizeimaßnahmen erfolgten ohne jegliche Erläuterung gegenüber den Teilnehmenden, auch auf unsere Nachfragen verweigerte die Polizei eine Auskunft.
Zusätzlich wurde auf Abschreckungs- und Einschüchterungstaktiken gesetzt: Gegen unliebsame Versammlungen wurden Polizeipferde und -hunde eingesetzt, sowie Wasserwerfer und Räumpanzer aufgefahren. Allein die Androhung derartiger Einsatzmittel wirkte massiv einschüchternd. Szenen, in denen die Polizei die Tiere nicht im Griff hatte, bzw. der Einsatz von Hunden ohne Maulkorb sind zudem als gefährlich und fahrlässig zu bewerten.
Gezielte körperliche Gewalt
Gegen unerwünschte Versammlungen von Protestierenden wurde außerdem gezielt körperliche Gewalt eingesetzt, häufig ohne vorherige mündliche Warnung. Konkret berichteten die Beobachter*innen an verschiedenen Orten von Schlagstockeinsätzen, von gezielten aggressiven Faustschlägen in Kopfhöhe und teils ins Gesicht, von Tritten, vom Über-den-Boden-Schleifen, von Griffen von hinten ins Gesicht, sowie dem Verdrehen von Gliedmaßen mit dem Ziel der Schmerzzufügung (sogenannte Schmerzgriffe). Einige Personen wurden einfach über vorhandene Absperrungen geworfen.
Michèle Winkler kommentiert: „Das Polizeihandeln war sichtlich davon motiviert, die Zufahrtswege für die Teilnehmender zur AfD-Veranstaltung freizuhalten bzw. freizuräumen. Sobald dieses Ziel auch nur im Ansatz gefährdet schien, entstand Hektik auf Seiten der Polizei, sie eskalierte ruhige Situationen und setzte teilweise unvermittelt brutale Gewalt ein. Insbesondere die sogenannten Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) hatten offenbar die Aufgabe, schnellstmöglich Demonstrant*innen von der Straße zu prügeln. Einer der brutalsten Übergriffe ging nach Beschreibungen unserer Beobachter*innen jedoch von Personenschützer*innen des BKA in Zusammenspiel mit umstehenden Polizist*innen aus, um die Weiterfahrt einer Limousine mit AfD-Funktionär*innen durchzusetzen. Etwa 20-30 Personen mussten im Nachgang ärztlich behandelt werden, mindestens eine Person wurde mit einem RTW abtransportiert.“
Michèle Winkler führt weiter aus: „Besonders schockiert waren wir auch vom gezielten Einsatz großer Mengen von Pfefferspray in beengten Verhältnissen auf kurze Distanz und häufig direkt in das Gesicht von Protestierenden. Pfefferspray ist ein Reizgas, das zu starken Schmerzen und Atemwegsbeschwerden führt und Langzeitschäden bis hin zum Tod auslösen kann. Wir haben mehrere Dutzend durch Pfefferspray verletzte Personen gesehen. Auch mussten wir vereinzelt beobachten, wie Beamt*innen völlig die Beherrschung verloren und wie im Rausch wiederholt auf Personengruppen einschlugen, und vereinzelt sogar von Kolleg*innen aus dem Einsatz gezogen werden mussten.“
„Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Versammlungsfreiheit eben gerade nicht gewährleistet ist, wenn nur punktuell Proteste stattfinden können, die der Polizei ins Konzept passen. Versammlungsfreiheit ist erst dann hergestellt, wenn alle Protestierenden ihr Versammlungsrecht weitgehend ungestört – und vor allem unverletzt – ausüben können. Es gibt gesetzliche Vorgaben, an die sich die Polizei zu halten hat.
Dass die Polizei diese kennt und sich selektiv daran hält, dass sie die vorgegeben Abläufe sogar peinlich genau einhalten kann, wenn sie denn will, haben wir am 11. Januar in Riesa ebenso beobachtet wie das genaue Gegenteil: das Ignorieren sämtlicher Mindestansprüche an Verhältnis- und Rechtmäßigkeit. Wir verstehen die beschriebenen brutalen Episoden nicht als Ausnahmeerscheinung einzelner Polizeieinheiten – dafür haben wir sie unabhängig voneinander an zu vielen Stellen beobachten müssen. Vielmehr sind diese gezielten Gewalteinsätze als die strategische Unterordnung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit und der Gesundheit der Protestierenden unter konkurrierende Zielsetzungen zu deuten.“
Wie schon in verschiedensten Medien berichtet, wurden unter anderem der parlamentarische Beobachter und Landtagsabgeordnete Nam Duy Nguyen sowie sein Begleiter Opfer gezielter polizeilicher Schläge. Der Angriff auf offen erkennbare Beobachter*innen ist in der Tat ein Skandal. Doch auch hier müssen wir die Berichterstattung und viele kursierende Einordnungen kritisch bewerten, die allein diesen Angriff auf einen Abgeordneten als Tabubruch skandalisieren. Vielmehr verdichtet sich in diesem Angriff aber gerade die Systematik polizeilicher Gewalt, zeigt er doch, welchen Gefahren sich all diejenigen ständig aussetzen müssen, die ihr Recht auf freie und öffentliche Meinungsäußerung und öffentliche Bekundungen von Dissens wahrnehmen.
Eine ausführlichere Auswertung unserer Beobachtungen der Polizei- und Ordnungsbehörden während der Proteste gegen den Bundesparteitag der AfD in Riesa wird in den kommenden Wochen als Bericht erscheinen.