01. März 2024 © Michèle Winkler
Polizeigewalt / Prozessbeobachtung

PRESSEMITTEILUNG: Katastrophales Urteil in Mannheim - unverhohlener Ableismus und institutionelle Nähe von Strafjustiz und Polizei

„Die Verteidigung hätte das Urteil auch gleich diktieren können.“: Am heutigen Vormittag ging am Landgericht Mannheim der Strafprozess gegen zwei Polizisten zu Ende, deren Einsatz am 2. Mai 2022 zum Tod des 47-jährigen Mannheimers Ante P. geführt hatte. Der Hauptangeklagte Polizist L.J. war angeklagt gewesen, Körperverletzung im Amt mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung im Amt begangen zu haben. Er wurde nun allerdings nur für vier Faustschläge gegen den am Boden liegenden Ante P. der Körperverletzung im Amt für schuldig befunden. Er soll eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 50 Euro zahlen.

Sein Kollege B.Z., dem fahrlässige Tötung durch Unterlassen vorgeworfen worden war, weil er seinen Kollegen nicht zurückgehalten und den sich nicht mehr bewegenden Ante P. knapp sechs Minuten gefesselt in Bauchlage hatte liegen lassen, wurde freigesprochen. Laut Gericht habe nicht zweifelsfrei bewiesen werden können, dass die als rechtswidrig erkannten Faustschläge auch einen Anteil am Tod von Ante P. gehabt hätten. Vielmehr sei auch ein plötzlicher Herzstillstand möglich gewesen, was den beiden Polizisten nicht zugerechnet werden könne. Demnach hätte auch ein Drehen in die stabile Seitenlage Ante P. nicht zweifelsfrei gerettet, daher könne man keine fahrlässige Tötung durch Unterlassen annehmen.

Unsere Prozessbeobachterin Michèle Winkler erklärte dazu: „Rund 70 Zeug*innen hatten am 2. Mai 2022 mit ansehen müssen, wie Ante P. minutenlang unbeweglich auf dem Bauch lag und ihm niemand zu Hilfe kam. So zeigten es auch die Videoaufnahmen, die im Gerichtssaal vorgeführt wurden. Auch Hinweise aus der Menschenmenge, dass Ante P. nicht mehr atme, hatte die neben ihm knienden Polizisten laut Zeugenaussagen nicht zum Handeln bewegt. Dieses Nichthandeln soll nun strafrechtlich nicht beanstandbar sein, weil A.P. möglicherweise trotz Hilfeleistung verstorben wäre. Das ist mehr als zynisch. Dass diese Argumentation auch für zivile Angeklagte zu einem Freispruch geführt hätte, darf getrost bezweifelt werden. Ein gegenteiliges Urteil des BGH, das beide Nebenklagevertreter angeführt hatten, ließ das Gericht unkommentiert.“

Das Urteil der fünfköpfigen Kammer zeichnete sich dadurch aus, dass sie in nahezu sämtlichen Ausführungen das Narrativ der Verteidigung der beiden Polizisten bzw. der inhaltlichen Einlassungen des L.J. übernahm. Die Verteidigung machte aus Ante P. eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, er sei in einem wahnhaften Zustand gewesen. Ein beauftragter Gutachter ging soweit zu behaupten, Schizophrene seien mit Vorsicht zu genießen und bekannt für Tötungsdelikte und Suizide. Die Verteidigung setzte also maßgeblich auf ableistische Stereotype, das Gericht adelte dieses verabscheuungswürdige Vorgehen mit seinem Urteil.

Laut aktueller Forschung sind psychisch erkrankte Personen einem deutlich erhöhten Gewaltrisiko durch die Polizei ausgesetzt. Das Ausmaß an Stigmatisierung hat einen Einfluss auf das mögliche Einschreiten gegen psychisch erkrankte Menschen. Dies erklärt sich unter anderem durch die wissenschaftlich nicht haltbare Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen als gefährlich und unberechenbar1, exakt die hier vorherrschende Argumentation.

Dieses Risiko für Leben und Unversehrtheit für Menschen mit psychischen Erkrankungen beachtete das Gericht nicht. Der vorsitzende Richter sprach davon, dass eine „abstrakte Gefahr“ von Personen mit einem „akuten psychotischen Schub“ ausgehe. Man hätte Ante P. nicht einfach ziehen lassen können, da nicht abschätzbar sei, wie sich eine psychotische Person verhalten werde.“ Zur Untermalung dieser Einschätzung wählte das Gericht die zwei Zeug*innenaussagen aus, die Ante P.s Reaktionen als „aggressiv“ beschrieben hatten. Die deutlich überwiegenden Zeuge*innenaussagen, die sagten, Ante P. habe einfach nur in Ruhe gelassen werden wollen, blieben unberücksichtigt. Auch diverse Videoaufzeichnungen belegen, Ante P. lief vor dem Eingreifen der beiden Polizisten ruhig und langsam durch die Innenstadt. Die Situation veränderte sich erst mit Eingreifen der Polizei. Sie führte durch das Umschwenken von Kommunikation auf körperliche Intervention die Eskalation herbei.

Dazu Michèle Winkler: „Offensichtlich sind die die Handlungsentscheidungen der Polizisten am Tattag von stigmatisierenden Einstellungen geleitet gewesen. Das zeigte die Einlassung des Hauptangeklagten, wie auch in der Wahl der Verteidigungsstrategie, insbesondere die Plädoyers der Verteidigung. Skandalös ist, dass auch die Kammer diese ableistischen Einstellungen wiederholt und somit die Gewalteskalation gegen Ante P. als gerechtfertigt bewertet. Diese justizielle Rechtfertigung tödlicher Gewalt gegen eine vulnerable Person kann dazu führen, dass die Mannheimer Polizei Personen zukünftig psychischen Ausnahmesituationen noch häufiger mit Gewalt begegnet. Dem müssen wir uns als Menschenrechtsorganisation ebenso wie als Teil der Zivilgesellschaft entgegenstellen.“

Und weiter: „Zwischen die Aussagen der angeklagten Polizisten und ihrer Verteidigung und dem Urteil des Gerichts, passt kein Blatt Papier. Dies zeigt eine enge institutionelle Verquickung von Strafjustiz und Polizei auf. Die Verteidigung hätte das Urteil auch gleich diktieren können.“

Wir verweisen für weiterführende Einordnungen auf die Initiative 2. Mai Mannheim, die im Vorfeld der Urteilsverkündung eine Pressemitteilung herausgegeben hat und eine umfangreiche Zwischenbilanz veröffentlichte. Dagmar Kohler, frühere Arbeitskollegin Ante P.s und Mitglied der Initiative 2. Mai Mannheim fasste ihre Bewertung des Prozesses folgendermaßen zusammen: „Im Prozess ging es ständig um Polizeirechte, aber nicht um Menschenrechte. Der einzige menschliche Moment im Prozessverlauf war, als die Mutter von Ante das Wort ergriffen hat.“

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1Wittmann, Linus. (2021). Braucht die Polizei multiprofessionelle Ansätze für die Interaktion mit psychisch erkrankten Menschen?. 24-29. JOURNAL: Polizei & Wissenschaft