Inhaltswarnung: explizite Darstellungen polizeilicher Gewaltanwendung
Der große Saal des Nachbarschaftshauses Urbanstraße in Berlin war am Abend des 23. Oktober 2024 bis auf den letzten Platz besetzt. In einem Bündnis mit acht weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen hatten wir als Grundrechtekomitee zu einem Podiumsgespräch geladen: „Schmerzgriffe als polizeiliche Praxis: Menschenrechte schützen, Polizeigewalt entgegentreten“.
Eine gesonderte Beschäftigung mit dieser Polizeipraxis war notwendig geworden, da diese in den letzten Jahren zunehmend häufiger verwendet zu werden scheint. Betroffene rassistischer Polizeieinsätze erleben diese Praxis schon lange und auch Klimaprotestierende sind mehr und mehr von Schmerzgriffen betroffen. Gerade im Zusammenhang mit Klimaprotesten gibt es hierfür inzwischen deutlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Videos, auf denen der behandschuhte Griff in Augenhöhlen und Kieferpartien, das Verdrehen von Armen und das Umbiegen von Fingern zu sehen ist, werden tausendfach geteilt. Die Polizei bezeichnet solche Gewaltanwendung euphemistisch als „Nervendrucktechniken. Obwohl es vom Namen her nicht sofort ersichtlich ist: auch das Knien auf Hals- und Nackenpartien zählt dazu. Dass diese Praktiken nicht nur brutal und traumatisierend, sondern auch lebensgefährlich sind, weiß seit dem Mord an George Floyd im Jahr 2020 in Minneapolis (USA) auch die breite Öffentlichkeit. Dennoch ist dies eine, auch von Polizist*innen in Deutschland, ungebrochen angewandte Gewalttechnik.
Schmerzgriffe im Kontext von Klimaprotesten
Für die Veranstaltung in Berlin war es uns als Bündnis wichtig, verschiedene Betroffenenperspektiven sichtbar zu machen. Dies hat die besondere Stärke des Abends ausgemacht. Den Anfang machte Lars Ritter. Er sprach als Aktivist der Klimagerechtigkeitsgruppe Letzte Generation über seine Erfahrungen mit polizeilichen Schmerzgriffen bei Klimaprotesten, insbesondere von einem Vorfall im April 2023 in Berlin. Ein Polizist hatte ihm bei einer Sitzblockade mit Gewalt gedroht, wenn er nicht selbständig die Blockade verlasse: „Wenn ich Ihnen Schmerzen zufüge, wenn Sie mich dazu zwingen, werden Sie die nächsten Tage – nicht nur heute – Schmerzen beim Kauen und beim Schlucken haben“. Lars Ritter antwortete ihm, er säße hier friedlich, der Polizist müsse das nicht tun. Kurz darauf zogen der Polizist und ein weiterer Polizeibeamter Lars Ritter am Hals nach oben und ließen ihn danach zu Boden fallen. Im Anschluss verdrehte ein Polizist ihm zunächst das Handgelenk und dann so stark den Arm, dass Lars Ritter vor Schmerzen mehrfach laut aufschrie. Er berichtete in der Veranstaltung, dass er seinen Körper nicht mehr spüren konnte und sich auch längere Zeit nicht mehr an das Erlebte erinnerte. Dies nannte Ärzt*in und ebenfalls Podiumsteilnehmer*in Isa Paßlick Dissoziation – eine der möglichen Reaktionen auf starken Schmerz. Zusammen mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) klagt Lars Ritter gegen den Polizeieinsatz im April 2023 in Berlin.
Der Jurist Joschka Selinger, der bei der GFF den Schwerpunkt „Demokratie und Grundrechte“ leitet, erläuterte, dass die Polizei zwar Gewalt – sogenannten „unmittelbaren Zwang“ – anwenden dürfe, dabei aber stets das mildeste Mittel zu wählen habe. Einer Person beim Wegtragen aus einer Blockadesituation zusätzliche Schmerzen zuzufügen, bspw. durch das Verdrehen von Gliedmaßen, verstoße klar gegen diesen Grundsatz. Unter anderem deswegen seien Schmerzgriffe als rechtswidrig einzustufen.
Aus unseren zahlreichen Demonstrationsbeobachtungen wissen wir: Die Polizei hat in der Vergangenheit schon tausende von Menschen ohne Schmerzgriffe von Deutschlands Straßen, aus besetzten Häusern und Kohlegruben tragen können. Auch wenn dabei schon immer variierte, wie brutal Polizist*innen bei Räumungen vorgehen, gibt es eingeübte polizeiliche Praxen, die problemlos ohne Schmerzgriffe auskommen, es ist schlicht eine Frage des Willens. Die massenhafte mutwillige Schmerzzufügung muss als Ausdruck einer Brutalisierung der deutschen Polizei bzw. bestimmter Polizeibehörden verstanden werden.
Lars Ritter berichtete zudem, dass es starke Unterschiede zwischen dem Vorgehen der Polizeibehörden in verschiedenen Bundesländern gebe. Insbesondere in Berlin und Hamburg werden ihm zufolge Schmerzgriffe sehr häufig angewendet, wogegen dies in Bayern aus seiner Erfahrung bisher nicht vorkam. Das liege laut Joschka Selinger daran, dass manche Landespolizeien diese Techniken schlicht nicht lehren würden. In Berlin etwa sei dies Teil der Ausbildung. Allerdings gäbe es in keinem der Bundesländer eine explizite Rechtsgrundlage dafür. Kein Polizeigesetz in Deutschland erlaubt Schmerzgriffe explizit.
Medizinische und juristische Perspektiven auf Schmerzzufügung
Aus medizinischer Sicht, erläuterte Isa Paßlick, Ärzt*in und Mitglied des Verein Demokratischer Ärzt*innen (vdää), was Schmerz ist, welche Funktion er hat, und was passiert, wenn die Polizei durch bestimmte Handlungen mutwillig Schmerzen beim Gegenüber auslöst. Schmerzen signalisieren dem Körper Gefahr und aktivieren verschiedene Reaktionen, um ihn vor dieser Gefahr zu schützen. Diese körperlichen Reaktionen sind laut Isa Paßlick zum einen individuell, da Schmerzempfinden und -reaktion sich von Person zu Person unterscheiden. Zum anderen seien sie nicht aktiv steuerbar. Unter der Annahme, dass die Schmerzzufügung kein reiner Selbstzweck ist, sondern in einer konkreten Situation ein bestimmtes Verhalten erzwingen soll, etwa das Aufstehen und Mitlaufen einer Person, so sind diese Techniken demnach vollkommen ungeeignet.
Allerdings kann die erlebte Gewalt bzw. das Wissen um diese Gewalttechniken so einschüchternd wirken, dass Menschen von der Teilnahme an Versammlungen oder Sitzblockaden abgeschreckt werden. Das ist sicherlich eine der intendierten Folgen, was sich auch darin zeigt, dass teilweise gezielt sehr junge Aktivist*innen mit Schmerzgriffen malträtiert werden. Der Jurist Joschka Selinger fügte hinzu, dass Schmerzgriffe aus seiner Sicht auch grundsätzlich gegen die Europäische Konvention zur Verhütung von Folter (CPT) verstoßen. Die Konvention verbietet Folter, sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Schmerzgriffe sind laut Joschka Selinger klar als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einzustufen.
Rassistische Polizeigewalt
Zefanias Mundzik sprach als Überlebender rassistischer Polizeigewalt und berichtete von einer Situation, in der er zunächst von Sicherheitspersonal der öffentlichen Verkehrsbetriebe Berlins angegriffen wurde, als er einer wohnungslosen Person zu Hilfe kommen wollte. Die hinzugerufene Polizei schützte aber nicht ihn vor den Übergriffen der Security-Mitarbeiter, sondern führte die Gewalt fort und nahm ihm mit einem Knie im Nacken die Luft zum Atmen, bis er ohnmächtig wurde. Zefanias Mundzik kämpft seit Jahren für Gerechtigkeit und konnte eine eigene Verurteilung nur abwenden, weil Kameraaufnahmen seine Handlungen zeigten. Zusätzlich zum Weg über die Justiz, hat er auf dem Podium den Start der Kampagne Polizei im Nacken bekannt gegeben, deren Ziel es ist, ein Verbot der Polizeipraxis der Kniefixierung zu erreichen.
Von einer ähnlich traumatisierenden Begegnung mit der Berliner Polizei berichtete der palästinensische Aktivist Molhem. Im Rahmen einer Demonstration sei er auf der Straße von hinten gepackt und seine Arme verdreht worden. Erst einige Momente später habe er festgestellt, dass es sich bei den Angreifern um Polizisten handelte. Er wisse bis heute nicht, was der Grund für diesen Angriff gewesen sei. Besonders schlimm sei es geworden, als er in einen Mannschaftswagen der Polizei gebracht wurde und die Türen geschlossen wurden. Ihm längere Zeit mit dem Knie gegen den Brustkorb gedrückt, sodass er Schwierigkeiten hatte zu atmen. Noch heute habe er Schmerzen im Brustkorb. Eindrücklich schilderte Molhem, dass er aus Syrien geflüchtet sei, um in einer Demokratie zu leben und um seine Meinung frei äußern zu können und nun erlebe er auf den Straßen Berlins massive Polizeigewalt und Einschüchterung. Dieser Vorfall sei das Schlimmste, was ihm je geschehen sei.
Molhem und Zefanias Mundzik haben sich beide Unterstützungen bei ReachOut gesucht, einer Beratungsstelle für Opfer rechter und rassistischer Gewalt und Bedrohung in Berlin, die auch Opfer von Racial Profiling und rassistischer Polizeigewalt berät. Parto Tavangar, Beraterin bei ReachOut, stellte klar, dass die Erlebnisse von Molhem und Zefanias Mundzik keine Einzelfälle sind. Viele Menschen suchten bei Ihnen Rat, weil sie rassistische Polizeigewalt erleben. Seit Oktober 2023 habe sich die Situation massiv verschlimmert. Insbesondere palästina-solidarische Menschen und alle, die auf Berlins Straßen als muslimisch oder arabisch wahrgenommen würden, seien seit Monaten Ziel von Überwachung, Polizeigewalt und Einschüchterung.
Wider die Einschüchterung
Über die massive Zunahme dieser Gewaltmaßnahmen waren sich alle Podiumsteilnehmenden einig. Übereinstimmend analysierten sie Polizeibrutalität im Allgemeinen und Schmerzgriffe im Besonderen als Einschüchterungsstrategien, die darauf zielten, dass weniger Menschen in der Öffentlichkeit Dissens äußern, sei es in Bezug auf die deutsche Unterstützung israelischer Kriegsverbrechen, die unzureichende Klimapolitik oder den Umgang mit wohnungslosen Menschen im öffentlichen Raum.
Unser Vorstandsmitglied Aaron Reudenbach fasste seine Eindrücke des Abends so zusammen: „Die Berichte der Betroffenen schilderten eindrücklich, wie selbstverständlich Schmerzgriffe und andere Formen der Gewalt angewendet werden, während die gerichtliche Aufarbeitung häufig unerklärlich verzögert wird oder gar nicht erst erfolgt. Dadurch wurde deutlich, dass Rechtskämpfe, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle bei der Überwindung solch gewaltvoller Praktiken und ihrer Ursachen spielen können.“ Im Zentrum muss hingegen ein politisches Vorgehen dagegen stehen. Die Gründung des Bündnisses gegen Schmerzgriffe und die Podiumsveranstaltung sehen wir als Schritte auf dem Weg zur Abschaffung von Schmerzgriffen.
Das Bündnis besteht aus: Amnesty International Deutschland | Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) | Green Legal Impact | Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) | Komitee für Grundrechte und Demokratie | ReachOut Berlin | Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) | Verein demokratischer Ärzt*innen | Verein Rückendeckung für eine aktive Zivilgesellschaft (RAZ)
Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und der Mitschnitt wird von Amnesty International veröffentlicht. Wir werden über die Veröffentlichung informieren.