Die Corona-Pandemie legt seit Monaten die weltweit herrschenden gesellschaftlichen Ungleichheiten erbarmungslos bloß. Während sich in Europa erst eine erneute Ausbreitung des Corona-Virus andeutet, kostet die Pandemie in anderen Teilen der Welt ungebrochen extrem viele Menschenleben. Insbesondere schwarze Menschen sind davon – nicht nur in den USA – ungleich stärker betroffen, sowohl gesundheitlich als auch materiell. Denn sie haben aufgrund des herrschenden strukturellen Rassismus einen schlechteren Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und sind überproportional häufig von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen.
Wie ein Staat mit marginalisierten Gruppen umgeht, sagt viel über den Zustand der Grundrechte und der Demokratie in einem Land aus. Fünf Monate nach dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland müssen wir feststellen, dass die Beseitigung gesellschaftlicher Ungleichheit in der politischen Bewältigung der Corona-Krise kaum eine Rolle spielt. Auch in Deutschland bleiben insbesondere diejenigen Menschen gefährdet, die sich ein Social Distancing schlichtweg finanziell nicht leisten können.
Auch Hartz-IV-Empfänger*innen sind von einer Infektion mit Corona um ein Vielfaches stärker betroffen. Geringverdienende und Erwerbslose leiden besonders stark unter der Corona-Krise, die auch in ökonomischer Hinsicht existenzbedrohend ist. Selbst die "Corona-Warn-App" reproduziert die herrschenden Verhältnisse: Die Anforderung nach einem Smartphone mit den nötigen technischen Voraussetzungen schließt einmal mehr Geringverdienende und solche aus, die gar kein Mobiltelefon besitzen: Wer die App nutzen will, muss es sich leisten können.
Seit langem fordern auch Bewohner*innen vieler Flüchtlingslager - oft erfolglos - dezentral untergebracht zu werden, um einer wahrscheinlichen Ansteckung in den Massenunterkünften zu entgehen. Zu viele Menschen auf engem Raum und fehlende Hygienemöglichkeiten führen bundesweit immer wieder zu Neuinfektionen in Geflüchtetenunterkünften und Quarantänemaßnahmen für ganze Gruppen, auch wenn sie negativ getestet sind. Dem Zustand entkommen konnten bislang allerdings vor allem Einzelpersonen, die individuell gegen die Unterbringung geklagt hatten.
Denn die Empfehlungen für Geflüchtetenunterkünfte des Robert-Koch-Instituts (RKI) werden in der Praxis selten umgesetzt. Dazu gehört etwa eine präventive getrennte Unterbringung von Risikopersonen, die Unterbringung in Einzelzimmern, Wohnungen und Hotels bzw. kleinen Wohneinheiten, um Ansteckungen und längere Quarantänen für größere Gruppen zu verhindern. Die rassistische Abschreckungs-Politik durch Isolation von Geflüchteten in Lagern wird auch im Ausnahmezustand aufrechterhalten.
Weitere Hotspots der Pandemie sind die Großbetriebe etwa der Fleisch- und Agrarindustrie, wie die Spargel- und Erdbeerpflücker*innen, und zuletzt waren Schlachtbetriebe besonders betroffen. Viele der aus Osteuropa angeworbenen Arbeitskräfte erhalten nur geringen Lohn – sofern er ihnen nicht gänzlich vorenthalten wird – und wohnen in der Regel in Sammelunterkünften mit schlechtem Hygienestandard, die ihnen der Arbeitgeber zuweist und sich teuer bezahlen lässt. Auf notwendige Arbeitsschutzmaßnahmen in den Betrieben wird weitgehend verzichtet, trotz des Wissens um die hohe Ansteckungsgefahr.
Auch zwingt die Angst vor dem Jobverlust prekär Beschäftigte, sogar krank zur Arbeit zu erscheinen. Den „Gastarbeiter*innen“ aus Osteuropa die Schuld für die Ausbreitung des Virus zu geben, wie es Armin Laschet, Ministerpräsident von NRW und der Tönnies-Konzern taten, ist ebenso durchsichtig wie stereotyp rassistisch. Ein nationaler und rassistischer Fokus findet sich häufig im Umgang mit dem Virus, von den Grenzschließungen über das Bunkern von medizinischer Ausstattung oder das unsolidarische Sichern eines möglichen Corona-Impfstoffes, das den Globalen Süden außen vor lässt.
Alten- und Pflegeeinrichtungen hat der Corona-Virus ebenfalls übermäßig stark betroffen. Ein Drittel der Covid-19-bedingten Todesfälle traf einer Studie zufolge Bewohner*innen von Pflegeheimen, auch waren Beschäftigte übermäßig infiziert. Das Fehlen von Schutzkleidung und systematischen Tests sowie Zeitdruck und Personalmangel sind Folgen eines profitorientierten Gesundheits- und Pflege-Systems. Der Personal- und Zeitmangel rief überdies Einsamkeit hervor, da Menschen in Alten- und Pflegeheimen über viele Wochen keinen Besuch empfangen durften und somit die Beschäftigten die einzigen sozialen Kontakte der Heimbewohner*innen darstellten.
Die Bewältigung der Corona-Krise war und ist patriarchal. Denn die erforderliche Sorge-Arbeit geht besonders zu Lasten von Frauen, sowohl in Pflegeeinrichtungen als auch privat, wo insbesondere Frauen Haushalt und Home Office schmeißen und zudem die Kinder hüten, solange Kindergarten und Schulen geschlossen sind. Beratungsstellen melden einen extremen Anstieg häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder. Während dessen sind Diskussionsrunden und Entscheidungsgremien überproportional männlich besetzt. Kinder- und Frauenfragen sind nicht nur in der öffentlichen Diskussion über die Pandemie unterrepräsentiert, sondern auch Entscheidungen über Schutz- und Lockerungsmaßnahmen zu ihren Gunsten. Sie werden in überwältigendem Anteil von Männern getroffen und wurden erst deutlich später diskutiert und umgesetzt, wie etwa die Öffnung von Spielplätzen.
"Wir werden nicht zum Normalzustand zurückkehren, denn der Normalzustand ist das Problem" (Projektion auf einer Hauswand während der Proteste in Santiago de Chile)
Kein Zurück zum Normalzustand!
Die tiefgreifendsten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung waren in Deutschland keine vier Wochen alt, als schon die ersten zur "neuen Normalität" riefen. Vom österreichischen Kanzler Kurz erstmals genutzt, fand der Ausdruck auch in Deutschland sehr schnell Verbreitung in konservativen und wirtschaftsliberalen Kreisen. Es sei jetzt eben normal, dass das private und soziale Leben weitgehend lahmgelegt sei, nun müsse aber zumindest das Schlimmste für die Wirtschaft vermieden werden. Es dauerte nicht mehr lang, bis erste Lockerungen verabschiedet wurden. Am 20. April traten die wohl größte Änderung in Kraft: die Öffnung von Geschäften bis 800m².
Während für viele Menschen die aktuellen Lockerungen der Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie tatsächlich eine schrittweise Rückkehr zur "Normalität" bedeuten, herrschte in vielen Wirtschaftsbereichen allerdings die gesamte Zeit über Normalbetrieb. Nicht nur in den "systemrelevanten" Bereichen, wie der Nahrungsmittelproduktion, in der Energieerzeugung oder dem Gesundheitssektor. Auch bei Heckler und Koch oder Rheinmetall wurden aufgrund guter Auftragslage ohne Unterbrechung Waffen produziert.
Nicht viel mehr als der möglichst schnellen Rückkehr zu einer altbekannten Normalität entsprechen auch die Forderungen derjenigen, die zunächst im April und Mai – zeitgleich mit den Lockerungen – und jüngst erneut wie etwa in Berlin, verstärkt gegen die Einschränkung ihrer Grund- und Freiheitsrechte – gegen Maskenpflicht und Abstandsregeln – "rebellieren". Genau genommen stehen die Forderungen der "Querdenker" aber ganz im Einklang mit denjenigen Regierungsvertreter*innen, die ökonomische Interessen über die gesundheitlichen Bedenken stellen und sich für eine schnelle Wiederaufnahme der Produktion und die "neue Normalität" einsetzen.
Natürlich gab und gibt es mehr als genug Gründe, sich aus grund- und menschenrechtlicher Sicht kritisch mit den Maßnahmen und den massiven Grundrechtseinschränkungen zu beschäftigen und dieser Kritik Ausdruck zu verleihen. Die Eingriffe waren und sind massiv und sehr pauschal, beispielsweise die komplette Aussetzung des Versammlungsrechts. Dies wurde mit guten Gründen vom Bundesverfassungsgericht gekippt, wenn dieses auch ein paar Wochen benötigte bis zu der überfälligen Entscheidung. Auch ausladende Bußgeldkataloge und Strafverfahren wegen Verstößen gegen die Corona-Anordnungen, sowie die Disziplinierung der Bürger*innen durch Polizei und Ordnungsamt sind besorgniserregende Methoden.
Bei den schnell von der organisierten Rechten dominierten Demonstrationen wird jedoch immer wieder deutlich: Es geht vielen Anwesenden vor allem um ihre eigenen Befindlichkeiten. Rücksicht auf Angehörige von Risikogruppen oder ein Bezug auf die Folgen der herrschenden Ungleichheiten aufgrund struktureller Bedingungen wird weder auf den Veranstaltungen, noch in Redebeiträgen genommen.
Der vergleichsweise sanfte Verlauf der Corona-Pandemie in Deutschland nährte die grundsätzliche Infragestellung von Maßnahmen gegen ein Virus, das "nicht schlimmer als eine Grippe" sei. Verschwörungsmythen, oft mit antisemitischem Unterton, dienten dort als einfache Deutungen der Krise, wo eine grundsätzlichere Kritik an struktureller Ungleichheit, hervorgerufen durch das kapitalistische Wirtschaftssystem, angebracht wäre.
Das Verbreiten von Fehlinformationen über das Virus, angereichert mit rechtem und rassistischem Gedankengut, verbreitet sich auch weiterhin im Internet. Die Wirkmächtigkeit der Verschwörungsmythen ist auf der Straße wie auch virtuell höchst gefährlich.
Eine Krise hat stets das Potential für einen radikalen Kurswechsel. Der erzwungene Lockdown zu Beginn der Corona-Pandemie zeigte beispielsweise mit der weitgehenden Einstellung des Individualverkehrs per Auto und Flugzeug, wie schnell und umfassend eine Gesellschaft notfalls in der Lage ist, einschneidende Veränderungen vorzunehmen. Was trotz fortschreitender Klimakrise vorher undenkbar schien, wurde aufgrund der weltweiten Pandemie innerhalb kürzester Zeit Wirklichkeit – wenn auch möglicherweise für begrenzte Zeit.
Das beschlossene Rettungspaket für die Lufthansa oder der Vorschlag für eine Abwrackpremie für Autos weisen jedoch in eine völlig falsche Richtung, weiterhin einer zerstörerischen Logik folgend. Auch wenn zumindest die Abwrackprämie verhindert wurde, zeigen diese Vorstöße, dass an der propagierten "neuen Normalität" nur wenig Neues ist. Die Rückkehr zum "neuen" Normalzustand bedeutet vielmehr die Festschreibung bestehender Ungleichheiten, basierend auf Rassismus, Patriarchat, ökologischer Ausbeutung und kapitalistisch strukturierter Wirtschaft.
Selbst da, wo die fortschreitende Prekarisierung der sozialen Infrastruktur überdeutlich wurde, tut sich im Grunde nichts. So müssen sich Arbeitenden im Gesundheitswesen auch lange Zeit nach dem Ausbruch der Pandemie vor allem mit symbolischer Anerkennung durch Händeklatschen und warme Worte zufrieden geben. Ein einmaliger finanzieller Bonus für einen Teil der Arbeitenden in der Pflege wird die permanente Überbelastung nicht ändern. Nur ein am Menschen ausgerichtetes Gesundheits- und Pflegesystem kann dem Grundrecht auf Würde und Leben gerecht werden. Eine tiefgreifende Veränderung im Gesundheits- und Pflegesektor zeichnet sich aber bisher nicht ab.
Eine simple Rückkehr zu einer Welt vor Corona kann daher nicht unser Ziel sein, denn sie basiert auf Ungleichheit und Ausgrenzung. Die aktuellen Richtungsentscheidungen zur Bewältigung der Pandemie und ihren ökonomischen Folgen werden aber auf Dauer folgenreich sein, denn die sich abzeichnende weltweite Wirtschaftskrise wird das derzeitige Verteilungsgefälle noch ungleich verschärfen und auf Jahrzehnte festlegen.
Vor der Corona-Krise hatten sich an mehreren Orten der Welt Menschen gegen soziale Ungleichheit und Ausbeutung aufgelehnt. Aktuell fordern vor allem in den USA Schwarze Menschen ihre Rechte ein, gegen eine jahrhundertealte Unterdrückung und Deklassierung, die nicht nur dort neben rassistischen Morden in unzähligen Corona-Toten mündet. Der Normalzustand ist folglich das Problem – und nicht die Lösung.