Ende Dezember 2021 wurde der folgende Offene Brief an die Justizministerien der Länder geschickt. Inzwischen sind die ersten Antworten eingetroffen (siehe unten). Die Antworten aus Berlin und Sachsen-Anhalt sind leider pauschal und lassen konkrete Angaben vermissen. Das Justizministerium Sachsen gab genauere Informationen.
23.12.2021
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Zahlen der Neuinfektionen und der auf den Intensivstationen behandelten Patient*innen steigen seit dem Herbst stetig. Derzeit befinden sich etwa 50.000 junge Menschen und Erwachsene in Strafhaft und Sicherungsverwahrung. Hinzu kommen ca. 12.000 Menschen in Untersuchungshaft. 1 Menschen in Haft und Arrest, vor allem Kinder und Heranwachsende, sind eine seelisch, psychisch und körperlich vulnerable Gruppe.
Alarmierend ist zudem, dass sich die Suizidrate von inhaftierten Menschen seit Beginn der Corona-Pandemie verdoppelt hat. Gleichzeitig wurden zur Eindämmung der Pandemie in Gefängnis- und Arresteinrichtungen strenge Einschränkungen vorgenommen.
Zeitweise wurden bzw. werden die Möglichkeiten für Besuche ausgesetzt und/oder eingeschränkt (etwa der Einsatz von Trennscheiben) und teilweise durch digitale Kontaktmöglichkeiten ersetzt. Langzeitbesuche wurden/werden untersagt, der Zugang von externen Anbietenden (Bildungs-, Sport- und Freizeitangebote, zivilgesellschaftliches Engagement etc.) ist mancherorts bis heute begrenzt bzw. ausgesetzt. Vollzugslockerungen wurden/werden (teilweise) nicht umgesetzt.
Im Vergleich mit den – notwendigen – Grundrechtseinschränkungen zur Minderung des Infektionsrisikos in Freiheit wiegen die genannten Eingriffe unweit schwerer und übertreffen vielerorts die getroffenen kommunalen/regionalen Lockdown-Maßnahmen.
Deshalb möchten wir Sie als Entscheidungsträger*innen fragen: Mit welcher Begründung weichen die Coronaschutzmaßnahmen in Ihren Einrichtungen von denen in Ihrer Stadt/Ihrem Kreis ab? Und was werden Sie dafür tun, um dem Angleichungsgrundsatz gerecht zu werden?
Erweiterte Grundrechtseinschränkungen bei Menschen in Haft müssen deutlich kritischer diskutiert und geprüft werden, als es im aktuellen Diskurs über das öffentliche Leben während der Pandemie geschieht.
Die ohnehin prekäre Grundrechtslage und Lebenssituationen von Menschen in Haft werden durch die Coronabeschränkungen zusätzlich verschärft. Systematische Daten zur fachlichen Einschätzung der derzeitigen Lage sind nicht zugänglich, Informationen müssen durch freiwillige Befragungen oder mühselige Recherchen zusammengetragen werden. Die Bundesregierung konnte im Juli 2021 keine Information zu verschärften Versorgungslücken aufgrund der Coronabeschränkungen in Haft geben. Völlig offen ist derzeit, wie lange die Einschränkungen anhalten werden.
Angesichts der beschriebenen einschränkenden und gesundheitsgefährdenden Situation ist eine Verbesserung der Lebenssituationen von Menschen in Haft dringend erforderlich.
Mit Blick auf die Fachliteratur, vereinzelte Praxisbeispiele sowie (grund)rechtliche Erfordernisse fordern wir Sie zu folgenden Maßnahmen auf:
- Aussetzung von Haft bei Minderjährigen
- Aussetzung von Jugendarrest
- Aussetzung von Ersatzfreiheitsstrafen
- Aussetzung von Untersuchungshaft
- Aussetzung von Abschiebungshaft
- Großzügige Ausschöpfung der Möglichkeiten zur vorzeitigen Entlassung
- Entlassung von besonders gefährdeten Personen (chronisch Erkrankte, Drogen gebrauchende Menschen, Menschen mit Behinderungen usw.)
- Einsatz und Kontrolle der 3-G-Regel, konsequentes Befolgen der bewährten Hygienemaßnahmen (“AHA”), eine engmaschige Dokumentation zur Kontaktnachverfolgung, der Einsatz von Schnelltests sowie, regelmäßige Pool-Tests (PCR)
- Klärung der Lohnfortzahlung bei Schließung der Arbeitsbetriebe
- Ermöglichung von Besuch sowie Zugang für ehrenamtlich engagierte Personen, Angehörige von Beratungsstellen und Bildungsträgern unter Einsatz und Kontrolle der 3-G-Regeln aufrecht erhalten.
- Regelmäßiger Kontakt und Besuchszeiten müssen auch während einer Pandemie ermöglicht werden. Nach Vorlage eines Schnelltests muss auch ein Besuch mit Körperkontakt ermöglicht werden. Die Schutzmaßnahmen sind in geschlossenen Einrichtungen und aufgrund der Enge des Zusammenlebens wichtig. Es muss jedoch unter Einhaltung der Schutzvorkehrungen möglich sein, dass Gefangene ihre Kinder, Verwandten und Partner*innen berühren können.
- Ermöglichen von digitaler Kommunikation, aber nicht als Ersatz für analoge Kontakte
Das Netzwerk Abolitionismus ist ein Zusammenschluss gefängniskritischer und strafrechtsskeptischer Gruppen und Personen. Das Credo des Netzwerks ist im abolitionistischen Manifest zusammengefasst, welches von 70 Expert*innen aus Praxis und Wissenschaft erstunterzeichnet wurde.