19. Okt. 2021 © dpa
(Anti-)Rassismus / Europa / Menschenrechte / Recht auf Asyl / Soziale Menschenrechte

Offener Brief in Solidarität mit Mimmo Lucano

Der ehemalige Bürgermeister von Riace, Domenico Lucano, wurde in Italien in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. Er hatte in seiner Amtszeit in dem kleinen Riace mit nur 1.800 Einwohner*innen einen Ort des Willkommens etabliert, um Geflüchteten und dem schrumpfenden Dorf und seinen Bewohner*innen eine langfristige Perspektive zu geben, indem er dort 450 Migrant*innen ansiedelte. Der neofaschistische Matteo Salvini ging dagegen vor, nun zog die Justiz nach. Dagegen stehen wir mit vielen anderen in Solidarität mit "Mimmo" und haben diesen offenen Brief mit unterzeichnet:


An:
Herrn Mario Draghi, Präsident des Ministerrats
Frau Luciana Lamorgese, Innenministerin
Frau Marta Cartabia, Justizministerin

Als Gruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft sind wir bestürzt über die Verurteilung von Domenico "Mimmo" Lucano zu einer Freiheitsstrafe ersten Grades durch das Gericht von Locri und erklären unsere uneingeschränkte Solidarität mit Mimmo. Das Urteil ist beschämend und ungerecht und verkörpert die rechtsextreme und rassistische Migrationspolitik, die sich in Europa etabliert hat. Wir fordern die italienische Regierung und alle zuständigen Behörden auf, Domenico Lucano unverzüglich freizusprechen und ihre menschenfeindliche Migrationspolitik zu beenden.

Mimmo Lucanos Wirken als Bürgermeister war ein lebendiges, konkretes Beispiel für ein Leben in Solidarität. Er hat gezeigt, dass Integration, Gerechtigkeit und soziale Unterstützung möglich sind und die Flut von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit umkehren können. Seine Verurteilung zeugt nicht von Gerechtigkeit, sondern wirft ein Schlaglicht auf rassistische politische Strategien, die Solidarität kriminalisieren und Europas Grenzen zementieren.

Seit 1993 wurden über 44.764 Menschen durch die militarisierte Politik an den Grenzen der Festung Europa getötet. Tausende weitere werden brutal kriminalisiert, verfolgt und unterdrückt, nachdem sie Europa erreicht haben - jeder Tag ist ein Überlebenskampf. Die EU-Mitgliedstaaten wenden gewaltsame und illegale Taktiken an, um Asylsuchende im Rahmen von durch die EU finanzierten Operationen zurück über ihre Grenzen zu drängen.

Aus zahlreichen Berichten geht hervor, dass Migrierende in den letzten Monaten bei so genannten "Pushback"-Operationen, die von maskierten Männern in Kroatien, Rumänien und Griechenland durchgeführt wurden, verprügelt und beschossen wurden. Hinzu kommen die berüchtigten Angriffe und Pushbacks durch die sogenannte libysche Küstenwache, die von der EU finanziert und von der italienischen Marine ausgebildet wird.

Die europäischen Staaten unterlassen es, den Menschen auf der Flucht sichere Fluchtwege, Unterkünfte und weitere Unterstützung zu bieten. Sie unterlassen es, Menschen in Not zu retten und sich mit ihrer eigenen Verantwortung und Mitschuld an der erzwungenen Migration auseinanderzusetzen.

In Lagern, Asylzentren, Abschiebezentren und auf der Straße haben sich Menschen auf der Flucht organisiert, um gegen unmenschliche Bedingungen, Inhaftierungen und Abschiebungen zu protestieren und ein Bleiberecht mit sicheren und lebenswerten Zukunftsperspektiven zu fordern. Während die EU und die europäischen Regierungen ihre Verantwortung leugnen und sich nicht an internationales Recht halten, treten NGOs, Aktivisten und Menschen wie Mimmo Lucano auf den Plan und demonstrieren Solidarität in der Praxis. Europa lagert seine internationalen Verpflichtungen an die Zivilgesellschaft aus.

Diese Proteste werden oft mit staatlicher und polizeilicher Repression beantwortet. Solidarität wird oft kriminalisiert. Such- und Rettungsschiffe werden beschlagnahmt und die Besatzungen verhaftet, ebenso wie andere Menschen, die Menschen auf der Flucht unterstützen und gegen Europas tödliche Grenzpolitik und Institutionen vorgehen. Besetzte Unterkünfte wurden geräumt, die Verteilung von Lebensmitteln und Hilfsgütern an den Grenzübergängen unterbrochen, Aufstände in Asyl- und Abschiebezentren gewaltsam niedergeschlagen, Menschen in Isolationszellen gesteckt, ihnen medizinische und rechtliche Hilfe verweigert und sie gewaltsam abgeschoben.

Europa hat eine Geschichte von Kolonialismus, Sklaverei, Imperialismus, Extraktivismus und Ausbeutung, die bis heute andauert. Die Grenzpolitik der EU institutionalisiert diese Gewalt, Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten Verantwortung dafür übernehmen und Gemeinschaft statt Mauern bauen. Der derzeitige Kurs löst keine Probleme, sondern verlagert sie gewaltsam nach außen - ein Beispiel dafür ist die enge Zusammenarbeit und die finanzielle und materielle Unterstützung Italiens für die libysche Küstenwache, die sich durch Pullbacks ständig der Gewalt gegen Menschen auf der Flucht schuldig macht.


Wir stehen uneingeschränkt an der Seite der Menschen auf der Flucht und derjenigen, die sie unterstützen. Jede*r sollte die Freiheit haben, sich frei zu bewegen und zu leben - aber niemand sollte gezwungen werden, seine Heimat zu verlassen. Die Militarisierung von Grenzen ist keine Lösung. Eine andere Migrationspolitik, die auf der Analyse von Ursachen und Verantwortung für Zwangsmigration sowie auf Solidarität beruht, ist möglich und notwendig.

Lassen Sie Mimmo frei und beenden Sie die Verfolgung von Menschen auf der Flucht und derer, die sie unterstützen. Solidarität wird niemals ein Verbrechen sein.