31. März 2025 © Justice Collective
(Anti-)Rassismus / Kriminologie / Polizei

Offener Brief: Die polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet

Wissenschaftler*innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft warnen vor der politisierten Nutzung der polizeilichen Kriminalitätsstatistik, die jedes Jahr dafür genutzt wird, falsche Narrative über steigende Kriminalität und vermeintlich „kriminelle Migrant*innen“ zu verbreiten. Die Unterzeichnenden stellen das durch das BKA und die Medien gezeichnete statistische Bild entschieden in Frage und betonen, dass die PKS zur Polarisierung der Gesellschaft und Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen beiträgt.

Die staatliche Sicherheitspolitik, die sich auch in der PKS ausdrückt, ist nicht nur seit jeher weitgehend entkoppelt von sämtlichem kriminologischen Wissen, sondern stellt mit ihrem Fokus auf Kriminalisierung und Polizieren mehr Unsicherheit her. Diese Polizeipraktiken tragen zur Stigmatisierung und Ausgrenzung marginalisierter Gruppen bei. Anstatt der alljährlichen Panikmache rund um die Veröffentlichung der PKS-Daten fordern wir eine ehrliche Diskussion darüber, wie eine für alle sichere Gesellschaft geschaffen werden kann. Im Folgenden liefern wir eine evidenzbasierte und kritische Analyse der PKS-Daten aus kriminologischer und antirassistischer Perspektive.

Die PKS dient der Politik als zentrales Instrument zur Legitimation repressiver Maßnahmen gegen Migrant*innen in Deutschland, an denen der Erfolg politischer Maßnahmen gemessen wird. Durch die Ethnisierung von Gewalt wird die Verantwortung für grundlegende gesellschaftliche und politisch geschaffene Probleme auf Migrant*innen abgewälzt. Steigen die Zahlen in bestimmten Bereichen der Statistik, werden Migrant*innen zur Ursache erklärt und ein „hartes Durchgreifen“ der Sicherheitsbehörden als Lösung inszeniert. Sinken die Zahlen hingegen, bleibt die rassistische Perspektive bestehen: Es wird weiterer Handlungsbedarf konstruiert und gleichzeitig der Rückgang als Beleg für den Erfolg einer harten Politik gewertet.

Kurzum: Es gibt in Deutschland weder eine beispiellose Zunahme von Kriminalität und Gewalttaten, einschließlich Messerkriminalität, noch sind Menschen, die als Migrant*innen gelesen werden, für vermeintliche Anstiege der Gewalt verantwortlich. Die Verbreitung dieses Narrativs untergräbt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem sie rechtsextreme Erzählungen befeuert.

Die PKS misst nicht „die“ Kriminalität

Jedes Jahr stellen Polizei, Innenministerien und Medien die PKS als verlässliche Datenquelle zur Sicherheitslage in Deutschland dar. Doch das ist ein Trugschluss: Die PKS ist in erster Linie ein Tätigkeitsbericht der Polizei und gibt Aufschluss darüber, worauf diese im vergangenen Jahr einen besonderen Fokus setzte (z.B. durch verstärkte Polizeipräsenz an bestimmten Orten) und was die Bevölkerung zur Anzeige brachte. Zudem erfasst sie nur Tatverdächtige, über die strafrechtliche Schuld entscheidet später die Justiz. Hinzu kommt, dass Menschen mit geringer Beschwerdemacht, insbesondere Menschen mit Migrations- oder Rassismuserfahrungen, einem besonderen Diskriminierungsrisiko ausgesetzt sind, wenn sie sich an die Polizei wenden.

Zudem ist die Art der Datenerhebung oft von politischen Vorgaben und Interessenlagen geprägt. So führt beispielsweise ein politischer Fokus auf „Messerkriminalität“ zu mehr Bemühungen, solche Straftaten zu erfassen, und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch Verhaltensweisen, bei denen keine körperlichen Verletzungen entstehen, in diese Kategorie eingeordnet werden. Gleichzeitig bleiben viele Formen von Gewalt und Leidzufügung in der PKS unberücksichtigt. Durch Konzerne verursachte Umweltschäden, Steuerbetrug und andere für die Gesamtgesellschaft schädliche Delikte tauchen in der Statistik nicht auf. Das liegt auch an der politischen Entscheidung, bestimmte gesellschaftliche Gruppen, insbesondere Menschen, die in Armut leben oder rassifiziert werden, zu kriminalisieren und unter Kontrolle zu stellen.

Keine „Kriminalitätswelle“: Erfasste Straftaten sinken wieder

Jedes Jahr begleiten das BKA, das Innenministerium und die Medien die Veröffentlichung der PKS mit einer alarmistischen Berichterstattung, die suggeriert, Deutschland erlebe eine „Kriminalitätswelle“ und werde zunehmend unsicher. Doch die Daten selbst widersprechen dieser Erzählung: Zwar gab es in den Jahren nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie einen Anstieg, jedoch ging die Kriminologie von einer Normalisierung und teils von Nachholeffekten aus. Und tatsächlich, die zuvor veröffentlichten Daten der Länder zum Jahr 2024 verzeichnen bereits einen Rückgang registrierter Straftaten zum Vorjahr. Auch eine historische Betrachtung belegt einen langzeitigen Rückgang verzeichneter Straftaten, ebenso wie eine langfristige Betrachtung einen kontinuierlichen Rückgang zeigt. 2023 wurden rund 5,94 Millionen Straftaten registriert. Zum Vergleich: 1993 lag der Höchstwert bei 6,75 Millionen, 2003 bei 6,57 Millionen. Auch wenn die Zahlen auf- und abgehen: Die Polizei erfasst heute 13 % weniger Straftaten als 1993. Statt diese Gesamtentwicklung, die sich aus ihren eigenen Daten ergibt, zu präsentieren, werden jedoch nur politisch opportune Zeiträume vorgestellt.

Problematische Verknüpfung von „Gewaltkriminalität“, Messern und Migration

Die Narrative, die Migration mit zunehmender Gewaltkriminalität und „Messerkriminalität“ verknüpfen, sind politisch motiviert und entbehren einer soliden Datengrundlage. Das ist aus zwei Gründen irreführend. Einerseits werden Messerangriffe erst seit 2020 in der Bundes-PKS registriert und seit 2021 veröffentlicht, sodass es keine belastbaren Vergleichsmöglichkeiten über den Zeitverlauf gibt, insbesondere da die Länder zu Beginn verschiedene Deliktgruppen hierunter zählten. Zweitens bestimmt die Polizei durch die Erschaffung von Deliktgruppen und Lageberichten eine Schwerpunktsetzung, die auch dazu führt, dass bestimmte Gruppen und Orte stärker kontrolliert und überwacht werden. Maßnahmen wie Waffenverbotszonen und die Konstruktion „gefährlicher Orte“ führen zu verstärkten Kontrollen, besonders in migrantisch geprägten und ärmeren Vierteln. Solche Praktiken führen dazu, dass Menschen, die migrantisiert werden oder in Armut leben, in der Polizeilichen Kriminalstatistik überrepräsentiert sind. Die Berichterstattung zur PKS bedient selektiv Narrative, die Angst vor „Ausländerkriminalität“ schüren und Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht legitimieren sollen. Begriffe wie „Messerkriminalität“ oder „Clankriminalität“ sind Medienbegriffe, die dem politischen Ziel der Ethnisierung von Kriminalität dienen, d.h. der empirisch widerlegten Zuschreibung einer Kriminalitätsneigung anhand der Herkunft.

Innenministerien und Polizei deuten Entwicklung der Cannabiszahlen im eigenen Interesse

Die sinkenden Fallzahlen bei Betäubungsmitteldelikten veranschaulichen, dass die Reform durch das neue Cannabisgesetz (CanG) ihre beabsichtigte Wirkung zeigt: Weniger Menschen werden wegen Besitz, Kauf und Weitergabe von Cannabis kriminalisiert. Dadurch könnten vor allem rassifizierte Gruppen, die von dieser Kriminalisierung besonders betroffen sind, entlastet werden. Dennoch fordern Polizeisprecher und Innenministerien vor dem Hintergrund der Reform den Ausbau ihres Personals sowie weitere Ressourcen und letzten Endes eine Umkehr der Reform. Dieses Vorgehen zeigt ein grundlegendes Problem: Unabhängig davon, ob Fallzahlen sinken oder steigen, wird stets gefordert, die Polizei auszubauen.

Fehlende Aufmerksamkeit für Betroffene rassistischer staatlicher Gewalt

Die Berichterstattung und politische Debatte rund um die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) ignorieren zudem systematisch die Gewalt, die Menschen, die migrantisiert oder marginalisiert werden, durch den Staat erfahren. Da bestimmte Gruppen als Bedrohung für die innere Sicherheit dargestellt werden, bleibt die daraus resultierende staatliche Gewalt gegen diese Gruppen unsichtbar oder wird verharmlost.

Dabei sind marginalisierte Personen in besonderer Weise von Polizeigewalt betroffen. Nahezu sämtliche Todesfälle bei Polizeieinsätzen treffen von Rassismus betroffene Menschen, Menschen in psychischen Ausnahmesituationen und wohnungslose Personen. Polizeigewalt bleibt jedoch systematisch untererfasst: Jährlich werden zwischen 2.000 und 3.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet, laut Studien stellen jedoch über 90 % der Betroffenen keine Anzeige. Besonders im öffentlichen Raum sind Menschen, die rassifiziert und marginalisiert werden, massiver polizeilicher Kontrolle ausgesetzt. An öffentlichen Orten werden Personen, die angeben, von Rassismus betroffen zu sein, doppelt so häufig kontrolliert wie Personen, die deutsch gelesen werden. Insbesondere trifft das auf rassifizierte junge Männer zu. In der Justiz setzt sich diese Ungleichbehandlung fort: Studien zeigen, dass rassifizierte Menschen systematisch härtere Strafen erhalten.

Doch statt über diese realen Ungerechtigkeiten zu sprechen, dominiert eine sicherheitspolitische Erzählung, die Kriminalität mit Migration verknüpft. Stattdessen braucht es eine ehrliche Diskussion über den Aufbau einer Gesellschaft, die dem Schutz und dem Wohlergehen aller dient. Dafür ist es entscheidend, die Realität migrantischer Menschen in Deutschland, sowie ihre negativen Erfahrungen mit den Sicherheitsbehörden ernstzunehmen und die materiellen Bedingungen zu stellen, die zur Sicherheit aller beitragen.

Die Unterzeichnenden (Stand 1.4.2025)

  • Antidiskriminierungsforum Saar e.V.
  • Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg
  • Amnesty International Deutschland e.V.
  • Autonomes Knastprojekt
  • Copwatch Hamburg
  • Copwatch Leipzig
  • European Prison Litigation Network
  • EXIT-EnterLife e.V.
  • Freiheitsfonds
  • Gefangenen-Gewerkschaft / Bundesweite Organisation (GG/BO)
  • GG-Solidaritätskreis Köln
  • Ihr Seid Keine Sicherheit
  • Internationale Liga für Menschenrechte
  • Justice Collective e.V.
  • Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
  • Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen e.V. (KuB)
  • KOP
  • My Brain My Choice Initiative
  • Postmigrantischer Jurist*innenbund e.V.
  • Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V.
  • ReachOut
  • Solidaritätskreis Mouhamed Lamine Dramé Dortmund
  • Tatort Zukunft e.V.
  • Wings And Roots e.V.
  • Laila Abdul-Rahman, Kriminologin, Goethe-Universität Frankfurt a.M.
  • Dr. Sevda Can Arslan, Universität Paderborn
  • Prof. Dr. Bernd Belina, Goethe-Universität Frankfurt
  • Dr. Nicole Bögelein, Universität zu Köln
  • Prof. Dr. Robin Celikates, Professor für Philosophie, Freie Universität Berlin
  • Mohammed Chahrour, Kein Generalverdacht
  • Prof. Dr. Thomas Feltes M.A., Ruhr-Universität Bochum
  • Hannah Espín Grau, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht der Goethe-Universität Frankfurt am Main
  • Luise Klaus, Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt
  • Katharina Leimbach, Dr’in., Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Universität Bielefeld
  • Prof. Dr. Daniel Loick, Universität Amsterdam
  • Dipl. Soz. Jana Meier
  • Dyana Rezene, Universität zu Köln
  • Jorinde Schulz, Mitherausgeberin der Anthologie “Generalverdacht - Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird”
  • Dr. Vanessa E. Thompson, Assistant Professor, Department of Gender and Black Studies, Queen’s University
  • Prof. Dr. Gina Rosa Wollinger, HSPV NRW
  • Prof. Dr. Andreas Zick, wiss. Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld

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