Als Teil des Bündnisses zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe unterstützen wir den Brief an Bundesjustizminister Marco Buschmann und an die Medien, den wir im Folgenden dokumentieren:
Sehr geehrter Bundesjustizminister Marco Buschmann,
mit diesem Schreiben nehmen wir Bezug auf Ihr Interview mit der Funke Mediengruppe, erschienen im Artikel „Buschmann prüft geringere Strafen fürs Schwarzfahren“, am 17. Juli 2022 in der WAZ. Im Rahmen dieses Interviews wurden auf Basis Ihrer Aussagen falsche Informationen veröffentlicht. Aufgegriffen von AFP und Reuters fanden diese weite Verbreitung. Wir möchten Sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir die entsprechenden Redaktionen mit Bitte um Richtigstellung angeschrieben haben.
Unsere Kritik bezieht sich auf Ihre Aussage: Schweden habe „die Ersatzfreiheitsstrafe so gut wie abgeschafft, und dann gemerkt, dass die Zahlung von Geldstrafen heftig ins Stocken geraten ist. Das Land hat das Experiment wieder rückgängig gemacht.“, die von der Funke Mediengruppe, Reuters und entsprechende Folgemedien zitiert wurde. Wobei AFP sogar eine verschärfte Einschätzung verbreitet hatte, in der behauptet wird, dass in Schweden eine „vollständige Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe“ zu fiktiven Zahlungsverzögerungen führte.
Diese Aussage ist falsch: Schweden hat die Ersatzfreiheitsstrafe nie vollständig abgeschafft und führt sie dementsprechend auch jetzt nicht wieder ein, um eine Art „Experiment“ rückgängig zu machen. Das schwedische System ist so konzipiert, dass auf das Mittel der Inhaftierung bei nicht bezahlten Geldstrafen nur äußerst selten zurückgegriffen wird, ein System, das seit Jahrzehnten so funktioniert.
Daten der frühen 1980er Jahre zeigen, dass damals pro Jahr etwa 29 Personen inhaftiert wurden, und für das Jahr 2019 zeigen Daten, dass von 63.658 Fällen, in denen eine Geldstrafe verhängt wurde, 13 Personen ins Gefängnis mussten, weil sie ihre Strafen nicht bezahlt hatten. In Schweden müssen Personen, die eine Geldstrafe erhalten haben, nur dann ins Gefängnis, wenn sie mutwillig nicht bezahlen, obwohl sie es könnten – nicht aber, wenn sie unfähig sind. In Deutschland hingegen führt die Unfähigkeit zu zahlen unweigerlich zu Inhaftierung.
Schweden hat im Januar 2021 eine Gesetzesänderung in Kraft gesetzt, die Richter*innen zu etwas mehr Ermessen befugt, was die Inhaftierung von Menschen angeht, die ihre Geldstrafen nicht zahlen. Falls Sie sich auf diese Gesetzesänderung beziehen, liegen Sie mit Ihrer Einschätzung darüber ebenso falsch.
Es handelt sich hierbei keineswegs um einen Kurswechsel oder gar eine Rückgängigmachung, sondern um eine geringfügige Anpassung. Auch das bestätigen die Daten: Zwischen Januar 2017 und September 2022 (d. h. teilweise nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes) wurden nur 47 Fälle an die Staatsanwaltschaft verwiesen, bei denen eine Inhaftierung in Frage kam.
Die schwedische Haltung ist hier klar: „Der Zweck der Geldstrafe besteht nicht darin, alle Geldstrafen, die nach der Rückforderung nicht gezahlt werden, in eine Freiheitsstrafe umzuwandeln.“
Der Vollständigkeit halber möchten wir an dieser Stelle noch ein weiteres Ihrer Argumente einordnen:
Ihre Aussage: „Studien zeigen, dass Betroffene oft erst dann zahlen, wenn sie merken, dass tatsächlich das Gefängnis droht,“ reproduziert eine seit Jahrzehnten wiederholte, aber empirisch nicht abgesicherte Meinung, dass Inhaftierung zur Zahlung führen würde.
Die Realität des deutschen Systems der Ersatzfreiheitsstrafen ist aber vielmehr, dass Menschen, die in Obdachlosigkeit leben, Suchtprobleme oder psychische Erkrankungen aufweisen und langzeitarbeitslos sind, gezwungen werden, Geld zu bezahlen, das sie nicht haben. Nur 15 % der Personen in Ersatzfreiheitsstrafen verfügen über ein Einkommen, das nicht aus Transfer- oder Unterstützungsleistungen (wie ALG II) besteht. 4 Falls es einigen gelingt, doch zu bezahlen, so verschulden sie sich dafür bei Angehörigen, die oft in einer vergleichbaren finanziellen Lage sind.
Wir bitten Sie, diese Hinweise zur Kenntnis zu nehmen. Für ein Gespräch stehen wir Ihnen bei Bedarf gern jederzeit zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen,
Mitali Nagrecha und Dr. Nicole Bögelein
Mit Unterstützung und Mitarbeit von dem Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe:
AG Straße Linke Neuköln | Berliner Obdachlosenhilfe e.V. | #BVGWeilWirUnsFürchten | Entknastung – Naturfreundejugend Berlin | EXIT-EnterLife e.V. | #freiheitsfonds | GG/BO | Ihr Seid Keine Sicherheit | Justice Collective | Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. | Strafvollzugsarchiv e.V. | Tatort Zukunft e.V.
Einen Überblick über das Vorgehen in Schweden erhalten Sie hier