Am 9. November haben wir zusammen mit vielen weiteren Initiativen den folgenden Brief an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie an die Bundesagentur für Arbeit gesendet:
Betreff: Abweisender Umgang mit Leistungsberechtigten aus EU-Staaten in den Jobcentern; Verweigerung von berechtigten Leistungsansprüchen
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir, die unterzeichnenden Personen bzw. Organisationen, wenden uns an Sie, da wir in großer Sorge sind über den Umgang von Jobcentern mit Staatsangehörigen der EU, die Leistungen nach dem SGB II beantragen oder beziehen. Seit einiger Zeit nehmen wir eine stark zunehmende restriktive und abweisende, z. T. auch diskriminierende Praxis der Jobcenter gegenüber Unionsbürger*innen wahr: Leistungen werden oftmals unberechtigt abgelehnt, Antragstellende werden bereits in der Eingangszone abgewiesen, die Herausgabe von Antragsunterlagen wird verweigert, ergänzende Dokumente zur Glaubhaftmachung von Tatsachen werden in unverhältnismäßigem Maße angefordert.
Unterm Strich zeigt sich in unserer Wahrnehmung eine – zunehmend strukturell angelegte – Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder der (vermuteten) Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen oder sozialen Gruppe. Dies muss man nicht nur als diskriminierend bezeichnen, sondern dies hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Betroffenen: Menschen, die aufgrund einer prekären ökonomischen Situation dringend auf sozialstaatliche Unterstützung angewiesen sind, erhalten diese nicht oder nur unter unzumutbaren Schwierigkeiten. Unser subjektiver Eindruck ist:
Das Ziel der Jobcenter ist weniger das Ziel des „Förderns und Forderns“ leistungsberechtigter und hilfebedürftiger Personen, als immer häufiger die Abwehr unerwünschter Personengruppen. Eine häufig vorkommende Aussage durch Jobcenter-Mitarbeiter*innen bereits in der Eingangszone ist: „EU-Bürger*innen bekommen in den ersten fünf Jahren ohnehin keine Leistungen.“ Eine Aussage, die in dieser Form keinerlei Entsprechung im Gesetz hat.
Klarstellend sei hinzugefügt: Es geht uns mit dieser Kritik nicht um die gesetzlich geregelten und politisch gewollten Leistungsausschlüsse für bestimmte Gruppen ausländischer Staatsangehöriger (die wir indes aus menschenrechtlichen und sozialpolitischen Erwägungen ebenfalls scharf ablehnen, aber das wäre eine andere Diskussion), sondern um eine Kritik an der Nichtanwendung des geltenden Rechts.
Nach unserer Überzeugung ist eine wesentliche Ursache für die dargestellte veränderte Praxis der Jobcenter in der Veröffentlichung der Arbeitshilfe „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“ inkl. umfangreicher „Checklisten“ aus Sommer 2020 zu sehen. Diese trägt den Zusatz „Nur für den internen Dienstgebrauch“ und ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden.
Die Arbeitshilfe baut auf zwei anders betitelten, aber weitgehend inhaltsgleichen Vorgängerversion auf (Arbeitshilfe „Bekämpfung von organisiertem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger“ vom 20. April 2018, Arbeitshilfe „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger vom 12. Februar 2019). Gegenüber den Vorgängerversionen ist die aktuelle Fassung rhetorisch etwas entschärft und besonders offen diskriminierende Formulierungen sind geändert worden. Die diskriminierende Wirkung der Arbeitshilfe wird indes dieselbe bleiben.
Die Arbeitshilfe hat das erklärte Ziel, „bandenmäßigen Leistungsmissbrauch“ durch EU-Bürger*innen zu erkennen und zu verhindern. Aus unserer Sicht ist die Arbeitshilfe indes gänzlich ungeeignet, dieses Ziel zu erreichen. Auch der Ausgangspunkt – die Vermutung einer „bandenmäßigen“ Missbrauchsstruktur – halten wir in diesem Zusammenhang in den meisten Fällen nicht nur für nicht tragfähig, sondern auch für unzulässig.
Vielmehr führt sie zu gezielter Stigmatisierungen allein aufgrund der Staatsangehörigkeit, einer besonders restriktiven „Sonderbehandlung“ im Jobcenter, in vielen Fällen zu einer Leistungsverweigerung trotz Rechtsanspruchs und zu einer völligen Verkennung der Realität im prekären Arbeitsmarktsektor.
Wir halten die in der Arbeitshilfe vertretenen Auffassungen an einigen Stellen für rechtlich nicht haltbar und in ihrer Gesamtheit für integrations- und sozialpolitisch kontraproduktiv. Daher bitten wir Sie, die Arbeitshilfe zurückzunehmen. Dies wollen wir im Folgenden begründen:
1. Stigmatisierung von Personen mit bestimmter Staatsangehörigkeit bzw. ethnischer Herkunft: Ressentiments werden verstärkt
Die Arbeitshilfe versucht Kriterien festzulegen, nach denen die Jobcenter einen „bandenmäßigen Missbrauch“ erkennen können. Kaum verhohlen ist dies für die Bundesagentur für Arbeit, jedenfalls in der alten Fassung, der Arbeitshilfe (auch) die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Staatsangehörigkeit oder gar ethnischen Gruppe: „Hier sind insbesondere rumänische und bulgarische Staatsangehörige zu nennen. Häufig gehören diese in ihrem Heimatland türkischsprachigen Minderheiten an. In Einzelfällen sind auch Italiener, Griechen, Polen und aus Marokko stammende Spanier bekannt geworden“, so die Formulierung in der Vorgängerversion.
Der Formulierung eines derartigen Generalverdachts gegenüber Personen mit bestimmter Staatsangehörigkeit oder mit bestimmter ethnischer Zugehörigkeit stehen wir dezidiert ablehnend gegenüber. Im Kern handelt es sich bei dieser Formulierung um die Stigmatisierung insbesondere von Roma – was durch den ebenso diffusen wie rassistisch konnotierten Begriff der „kriminellen Banden“ zusätzlich verstärkt wird.
In der aktuellen Fassung ist die Nennung konkreter Staatsangehörigkeiten an dieser Stelle zwar gestrichen worden. Auch findet sich in der aktuellen Fassung, anders als in den Vorgängerversionen, der ausdrückliche Hinweis, „dass EU-Bürger nicht unter Generalverdacht stehen, Leistungsmissbrauch zu begehen. Die überwiegende Mehrheit hat einen rechtmäßigen Anspruch auf SGB II-Leistungen. Eine umfassende und intensive Prüfung der Antragsunterlagen ist daher nur in den Fällen angezeigt, in denen Zweifel oder Unklarheiten bestehen.“ Diese Klarstellung war überfällig. Allerdings fürchten wir, dass sie in der Praxis nur eine begrenzte Wirkung entfalten wird, zumal der sonstige Inhalt der Arbeitshilfe weitestgehend erhalten geblieben ist.
Auch die aktuelle Fassung empfiehlt eine „Sonderbehandlung“ von bulgarischen und rumänischen Antragstellenden. So heißt es auf S. 7: „Falls rumänische Staatsangehörige betroffen sind, kann bei Zweifeln an der Identität der Person die staatliche Identifikationsnummer (…) auf der Internetseite www.validare.ro auf Echtheit geprüft werden. (…) Falls bulgarische Staatsangehörige betroffen sind, kann bei Zweifeln an der Identität die Gültigkeit der Ausweispapiere (nicht nur ID-Cards) auf einer Internetseite des bulgarischen Innenministeriums geprüft werden.“ Andere Nationalitäten werden nicht genannt.
2. Generalverdacht gegenüber Personen in prekären Beschäftigungsverhältnissen: Armut wird zu „Missbrauch“ umgelabelt
Die Arbeitshilfe hat das Ziel der „Vermeidung und Aufklärung rechtswidriger Leistungszahlungen an EU-Bürger“. Um diese feststellen zu können, sieht die Arbeitshilfe eine Vielzahl von Prüfkriterien vor, die die betroffenen Leistungsberechtigten zu erfüllen haben – aber faktisch kaum erfüllen können. Die Arbeitshilfe bringt gegenüber EU-Bürger*innen – trotz der anderslautenden Klarstellung auf S. 1 – einen kaum verklausulierten Generalverdacht zum Ausdruck, der dazu führt, dass Geringverdienende in prekären Beschäftigungsverhältnissen und aus bestimmten Herkunftsstaaten es sehr viel schwerer haben, einen (notwendigen und ihnen zustehenden!) ergänzenden Leistungsanspruch durchsetzen zu können.
Die „Erkennungsmerkmale“ sind überwiegend ungeeignet, einen vermeintlichen „bandenmäßigen Sozialleistungsmissbrauch“ zu erkennen (beispielhaft nennt die BA in einer Checkliste: z. B. folgende Kriterien: „Das Arbeitsverhältnis wird nach kurzer Zeit gekündigt, In Gesprächen beim Arbeitsvermittler wird oft eine Arbeitszeiterhöhung in Aussicht gestellt; Der Leistungsbezieher hat keinen schriftlichen Arbeitsvertrag; Der Leistungsbezieher hat keinen Nachweis zur Anmeldung bei der Einzugsstelle, Der Arbeitgeber hat seinen Betrieb nicht beim Unfallversicherungsträger angemeldet“ usw.). All diese Kriterien sprechen weniger für einen „bandenmäßigen Leistungsmissbrauch“, als für das Vorliegen einer tatsächlich, echten – aber prekären, ungeschützten, unsicheren und ausbeuterischen Beschäftigung. Diese Tatsache sollte gerade der Bundesagentur für Arbeit bewusst sein.
3. Umdeutung von Opfern zu Tätern
Die Arbeitshilfe deutet die eigentlichen Opfer von faktischer Arbeitsausbeutung, die auch durch fehlende Verhandlungsmacht gegenüber den Arbeitgeber*innen, von Unkenntnis des deutschen (Arbeits-)Rechtssystems und Sprachbarrieren begünstigt wird, zu Tätern um. Sie werden gleichsam zu Mitgliedern „krimineller Banden“ umdefiniert – für deren empirische Relevanz die BA indes keinerlei belastbare Zahlen vorlegen kann. Dies geht an der Realität des Niedriglohnsektors und der prekären Beschäftigung vollständig vorbei. Die Inanspruchnahme von ergänzenden Leistungen nach dem SGB II – insbesondere auch der Förderleistungen – sind kein „Missbrauch“, sondern ein Recht, das auch dazu dient, bestehende Ausbeutungsstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse zu überwinden bzw. zumindest abzumildern. Die Verweigerung von Leistungen führt in diesen Fällen hingegen zu einem noch stärkeren Abhängigkeitsverhältnis gegenüber einem womöglich ausbeutenden Beschäftigungsbetrieb.
4. Verweigerung des Förderns durch Ausschluss aus dem System: Integrationspolitisch kontraproduktiv
Die Jobcenter haben neben der Existenzsicherung die Aufgabe, durch Fördern die Integration in den Arbeitsmarkt nachhaltig zu verbessern. Dieses Ziel kann jedoch nicht erreicht werden, wenn Personen von vornherein und aufgrund zweifelhafter Indizien vom Zugang zu diesem Regelsystem ausgeschlossen werden. Der Ausschluss von SGB-II-Leistungen hat nicht nur zur Folge, dass faktisch auch andere Regelangebote versperrt sind – etwa die Krankenversicherung, der Integrationskurs, Leistungen für Bildung und Teilhabe usw. Die Konsequenz ist auch, dass prekäre Beschäftigungs- und Abhängigkeitsstrukturen stabilisiert werden. Dies ist integrationspolitisch kontraproduktiv und widerspricht der Zielsetzung des SGB II. Die Arbeitshilfe atmet in erster Linie den Geist von Kontrolle, Repression und Abwehr. Ansätze für Unterstützung, Integration, Förderung, Stärkung etc. finden sich nicht.
5. Geheimhaltung: Die Arbeitshilfe sollte öffentlich zugänglich gemacht werden
Die Arbeitshilfe inkl. der ergänzenden Prüfleitfäden ist mit dem Zusatz „Nur für den internen Dienstgebrauch“ versehen; ihre Weitergabe an außenstehende Personen ist nur mit Zustimmung der BA-Zentrale erlaubt. Die Zuwiderhandlung stellt für BA-Mitarbeiter*innen eine Dienstpflichtverletzung dar. Für Beratungsstellen (z. B. die Arbeitslosenberatung, die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer, Frauenhäuser, allgemeine Sozialberatung), deren Aufgabe auch in der Unterstützung von Unionsbürger*innen bei der Durchsetzung von Rechtsansprüchen auf Sozialleistungen liegt, ist der Inhalt der Arbeitshilfe ebenso wenig zugänglich wie für Betroffene selbst. Eine Anfrage auf Veröffentlichung der Vorgängerweisung nach dem Informationsfreiheitsgesetz durch das Portal fragdenstaat.de im November 2018 hat die Bundesagentur für Arbeit negativ beantwortet. Die Begründung: „Das Bekanntwerden der Information kann die öffentliche Sicherheit gefährden." Diese Einschätzung halten wir für nicht nachvollziehbar. Andersherum wird ein Schuh draus: Die Existenz der Arbeitshilfe selbst kann die soziale Sicherheit von Leistungsberechtigten gefährden.
Es muss für alle Beteiligten nachvollziehbar sein, auf welcher Grundlage behördliche Entscheidungen getroffen werden, zumal die Arbeitshilfe in der behördlichen Praxis faktisch die Funktion einer Verwaltungsvorschrift erfüllt.
6. Erfahrungen in der Praxis
Zahlreiche Kolleg*innen berichten von einer zunehmenden Zahl von Problemen ihrer Klient*innen mit den Jobcentern, die auch und zumindest indirekt mit der genannten Arbeitshilfe in Zusammenhang stehen dürften: Immer wieder wird rechtswidrig die Entgegennahme eines Antrags auf SGB-II-Leistungen oder die Herausgabe der Antragsformulare verweigert. Auch die Verweigerung von Leistungen trotz eindeutigen Vorliegens der rechtlichen Voraussetzungen wird aus den Beratungsstellen immer wieder zurückgemeldet. Häufig wird von den Kolleg*innen gerade gegenüber Unionsbürger*innen eine besonders strenge und zeitaufwändige Prüfung im Verwaltungsverfahren bemängelt, in denen die Anforderungen an Nachweis oder Glaubhaftmachung der Anspruchsvoraussetzungen weit über das übliche und gesetzlich vorgesehen Maß hinausgehen.
Die Folge ist in vielen Fällen, dass Leistungen trotz Vorliegens der Voraussetzungen viel zu spät oder gar nicht durchgesetzt werden können. Dadurch drohen nicht selten Wohnungslosigkeit und Verelendung. Dies ist insbesondere für besonders schutzbedürftige Personen, Familien mit Kindern, Alleinerziehende, kranke Personen oder Menschen mit Behinderungen ein Zustand, der nicht nur sozialpolitisch inakzeptabel ist, sondern auch der Rechtslage und dem Ziel des SGB II widerspricht.
Wir nehmen wahr, dass sich diese Praxis mit Veröffentlichung der genannten Arbeitshilfen nochmals verschärft hat. Wir bitten Sie daher, die Arbeitshilfe zu zurückzunehmen und sie bis zu einer Rücknahme zumindest öffentlich zugänglich zu machen. Wir bitten Sie außerdem, verstärkt darauf hinzuwirken, dass Rechtsansprüche auch tatsächlich verwirklicht werden können und nicht eine ganze Bevölkerungsgruppe diskriminierend behandelt wird.
Mit freundlichen Grüßen,
GGUA Flüchtlingshilfe e.V.
Tacheles e.V.
Landesarmutskonferenz Berlin (lak)
Aktion Würde & Gerechtigkeit e.V.
Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Stuttgart
Sozialforum Fürth
Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg e. V
BASTA Erwerbslosenberatung Berlin
Initiative Zivilcourage München
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Netzwerk Europa in Bewegung