Schikanen, Bußgelder und Platzverweise − durch das Infektionsschutzgesetz ist die Versammlungsfreiheit aus den Angeln gehoben.
Viele Bewohner*innen der Wohlwillstraße in Hamburg St. Pauli recken an diesem Abend neugierig die Köpfe aus den Fenstern. Das Schrillen dutzender Fahrradklingeln hat sie herausgelockt. Auch hier, wo es meist zugeht wie auf einem Wimmelbild, ist Abstandhalten das Gebot der Stunde. Dass jetzt Fahrradfahrer*innen auf und ab fahren und dabei »Refugees are welcome here« rufen, ist dieser Tage eine echte Abwechslung. Viele Radelnde tragen einen Mundschutz und haben Schilder mit »LeaveNoOneBehind« am Gepäckträger.
LeaveNoOneBehind ist eine Kampagne, die die Wiedereinsetzung des Asylrechts und die Aufnahme von Geflüchteten von den europäischen Außengrenzen fordert. Das kann nicht verboten sein. Und hatte die Kanzlerin nicht gesagt, Bewegung an der frischen Luft bei Einhaltung der Abstandsregeln sei gut? Nachbar Martin findet das richtig: »Wenn ich nicht auf die Kinder aufpassen müsste, würde ich jetzt auch mitdemonstrieren. Aber mal gucken, ob das gutgeht mit der Polizei. Uns haben sie neulich schon hops genommen, als wir mit den Kids Kreidemalen waren.«
Die Seebrücke hatte bundesweit dazu aufgerufen, den Slogan »Leave no one behind« einzeln oder zu zweit auf Straßen zu malen und Schuhe zu hinterlassen. Die Schuhe sollten als Symbol für die Menschen aus den griechischen Lagern stehen, die nicht hergelassen werden. Doch in den meisten Städten wurde dieser Plan von der Polizei durchkreuzt. Es kam zu Personalienaufnahmen, Strafanzeigen und satten Bußgeldern. Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee beobachtet das mit Sorge: »Leider schränkt die Polizei öffentliche Meinungsäußerungen gerade massiv ein. Das fängt beim Stören von Kreidemalen und Abhängen von Bannern mit politischen Meinungsäußerungen an, setzt sich fort mit dem Anhalten von Autofahrer*innen, die Botschaften an den Autofenstern kleben hatten, und geht sogar so weit, dass Menschen mit politischen Aufschriften auf T-Shirts beim Einkauf festgenommen wurden. Diese Einschränkung der Meinungsfreiheit lässt sich nicht mit Infektionsschutz begründen.« Natürlich müssten umfassende gegenseitige Rücksichtnahme und der Schutz des Lebens Vorrang haben, doch die vollständige Suspendierung des Versammlungsrechts in fast allen Bundesländern sei nicht verhältnismäßig, so Winkler.
Unterdessen schließen sich auf St. Pauli immer mehr Menschen dem unangemeldeten Fahrradprotest an. Mehr als 200 Radelnde sind es jetzt. Das ruft die Polizei auf den Plan, der es ohne Fahrrad sichtlich schwerfällt, dem Befehl, der aus den Funkgeräten knattert, Folge zu leisten: »An alle Einheiten: Die Leute sollen immer in Bewegung bleiben. Niemand soll vom Rad absteigen und herumstehen.« Geschwind laufen die Beamt*innen den Radler*innen hinterher. Ein ungleiches Katz-und-Maus-Spiel. Nachbar Martin, der sich inzwischen einen Stuhl vor die Haustür gestellt hat, schüttelt den Kopf: »Zum Spargelernten lassen sie die Leute rein, und in Griechenland lassen sie sie verrecken. Und wenn man das kritisieren will, machen die direkt so ein Affentheater.«
Ein Polizist biegt um die Ecke, hastet hinter einer jungen Radlerin her und schmettert sie vor den Augen vieler Anwohner*innen vom Fahrrad. Das Scheppern des Rades, die Schreie der Frau und das Brüllen des Polizisten hallen durch die enge Straße. Auf dem Boden zusammengekrümmt liegt die junge Frau und wird von elf Polizist*innen umstellt. Sie liegt ganz in der Nähe der Glasscheibe einer Telefonzelle. Das hätte böse ausgehen können. Zu ihr durchgelassen wird niemand: Infektionsschutzgesetz. »Das geht echt ab wie bei G20«, sagt Martin, der seine Kinder unterdessen lieber wieder ins Haus geschickt hat. Das der Vergleich gezogen wird, wundert nicht, schließlich war es 2017 zu massiver Polizeigewalt gekommen.
Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee fühlt sich an Wildwestfilme erinnert: »Es ist erschreckend, wie massiv die Polizei an vielen Stellen gerade über das Ziel hinausschießt. Kleinstversammlungen in Zweiergruppen oder Kundgebungen mit großen Abständen zwischen den einzelnen Personen wurden aufgelöst, mit Bußgeldern belegt und Strafverfahren wegen angeblichen Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz eingeleitet.« Es häuften sich mittlerweile die Bilder und Berichte von Einsätzen, bei denen Polizist*innen selbst nicht auf den Infektionsschutz achteten. Entweder indem sie selbst ohne Mundschutz den Betroffenen zu nahe kommen oder indem sie diese in geringen Abständen kesseln. Das seien autoritäre Praktiken, die in einer Demokratie nichts verloren hätten, so Winkler.
Wann das Versammlungsrecht wieder uneingeschränkt in Kraft treten wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Doch die Verlautbarungen des deutschen Ethikrates, der auch die Bundesregierung berät, lässt kaum Hoffnung aufkeimen. Man könne mit Petitionen und Online-Abstimmungen einen ähnlichen Effekt erzielen wie bei einer Demonstration, heißt es darin. »Diese Argumentation des Ethikrates anzuerkennen, hieße ja, dass schon immer auf Versammlungen und Meinungskundgabe im öffentlichen Raum hätte verzichtet werden können. Die Versammlungsfreiheit wäre demnach demokratisch irrelevant. Die Aussage offenbart ein defizitäres Demokratieverständnis«, kritisiert Winkler.
Auf St. Pauli hat es zu dämmern begonnen. Die schluchzende Frau ist noch immer umringt von einem Duzend Beamt*innen. Kein Mundschutz. Kaum Abstand. Zu der Attacke äußern will sich keiner der Beamten. In zweiter Reihe sammeln sich mehr und mehr Nachbar*innen. So trifft man sich wieder. »Ruft den Krankenwagen. Ich weiß, das ist scheiße, aber du musst deine Verletzungen dokumentieren lassen, damit die hier zur Rechenschaft gezogen werden«, ruft eine Frau. Martin hält Abstand. »Der Abend ist gelaufen«, sagt er. »Die Polizisten glauben wohl, sie wären gegen alles immun.«
Der Artikel von Carina Book erschien am 21. April in der aktuellen Ausgabe der Monatszeitschrift Analyse & Kritik