20. Aug. 2021
(Anti-)Rassismus / Armut / Europa / Flucht / Menschenrechte / Neoliberalismus/Kapitalismus / Soziale Menschenrechte

Mit Drohnen gegen Sozialleistungsbetrug? Rassismus im Workfare-Staat

Die Bundesregierung schränkt die sozialen Rechte von EU-Bürger*innen ohne deutschen Pass schon seit Jahren immer weiter ein. Sie haben in der Regel nur dann Anspruch auf Leistungen, wenn sie (oder ihre Familienangehörigen) erwerbstätig sind oder unfreiwillig ihre Arbeit verloren haben. Sie stehen aber ohne jede staatliche Absicherung da, wenn sie nicht lohnarbeiten.

Dieser Ausschluss verletzt soziale Grundrechte, fördert Überausbeutung und produziert Armut. Schätzungen sprechen von bis zu 40.000 Unionsbürger*innen, die in deutschen Städten durch alle sozialstaatlichen Netze fallen und auf der Straße leben. Seit Jahren rüsten Sozial- und Sicherheitsbehörden auf im Kampf gegen angebliche ‚Einwanderung in die Sozialsysteme‘ im Kontext der EU-Freizügigkeit.

In einer internen Arbeitshilfe der Agentur für Arbeit Bekämpfung von organisiertem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger (Stand 2018) verschränken sich rassistische, antiziganistische und klassistische Logiken: Allein der „verstärkte Zuzug von Rumänen und Bulgaren“ könne als Hinweis auf Leistungsmissbrauch gewertet werden. Weitere Kriterien für die Sonderbehandlung treffen auf einen Großteil der höchst prekären, aber nicht notwendigerweise kriminellen Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor zu: Sei es eine geringfügige Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit, häufiges Wechseln des Arbeitsplatzes im Bau-, Reinigungsoder Transportgewerbe oder die Kündigung nach kurzer Zeit.

Für kriminelle Strukturen sprächen zudem einheitlich ausgefüllte Anträge oder die mehrmalige Begleitung durch dieselben Dolmetscher*innen. Die Arbeitsagentur rät dazu,„Spezialteams zur Betreuung und evtl. auch Vermittlung des Personenkreises“ einzurichten und verstärkt mit Ordnungsbehörden zusammenzuarbeiten.

Das Bundeskriminalamt kaufte kürzlich sogar eine Drohne, um gegen „Sozialleistungsbetrug durch Unionsbürger“ vorzugehen. Ähnlich wie das rassistische Vorgehen gegen sogenannte „Clankriminalität“ zielt dieser Prozess der Kriminalisierung auf migrantische Communities. Er kann gleichzeitig auch als Radikalisierung der Hartz-Reformen gelesen werden, in der es ohne Lohnarbeit kein Recht auf Existenzsicherung mehr gibt.

Mit verschiedenen Initiativen, die für die Rechte von Migrant*innen und Erwerbslosen eintreten, forderte das Grundrechtekomitee die Arbeitsagentur 2020 mit einem Offenen Brief auf, ihre Arbeitshilfe zurückzuziehen. Nicht die Existenzsicherung stehe im Mittelpunkt des Papiers, sondern die „Abwehr unerwünschter Personengruppen“. Die Arbeitsagentur versprach, die Kritik „sehr ernst“ zu nehmen, lehnte die Forderung aber ab.

Aktuell können Sozialleistungsansprüche von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, so berichten Initiativen aus der Praxis, nicht selten nur vor Gericht durchgesetzt werden. Anträge auf „Hartz IV“ werden oft schon in der Eingangszone des Jobcenters und aufgrund fehlender Sprachkenntnisse abgewiesen – eine rechtswidrige Praxis.

In der aktuellen Debatte zu Ausbeutung in der Fleischindustrie und Landwirtschaft spielen sozialrechtliche Ausschlüsse und die Kriminalisierung migrantischer Communities bisher kaum eine Rolle. Prekär Beschäftigte ohne deutschen Pass werden fast ausschließlich als mobile Arbeitskräfte sichtbar, die ihren Lebensmittelpunkt nicht in Deutschland haben (möchten) und deswegen auch kaum Interesse an einer Verbesserung der Verhältnisse vor Ort.


Dieses Bild spiegelt sich etwa im vielbemühten Begriff der „Wanderarbeiter*innen“. Dabei zeigt nicht zuletzt die Geschichte der sogenannten „Gastarbeit“, dass Migrationsprojekte oft nicht mit Rückkehr enden, sondern transnationale Lebensweisen, vielfältige Kämpfe und eine postmigrantische Gesellschaft schaffen. Auch deswegen ist es wichtig, Kämpfe um Mobilität und gegen Ausbeutung zusammen zu denken und die soziale Frage aus einer transnationalen Perspektive zu stellen. Dazu gehört, soziale Grundrechte für alle zu fordern und gegen die Kriminalisierung migrantischer Communities Widerstand zu leisten.

Lisa Riedner, derzeit Gastprofessorin für Migration, Gender und Globalisierung an der Uni Augsburg, ist seit 2019 im Vorstand des Grundrechtekomitees und seit 2009 in der Münchner Gruppe Workers' Center/Initiative Zivilcourage aktiv. Die konkrete Organisierung mit prekarisierten Arbeiter*innen ist Ausgangs- und Knotenpunkt ihrer Aktivitäten und Interessen.