Zum Umgang mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in Jena
Für den 9. November, den Tag der beginnenden Novemberpogrome, hatte „ThüGIDA / Wir lieben Ostthüringen, Wir lieben Sachsen“ eine Demonstration in Jena unter dem zumindest nationalistisch-undemokratisch konnotierten Motto „Durch Einigkeit zu Recht und Freiheit“ angemeldet. Kein Zweifel, das ist eine Provokation. Dieses Jahr hat diese Organisation schon an anderen Terminen, die in deutlichem Bezug zum Nationalsozialismus stehen, in Jena demonstriert. Geschickterweise bezieht ThüGIDA sich aber in der Anmeldung nicht auf die Novemberpogrome, sondern auf den Fall der Mauer. Der 9. November hat eben vielfältige historische Bezüge. Die Stadt Jena versuchte per Auflage die Versammlung für den 9. November zu verbieten. Sie sollte nur am 8. November unter weiteren Auflagen organisiert werden dürfen. Die Gerichte bis hin zum Thüringer Oberverwaltungsgericht gaben den Klägern gegen diese Auflage Recht - ThüGIDA durfte am 9. November in Jena demonstrieren.
In Jena hofften viele Bürger*innen darauf, dass diese Auflage, die faktisch einem Verbot gleich gekommen wäre, auch gerichtlich durchzusetzen sei. Das ist auf den ersten Blick sehr verständlich. Gegen den um sich greifenden Nationalismus, gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit müssen deutliche Zeichen gesetzt werden!
Sind aber Verbote von Versammlungen der richtige Weg, diesen Meinungen Einhalt zu gebieten?
Die Zahl „rechtsextremer Kundgebungen und Versammlungen“ – so schreibt das Bundesamt für Verfassungsschutz – ist 2015 enorm angestiegen. Es zählte immerhin 690 Veranstaltungen, was nach seinen Zählungen eine Verdreifachung gegenüber 2014 darstellt. Allerdings zählt es nur solche Versammlungen dazu, die von Organisationen ausgehen, die vom ihm beobachtet werden. Pegida zählt beispielsweise nicht dazu. Tatsächlich sind es also noch viel mehr. Aktuell meldet das Bundesamt für Verfassungsschutz, dass die Zahl der Kundgebungen und Versammlungen wieder zurückgehe, aber die Zahl „rechtsextremer Straftaten“ zunehme. Das hat die demokratische Öffentlichkeit nur schon lange vorher gesehen und auch den Zusammenhang thematisiert.
Tatsächlich muss etwas gegen die vielen Gewalttaten der Rassisten und Nationalisten geschehen – fast täglich liest man von Hetzjagden auf „ausländisch“ aussehende Menschen und auf Bürger*innen, die Grund- und Menschenrechte verteidigen. Sachbeschädigungen, die zugleich Drohungen gegen Menschen sind, werden ebenfalls alltäglich. Eine Neonazi-Band ruft in einem Lied offen zum Mord an der Thüringer Landtagsabgeordneten Katharina König auf. Auch ihr Vater, der Jugendpfarrer Lothar König, hat Morddrohungen erhalten. Jena ist die Stadt, „in der Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt politisch sozialisiert wurden, in der sie sich immer wieder dem Zugriff der Polizei und der Justiz hatten entziehen können“, schreiben Jenaer Bürger*innen in einer Erklärung zum städtischen Umgang mit den Veranstaltungen.
Muss eine Stadt da nicht Zeichen setzen und eine Versammlung von „ThüGIDA / Wir lieben Ostthüringen, Wir lieben Sachsen“ an einem Tag wie dem 9. November verbieten?
Demokrat*innen und Verteidiger*innen der Grund- und Menschenrechte kämpfen seit Jahrzehnten um dieses fundamentale Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), das eng mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) verbunden ist. Anders als die individuellen Grundrechte ist es ein zutiefst politisches Grundrecht, ohne das Demokratie nicht möglich ist. Das Bundesverfassungsgericht schrieb 1985 in seinem Brokdorf-Beschluss dazu: „… das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, der Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers“. Die Verwaltungsgerichte – die Stadt Jena veröffentlicht alle Entscheidungen - begründen ihre Beschlüsse folglich mit diesen fundamentalen Grundrechten, die unabhängig von der Gesinnung, der Meinung gelten. Anderenfalls müssten tatsächliche und überprüfbare Hinweise benannt werden, die eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit belegen. Wie oft musste bei Auflagen und Verboten von linken Demonstrationen genau darauf aufmerksam gemacht werden, wenn wieder einmal die Gefahren nur vermutet und herbeigeschrieben wurden. Der Konjunktiv, die Vermutung, dass etwas passieren könnte, weil die Versammlungsbehörde sich dies vorstellen kann, reicht eben nicht aus für eine Gefahrenprognose. Wenn also die Gerichte dieser Selbstverständlichkeit hier folgen, kann dies kein Grund sein, ihnen dies nun vorzuwerfen. Da hätte die Stadt Jena schon konkret belegen müssen, welche Straftaten durch und aus der Versammlung tatsächlich zu befürchten sind.
ThüGIDA darf also das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen. Das müssten auch all die Bürger und Bürgerinnen dürfen, die ihren Unmut gegen ThüGIDA und deren nationalistische und rassistische Zumutungen zum Ausdruck bringen wollen. Sie müssten dies in Sicht- und Hörweite tun können. Wie so oft - und das ist das eigentlich Erschreckende – wird in einer „Sicherheitsrechtlichen Allgemeinverfügung“ der Stadt Jena aber erneut der Gegenprotest unter den Verdacht der Gewalttätigkeit gestellt. Spontane „Menschenansammlungen“, die die Stadt Jena richtigerweise als Versammlungen bezeichnen sollte, wie auch Blockaden oder Blockadeversuche, die ebenfalls unter das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit fallen, werden einzelnen Flaschenwürfen gleichgestellt und alles soll die Gefahr von zu erwartenden „gewalttätigen Ausschreitungen“ – wie es im Urteil des Verwaltungsgerichts bezüglich einer Klage gegen die Allgemeinverfügung heißt – belegen. Das ungleiche Maß der Anforderungen an die Konkretheit der Gefahrenprognose wird in diesem Urteil deutlich. Der Gegenprotest wird wie so oft unter den Verdacht der Störung der öffentlichen Sicherheit gestellt und massiv eingeschränkt.
Man mag sich freuen, dass auch der Oberbürgermeister von Jena, Dr. Albrecht Schröter, aufruft, an diesem Tag, an dem die Bürger*innen Jenas seit 30 Jahren „der Opfer der Reichspogromnacht von 1938“ gedenken „ein Zeichen zu setzen gegen Unmenschlichkeit und Hass“. Einen Aufruf zur Blockade aber vermeidet er. Und leider scheint er auch nicht dafür zu sorgen, dass solche Allgemeinverfügungen in dieser Stadt nicht erlassen werden und der Protest gegen Nationalismus und Fremdenhetze das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit behält.
Elke Steven