Die stetig steigende Inflation, insbesondere der massive Anstieg von Energie-, Gas- und Nahrungsmittelpreisen, macht vielen in Deutschland zu schaffen. Allein die Gaspreise sind im ersten Halbjahr im Durchschnitt um 18 Prozent gestiegen, Nahrungsmittel im Vergleich zum Vorjahr um fast 19 Prozent. Die Wohnungsmieten explodieren bereits seit Jahren.
Die Armut wächst, zahlrei zahlreiche Haushalte wissen nicht mehr, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen, die Tafeln melden Rekordbesuche. Eine große Rolle spielen die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, die fortwirkende Corona-Pandemie und globale Lieferengpässe verschärfen dabei die Lage.
Die Bundesregierung versucht, auf die Krise zu reagieren, zuletzt mit 200 Milliarden Euro sowie einer Gas- und Strompreisbremse. Bereits jetzt ist klar, dass dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein wird. Es bräuchte weitergehende, systemische Maßnahmen. Auch üben Sozialverbände harte Kritik: Teilweise verschärfen die Pläne der Bundesregierung die soziale Ungleichheit weiter, weil Bezieher*innen höherer Einkommen stärker entlastet werden.
Nicht wenige Politiker*innen offenbaren gleichzeitig ihre Verachtung für Menschen in Armut. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) empfiehlt etwa, sich mit dem Waschlappen zu waschen, statt zu duschen, um Geld zu sparen. FDP-Bundesfinanzminister Christian Lindner unterstellte den Nutzer*innen des 9-Euro-Tickets eine „Gratismentalität", dabei ermöglichte es vielen Menschen deutlich mehr soziale Teilhabe und teilweise den ersten Urlaub seit Jahren. Ebenjener Minister reiste im Sommer zu seiner Hochzeit auf Sylt mit dem Privatjet an.
Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble wiederum forderte die Menschen auf, nicht zu sehr zu jammern. Der Staat könne der Bevölkerung nicht alle Belastungen abnehmen. Mit zwei Pullovern und Kerzen solle man sich gegen Kälte und Stromausfälle wappnen.
Gegen diese Zustände formiert sich auch in Deutschland Protest. Ein „heißer Herbst“ wurde sowohl von links als auch von rechts ausgerufen. Dabei gelingt den großen Bündnissen aus Sozialverbänden und Gewerkschaften sowie den vielen neu entstandenen lokalen Initiativen meist eine treffsichere Analyse der gegenwärtigen Krise. Gemeinsam ist jedoch allen, dass sie bislang noch wenig Mobilisierungskraft entfalten.
Eine fortschrittliche Kritik thematisiert die Energiekrise dabei auch als Krise der Ungleichheit. Das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland verbraucht fast fünfmal so viel Energie wie der Durchschnitt. Die Folgen der Krise können nicht durch individuelles Handeln und Sparen aufgefangen werden, es bedarf struktureller Veränderungen.
Bündnisse wie „Genug ist Genug“, „Umverteilen“ oder „NichtaufunseremRücken“, fordern Umverteilung, damit die Krisenkosten nicht auf Geringverdienende abgewälzt werden. Notwendige strukturelle Veränderungen wären zudem die Vergesellschaftung von Energiekonzernen, der Zugang zu kostenloser oder zumindest günstiger Mobilität, die Vergesellschaftung von Wohnraum, die Deckelung von Miet- und Energiepreisen, signifikante Lohnerhöhungen und angemessene Entlastungen für den Winter. Der sofortige Umstieg auf erneuerbare Energien und der Ausstieg aus fossilen Energieträgern ist dabei zentral.
All diese Forderungen könnten uns zusammen mit der Besteuerung von hohen Vermögen, Erbschaften und Übergewinnen von Konzernen, die durch die Krise profitieren (vor allem aus den Sektoren fossile und erneuerbare Energien, Rüstung und Agrar) nicht nur durch den kommenden Winter bringen, sondern auch die Grundlage für eine gerechtere Gesellschaft bereiten.
Proteste des rechten Spektrums fordern dagegen nicht primär eine andere Energiepolitik oder Umverteilungsmaßnahmen, sie hetzen stattdessen wie gewohnt gegen Geflüchtete. Dazu wird die Versöhnung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Rückkehr zu russischem Gas sowie die Weiternutzung von Atomkraft gefordert. Mit ihrer exklusiven Ausrichtung an „deutschen Interessen“ verbleiben sie in ihrer üblichen nationalistischen Propaganda, die leider auch für Teile der Partei „Die Linke“ anschlussfähig ist. Die politische Strategie von rechts bedient damit vorhandene Ängste recht erfolgreich mit einfachen Lösungen, wie ihre aktuelle Mobilisierungskraft zeigt.
Große Teile der deutschen Politik und auch der aktuellen Ampel-Regierung schließen sich dieser simplen Strategie an: Dafür werden rechte Diskurse aus der Mottenkiste geholt. So diffamierte CDU-Chef Friedrich Merz Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine als „Sozialtouristen“.
Den Versuch, mittels rechtem Populismus politisches Kapital zu schlagen, unternahm auch Innenministerin Nancy Faeser (SPD), die Asylbewerber*innen diskreditierte, indem sie eine populistische Trennlinie zwischen in Deutschland willkommenen Ukrainer*innen und Flüchtenden aus anderen Herkunftsstaaten setzt.
Während sie Ukrainer*innen das Recht auf Flucht nach Deutschland zuspricht, lehnte sie im gleichen Atemzug das Recht auf Flucht und Grundrecht auf Asyl von Flüchtenden auf der Mittelmeer- und Balkanroute pauschal ab – deren Anzahl sei zu begrenzen. Folge dieser Politik sind etwa seit Monaten verstärkte Racial-Profiling-Kontrollen im Grenzgebiet zu Tschechien und Polen.
Es ist dieses rhetorisches Zündeln, auf das rechte Gewalt und tatsächliche Brandstiftung folgen. Im sächsischen Bautzen brannte Ende Oktober das als Flüchtlingsunterkunft vorgesehene „Spreehotel“, gegen das die AfD in derselben Woche noch protestiert hatte. In Groß Strömkendorf bei Wismar in Mecklenburg-Vorpommern war wenige Tage zuvor eine Flüchtlingsunterkunft niedergebrannt.
In Schweden und Italien fassen rechte Kräfte in der Krise gleichzeitig dramatisch Fuß. Regierungsoberhäupter verschiedener EU-Länder biederten sich direkt nach dem Wahlsieg in Italien eilig den Faschisten an. Nicht nur traf sich der französische Präsident Emmanuel Macron bereits kurz nach dem Regierungsantritt mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Auch Olaf Scholz, Ursula von der Leyen und weitere gratulierten überschwänglich und erklärten eilig ihren Willen zu Zusammenarbeit und Dialogbereitschaft. Die fehlende Distanz zu einer weiteren extrem rechten Regierung normalisiert diese Politik innerhalb der EU einmal mehr.
Erste Anzeichen für ein härteres Vorgehen der neuen Rechtsregierung in Italien sind die Blockade von Schiffen der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer sowie der Richtungswechsel hin zu einer ultrarechten Biopolitik: Die Geburtenrate der Nation Italien soll erhöht werden, die Rechte von LGBTIQ* beschnitten.
Auch die knappe Wahlniederlage des Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro in Brasilien hält uns vor Augen, dass die rechte Formierung nicht allein ein europäisches Phänomen ist. Die verschiedenen Krisen gefährden derzeit vielerorts in der Welt die Menschen- und Bürgerrechte. Um sie gilt es noch härter zu streiten als zuvor.