Seit Ende letzten Jahres werden Impfstoffe gegen das Corona-Virus verabreicht. Welche Stellschrauben in der Impfstrategie gibt es, um die Pandemie schnellstmöglich zurückzudrängen?
Da sind wir schnell bei der Frage der Transparenz von Forschungsergebnissen. Bereits im Frühjahr 2020 gab es eine Initiative von Costa Rica, die bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgegriffen wurde. Diese sieht vor, Ergebnisse der Impfstoffforschung in einen Pool einzuspeisen, um so einen Wissens- und Technologietransfer im öffentlichen Interesse zu ermöglichen. Leider passiert das nicht, die Industrie sichert die Ergebnisse mit Patenten ab, was die gerechte Verteilung der Impfstoffe massiv behindert. Der Aufbau von flächendeckenden Gesundheitszentren und Krankenhäusern ist auch von großer Bedeutung – um aufzuklären und die Umsetzung von Impfkampagnen zu ermöglichen.
Bei der Verteilung und der Verabreichung des Impfstoffes ist viel von Solidarität und Verantwortung die Rede. Die EU-Staaten vereinbarten eine Zusammenarbeit. Für eine weltweite Vergabe ist über die Impfstoffplattform Covax angeblich gesorgt. Also alles gut?
Schön wär’s. Die Crux an Covax ist, dass es massiv unterfinanziert ist und die Länder mit mittlerem Einkommen wie Südafrika aus der Logik des Schemas fallen. Außerdem bleibt Covax als klassische Public-Private-Partnership zwischen Pharmaindustrie, Regierungen und philanthro-kapitalistischen Stiftungen der Logik von Spenden und Hilfe verhaftet. Das kann in einer globalen Gesundheitskrise keine Lösung sein. Patente verhindern die Verfügbarkeit von Medikamenten im Globalen Süden.
Ist anlässlich der Corona-Pandemie nun endlich ein Umdenken in Sicht bzw. was bräuchte es dazu?
Das Thema ist in vielen Regionen der Welt so weit oben auf der Agenda wie seit den sozialen Kämpfen um den Zugang für HIV/Aids-Medikamente nicht mehr. Es gab schon erste Demos, die die Abschaffung von Patenten für alle unentbehrlichen Medikamente verlangen, so wie wir es bei medico mit dem Aufruf Patente töten! fordern. Die Politik muss weiter unter Druck gesetzt werden, damit sie sich auch bei der Welthandelsorganisation dafür einsetzt, den Patentschutz mindestens bis zum Ende der Pandemie auszusetzen.
In Deutschland gibt es ja aktuell Forderungen, Patente zu beschränken. Wie beurteilst du diese?
Das ist schon interessant: Ministerpräsident Markus Söder sprach von einer „Not-Impfstoffwirtschaft“ mit klaren Vorgaben des Staates, um die Zahl der Vakzin-Dosen schnell zu erhöhen, MdEP Manfred Weber brachte ins Spiel, zugelassene Impfstoffe im Notfall mit einer „Zwangslizenzierung produzieren zu lassen“. Die richtige Forderung funktioniert hier als Drohkulisse, um die Impfstoffproduktion für den nationalen Markt zu erhöhen. Strategien, die in Richtung Lizenzierung führen würden, werden von der Regierung nicht ernsthaft verfolgt.
Die Corona-Pandemie hat Europa die unmenschlichen Folgen eines profitorientierten und teils privatisierten Gesundheitssystems drastisch vor Augen geführt. Was bräuchte es, um eine global gerechte Gesundheitsversorgung für alle zu erreichen?
Medizinisches Wissen und seine Endprodukte müssen endlich als Gemeingut der Menschheit betrachtet werden. Das Patentsystem hat die Wissensproduktion im medizinischen Bereich auf Gewinnmaximierung ausgerichtet und nicht auf die Entwicklung lebensrettender Medikamente und deren gerechte Verteilung. Wenn man das Menschenrechtauf den bestmöglichen Zugang zu Gesundheit als Gemeingut in das Zentrum des Handelns stellt, müssen auch Strukturen zum Aufbau von Gesundheitssystemen geschaffen werden.
Wie sollte der Aufbau von Gesundheitssystemen zum Wohle aller konkret in Angriff genommen werden?
Voraussetzung hierfür wäre es, die Gesundheitsfürsorge von Wirtschaftsinteressen zu befreien und als global geteilte Verantwortung für das öffentliche Gut Gesundheit neu zu konstituieren. Es ist Zeit für einen neuen globalen Sozialvertrag, mit dem sich reichere Länder dazu verpflichten, solange beispielsweise für die Gesundheitsbedürfnisse auch der ärmeren aufzukommen, wie diese dazu nicht aus eigener Kraft imstande sind. Das dürfte nicht auf freiwilligen Zuwendungen, sondern auf völkerrechtlich bindenden Beiträgen gründen, auch dies ist eine Lehre aus der Covid-19-Pandemie.
Anne Jung ist Referentin für globale Gesundheit bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico International.