Zu Beginn des Jahres gehörte unsere Aufmerksamkeit der bevorstehenden Räumung und Zerstörung des Ortes Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier, der wir eine mehrtägige Demonstrationsbeobachtung widmeten. Damit wollten wir unter anderem ein Gegengewicht zu der erwartbaren Legitimierung möglicher Polizeigewalt durch Politik und Medienberichter stattung während der Proteste gegen die Räumung leisten.
Vereinzelte Anzeichen im Vorfeld deuteten bereits auf eine solche Möglichkeit hin: Bald nach der politischen Entscheidung am 4. Oktober 2022, das Dorf Lützerath für den Konzern RWE zur Abbaggerung freizugeben, war im Innenausschuss des Landtags NRW das Szenario eines gewalttätigen Widerstands gegen die notwendige polizeiliche Räumung des besetzten Ortes heraufbeschworen worden.
Inmitten der Räumungsvorbereitungen am 30. Dezember 2022 forderte der Vor standsvorsitzende der RWE Power AG Markus Krebber medienwirksam, keine Menschenleben zu gefährden. Krebber richtete seinen Appell einseitig an die Protestierenden.
In der Pressekonferenz der Polizei zum geplanten Räumungseinsatz am 9. Januar 2023 wurde eine Warnung an die Zivilgesellschaft ausgegeben: Sie dürfe sich nicht mit dem radikalen Widerstand gemein machen. Landesregierung und Polizeiführung schufen mit der angekündigten Gewaltbereitschaft der Demonstrant*innen eine Atmosphäre der Unsicherheit und verschafften dem gewaltvollen Polizeieinsatz von Lützerath damit bereits im Vorfeld Legitimität.
Wir beobachteten Polizeigewalt nicht allein auf der Großdemo, sondern auch während der gesamten Räumung und Zerstörung Lützeraths, die fahrlässig eilig durchgeführt wurde. Es ist allein dem Glück zu verdanken, dass es nicht zu schweren Verletzungen oder Schlimmeren kam.
Nach der Räumung wurde der gewaltalttätige Polizeieinsatz im Innenausschuss des Landtags NRW relativiert und damit das Thema geschlossen. Und während es die Aufgabe eines Parlamentes wäre, die zuständigen Ministerien und die Polizei in Verantwortung zu halten, nahmen alle Parteien die Darstellungen hin und hinterfragten weder den Ablauf der Räumung noch den Umgang mit Versammlungen.
In der Medienberichterstattung fand die übermäßige Polizeigewalt bei der Großdemo am 14. Januar ihren Platz als empörende Ausnahme, wurde aber nicht grundsätzlicher problematisiert. Innenminister Reul und Leitmedien führten eine Scheindebatte über Schwerverletzte und stellten Demo-Sanitäter*innen als unglaubwürdig dar.
Das eigentlich Relevante – nämlich die derartige Verletzungen verursachenden Gewaltmittel Schlagstock, Schmerzgriffe und Schläge auf Kopf und Gesicht, Bauch, Schlüsselbeine und Rücken – wurde kaum in Frage gestellt.
Völlig ausgespart wurden Fragen nach einer Bewertung der Polizeigewalt während der gesamten Räumungs tage, erst recht eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit dem Thema Polizeigewalt als inhärentem Teil des polizeilichen Gewaltmonopols.
Der politische Diskurs um den Protest gegen die Räumung Lützeraths ist Teil einer größeren gesellschaftlichen Debatte über die Frage, welche Aktions formen gegen die fortschreitende menschengemachte Klimakatastrophe und der unzureichenden Gegenmaß nahmen legitim und notwendig sind. Die Debatte nimmt zu Anlässen wie der Räumung des Hambacher Waldes 2018 oder aktuell durch die vielen A ktionen der Gruppe „Letzte Generation“ stets an Fahrt auf und wird zunehmend polarisiert geführt.
Im Innenausschuss des Landtags NRW hieß es nach der Räumung Lützeraths, auf der Großdemonstration am 14. Januar hätten Extremist*innen zivilgesellschaftliche Bündnisse vereinnahmt: Während zivildemokratische Organisationen den Klimaschutz als Ziel hätten, sei die Position, der Kapitalismus müsse abgeschafft werden, linksextremistisch.
Schon die Aussage, „die Demo in Richtung Lützerath zu verlassen, sei nicht legal, aber legitim“ wurde als extremistisch gewertet, ebenso die Kritik an Polizeigewalt und die Einschätzung, die „Polizei schütze Konzerne und Kapitalismus“.
Diese plumpe staatliche Einteilung in eine legitime Protestbewegung und einen „extremistischen“ Teil ist der bewusste Versuch einer gesellschaftlichen Spaltung mit dem Ziel der Entsolidarisierung mit dem Protest.
Die Benennung von Aktionen des Zivilen Ungehorsams als „extremistisch“ soll ganze soziale Bewegungen delegitimieren. Die Bewertung von Kritik an Polizeigewalt als „radikal“ spricht Betroffenen von Polizeigewalt ihre Erfahrungen in autoritärer Weise ab.
Der Schritt hin zur Kriminalisierung von Aktivist*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung ist da nicht weit. Diese ist indes Realität: die Wohnungen von Aktivist*innen der „Letzten Generation“ wurden im Dezember 2022 mit dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung durchsucht.
In Bayern wurden mehrere Aktivist*innen für bis zu 30 Tage in Präventivgewahrsam genommen. Zuletzt wurden zwei Personen für Straßen blockaden zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt, eine weitere Person wegen einer Gleisblockade am Braunkohlekraftwerk Neurath. Kurze Haftstrafen ohne Bewährung sind mehr als unüblich und müssen als politische Urteile verstanden werden.
Die überschäumende Aggressivität von Politik und Teilen der Gesellschaft gegen die „Letzte Generation“, die mit zeitlich begrenzten Blockaden des städtischen Autoverkehrs die Bundesregierung lediglich daran erinnert, das von ihr selbst unterzeichnete Pariser Klimaabkommen einzuhalten, ist erschütternd.
Aufgrund der staatlichen Verunglimpfung als „Klimaterrorist*innen“ sehen sich Autofahrer*innen zu Selbstjustiz ermuntert und gehen Aktivist*innen mit körperlicher Gewalt an. In Deutschland wie auch weltweit wird die Klimagerechtigkeitsbewegung angegriffen, anstatt sich deren Anliegen und der eigentlichen Herausforderung zu stellen – der notwendigen sofortigen Kehrtwende in der Klimapolitik:
In Frankreich will der Staat aktuell die Bewegung „Soulèvements de la terre“ (dt: Aufständische der Erde) illegalisieren. Sie hatte im März mit zu einer Demonstration gegen das umweltgefährdende Wasserrückhalteprojekt in Sainte-Soline im Westen Frankreichs aufgerufen. Die künstlichen Wasserbecken sollen landwirtschaftlichen Großbetrieben dazu dienen, im Sommer bei ausbleibenden Niederschlägen ihre Felder zu bewässern.
3.000 bewaffnete Polizei kräften standen Ende März in Saint-Soline 30.000 Demonstrant*innen gegenüber und schossen rund 5.000 Granaten auf die Demonstrierenden ab. Das Ergebnis: rund 200 Verletzte, darunter 40 Schwerverletzte; eine Person befindet sich seitdem im Koma. Die meisten Verletzungen stammen von Gummigeschossen und Tränengas-Granaten der Polizei.
In einem Waldgebiet bei Atlanta im US-Staat Georgia wurde im Januar ein*e Klima-Aktivist*in beim Protest gegen die dortige Waldzerstörung für den Bau eines Polizeiausbildungskomplexes („Cop City“) von Polizeikräften erschossen.
Weltweit steigen die Morde an Umweltschützer*innen und Klimaaktivist *innen an. Allein im Jahr 2019 wurden 227 Menschen ermordet, die Hälfte von ihnen in Kolumbien und auf den Philippinen. Die NGO „Global Witness“ bezeichnete in ihrem letzten Report das Jahr 2019 als tödlichstes Jahr für Aktivist*innen seit Beginn ihrer Auswertungen.
Sie analysierte zudem, dass die Herrschenden zunehmend Gesetze, Verhaftungen, Einschüchterungen und Verleumdungskampagnen einsetzten, um Klimaaktivist*innen zum Schweigen zu bringen. Die subtilere Art von Bedrohungen brächten weniger Schlagzeilen als Morde und seien deshalb besonders wirksam, um Dissens zu schwächen.
Dem weltweiten Trend zunehmender Kriminalisierung und brutale Gewalt gegen diejenigen, die aufbegehren, um die Klimakatastrophe abzuwenden, sollten wir alle solidarisch und bestimmt entgegentreten. Denn es geht ums Überleben.