Die Kriminalisierung von Flucht ist ein mächtiges Instrument der EU-Staaten zur Abwehr von Flüchtenden. Verboten und strafbewehrt sind allerdings nicht nur die unerlaubte Einreise, der Transit und der Aufenthalt auf EU-Territorium. Auch die Beihilfe wird repressiv sanktioniert.
Von dieser Repression gegen „Schleuser“ sind vor allem Flüchtende selbst betroffen. Sie werden für die illegalisierte Migration nach Europa und die Toten auf dem Mittelmeer verantwortlich gemacht und auf dieser Grundlage inhaftiert, angeklagt und verurteilt. Diese Strategie der Kriminalisierung lässt sich gegenwärtig in Strafprozessen in Italien, Malta und Griechenland beobachten.
Ein Prozess in Italien dreht sich um den Untergang „Summer Love“ vor Cutro an der Küste Kalabriens vom 26. Februar 2023. Mindestens 94 Menschen starben, als das Schiff direkt vor der Küste sank. Es war mit Passagieren aus Syrien und Afghanistan von der Türkei aufgebrochen.
Im Mittelpunkt eines griechischen Prozesses steht der Untergang des Fischkutters „Adriana“, der am 13. Juni 2023 mit rund 750 Personen nahe des griechischen Hafens Pylos sank. Die Menschen aus Syrien, Pakistan und Ägypten hatten einige Tage zuvor Ostlibyen in Richtung Italien verlassen. Über 600 Passagiere starben, nur 104 überlebten die Überfahrt.
Beide Male wurden die Schuldigen schnell ausgemacht. Für das Schiffsunglück vor der Küste Kalabriens sind aktuell vier Männer aus der Türkei und Pakistan für Beihilfe zur unerlaubten Einreise sowie fahrlässigen Schiffbruch und Totschlag angeklagt. Zwei wurden inzwischen zu jeweils 20 Jahren Freiheitsstrafe und der Zahlung von 3 Millionen Euro verurteilt.
Für das „Schiffsunglück“ vor Pylos wurden im Mai 2024 neun der Überlebenden vor einem griechischen Gericht angeklagt. Ihnen wurde die Beihilfe zur unerlaubten Einreise („Schleuserei“), die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und die Verursachung des Schiffsunglücks vorgeworfen und damit der Tod von Hunderten von Menschen. Die Anklage gegen die „Pylos 9“ wurde mittlerweile fallen gelassen. Allerdings nicht, weil das Gericht zu dem Schluss gekommen war, die Männer seien unschuldig, sondern weil es die Anklage in Griechenland als rechtlich nicht zulässig ansah.
Wer jedoch wirklich für die Toten verantwortlich ist, darüber wird kaum gesprochen. Im Falle des gesunkenen Schiffs vor Pylos war dies die Griechische Küstenwache. Überlebende berichten, dass diese trotz zahlreicher Notrufe über viele Stunden nicht kam. Dann habe sie, anstatt die Menschen zu retten, versucht, die „Adriana“ mit einem Seil in Richtung Italien zu ziehen. Durch dieses Manöver kenterte das Boot und sank.
Für den Untergang der „Summer Love“ vor der Küste Kalabriens liegt die Verantwortung bei Frontex und den italienischen Behörden. Das Boot wurde nachts von einem Frontex-Aufklärungsflugzeug entdeckt. Dessen Thermalkamera meldete eine mutmaßlich hohe Anzahl an Passagieren unter Deck. Dennoch und trotz unruhiger See sahen die Behörden keinen potentiellen Notfall. Zwei Schiffe der Zollpolizei, die das Boot überprüfen sollten, sahen es noch sinken.
Das „Schiffsunglück“ von Cutro nutzte Giorgia Meloni zur weiteren rechtlichen Behinderung der zivilen Seenotrettung.
Die zahllosen Tode von Flüchtenden durch unterlassene Hilfeleistung auf See sollten allerdings nicht als „Unglücke“ verharmlost werden. Sie sind die Resultate einer bewusst gewaltsamen Politik des staatlichen Sterbenlassens. Nach 2015 zogen EU-Mitgliedstaaten staatliche Seenotrettung vom Mittelmeer ab und sind zur Migrationsabwehr mittels Luftaufklärung übergegangen. Drittstaaten wie Libyen werden von der EU unter Druck gesetzt, Boote zurückzuholen. Push- und Pullbacks sind Alltag.
Um einem solchen Schicksal zu entgehen, hatten 2019 drei Teenager den Frachter „El Hiblu 1“ dazu gebracht, sie nach ihrer Rettung nicht zurück nach Libyen, sondern nach Malta zu bringen. Die drei jungen Männer aus Gambia und der Elfenbeinküste gerieten zusammen mit 105 weiteren Menschen auf einem Schlauchboot in Seenot. Der Kapitän des Frachters versprach, sie nach Europa in Sicherheit zu bringen, aber nahm statt dessen Kurs auf Libyen – auf Befehl der Europäischen Behörden. Durch kollektiven Protest gelang es den Geretteten, die Crew dazu zu bewegen, zu drehen. Sie wurden umgehend als „Piraten“ und „Terroristen“ diffamiert. Aber als das Militär mit Anti-Terroreinheiten den Frachter stürmte, trafen sie nur auf Menschen, die Schutz suchten. Nach fünf Jahren und trotz vielfältigem internationalen Protest erhob Malta nun endgültig Anklage gegen die drei Retter von 105 Leben.
Das verlogene Narrativ über „Schleuser“ verfängt. Damit werden Gesetze verschärft und Sicherheitsbehörden aufgerüstet. Es wird gern verdrängt, dass je mehr die Abschottung Europas vorangetrieben wird, desto mehr Menschen auf die Hilfe von Schleusern angewiesen sind.