Am 12. Juni 2024 legte Verteidigungsminister Boris Pistorius Pläne für einen „Neuen Wehrdienst“ vor. Aus der Ampel-Koalition und der CDU/CSU gab es verhaltene Zustimmung. Eine Umsetzung könnte bereits 2025 erfolgen. Grundlage des Plans, der sich am schwedischen Modell orientiert, ist ein vom Verteidigungsministerium an alle 18-Jährigen versandter Fragebogen zu eigenen Interessen, Fähigkeiten und körperlicher Fitness – und zur Bereitschaft, Wehrdienst zu leisten. Männer müssen die Fragen beantworten, andernfalls droht ein Bußgeld; Frauen ist die Beantwortung freigestellt.
Auf Basis der Antworten könnten um die 40.000 junge Menschen zur Musterung aufgefordert werden; ungefähr 5.000, die „Geeignetsten und Motiviertesten“, sollen eingezogen werden. Doch aus Sicht von Pistorius und anderen militärnahen Akteuren ist dieses Modell nur ein allererster Schritt. Um die Bundeswehr „kriegstüchtig“ zu machen, brauche es mittelfristig deutlich mehr Soldat*innen. Sobald die Bundeswehr ihre Ausbildungskapazitäten erhöht habe, müsse der Wehrdienst ausgeweitet und womöglich um Zwangselemente ergänzt werden. Der Neue Wehrdienst ist ein zentraler Baustein der gegenwärtigen Militarisierungsstrategie in Deutschland.
Deswegen lohnt es sich einmal auszubuchstabieren, warum dieses und andere Wehrpflicht-Modelle aus radikaldemokratischer, antimilitaristischer und feministischer Perspektive strikt zurückzuweisen sind.
„Soldaten sind Mörder“, schrieb Kurt Tucholsky 1931. Soldat*innen sind bei Einsätzen und im Gefecht verpflichtet, andere Menschen zu verletzen und zu töten. Aus humanistischer Perspektive ist das Verletzen und Töten von Menschen grundlegend falsch. Gewalt gegen Menschen ist prinzipiell abzulehnen. Mord und Krieg sollten keine Mittel menschlichen Zusammenlebens sein.
Dem Staat darf es nicht erlaubt sein, Gesellschaftsmitglieder zum Verletzen und Töten anderer Menschen zu zwingen – dafür haben Pazifist*innen und Kriegsdienstverweigernde über Jahrzehnte gekämpft. Auch die Existenz von zivilen Ersatzdiensten hebt diese grundlegende Kritik staatlicher Kriegsdienste nicht auf. Institutionen wie das Militär, die der staatsübergreifenden Gewalt gegen Menschen dienen und diese organisieren, dürfen nicht durch Wehrpflicht-Modelle gestärkt werden. Sie sind abzuschaffen.
Das neue deutsche Wehrdienst-Modell soll junge Menschen zum Kriegsdienst motivieren und drängen. Es soll als Vorläufer für tatsächliche Zwangsdienste funktionieren. Deshalb ist es zunächst aus prinzipiellen, ethischen Erwägungen abzulehnen. Doch es gibt weitere Gründe.
Seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 klagen konservative Politiker*innen und „Militärexpert*innen“ darüber, dass die deutsche Gesellschaft ihren Bezug zur Bundeswehr und zum Soldaten-Dasein verliere. Aus ihrer Sicht ist es ein Problem, dass in Deutschland weniger Menschen zum Verletzen und Töten anderer Menschen ausgebildet werden. Sie empfinden es als Tragödie, wenn weniger junge Menschen den verrohenden Erfahrungen von Soldatentum und Militäreinsätzen ausgesetzt sind.
Aus antimilitaristischer und feministischer Sicht ist es dagegen ein Grund zur Freude, wenn patriarchal-soldatische Tugenden wie Gehorsam, die Verachtung von Schwächeren, Härte gegen sich selbst und Gewaltbereitschaft gegenüber anderen durch die Abschaffung von Wehrdiensten zurückgedrängt werden. Die partielle „Zivilisierung“ der deutschen Gesellschaft, die durch die Aussetzung der Wehrpflicht erfolgte, ist als emanzipatorischer Fortschritt zu begreifen.
Demgegenüber zielt der Neue Wehrdienst darauf, den vernünftigen und begrüßenswerten Widerstand und Widerwillen junger Menschen gegen Kriegsdienste zu brechen. Das neue Wehrdienst-Modell und seine absehbare Ausweitung zu militärischen Zwangsdiensten soll soldatische und militaristische Normen wieder stärker in der deutschen Gesellschaft verankern. Auch deswegen ist er scharf zu kritisieren.
Eine solch prinzipielle Kritik von Militär und Kriegsdiensten und erst recht die Perspektive ihrer Abschaffung, mag angesichts der heutigen Situation, gekennzeichnet durch Staatenkonkurrenz, wachsende geopolitische Spannungen und vielfache globale Krisen, idealistisch und abstrakt erscheinen. Konkreter und materieller wird die Kritik der Wehrpflicht, wenn man sich klarmacht, in welchem ökonomischen und geopolitischen Kontext sie heute steht.
Das neue Wehrdienst-Modell ist Teilprojekt einer umfassenden Strategie zur Militarisierung von Staat und Gesellschaft in Deutschland. Diese Strategie kann, mit einem Begriff von Thomas Konicz, als Baustein eines europäischen „Krisenimperialismus“ verstanden werden. Krisenimperialismus meint, dass die globale Konkurrenz kapitalistischer Staaten heute in einer Situation stattfindet, in der die Weltwirtschaft nicht wie in früheren Epochen in großem Umfang neue Räume und Ressourcen gewaltsam in sich aufnimmt und dadurch expandiert.
Stattdessen haben die inneren Widersprüche des Kapitalismus in eine ökonomische, gesellschaftliche und ökologische System- und Vielfachkrise geführt, die die Bewohnbarkeit der Erde gefährdet und das Weltsystem an den Rand des Zusammenbruchs bringt. In dieser Krisensituation konkurrieren kapitalistische Staaten(-blöcke) immer offensiver und aggressiver darum, sich den Zugang zu schwindenden Ressourcen und gesättigten Märkten zu sichern. Der Ukraine-Krieg und die Konfrontation zwischen den USA und China sind Ausdruck dieser imperialistischen Verteilungskämpfe.
Wenn nun die Bundesregierung, andere EU-Staaten sowie die Europäische Kommission gegenwärtig den Ausbau ihrer Militärapparate betreiben, dann reagieren sie damit auf die Eskalationen imperialistischer Konkurrenz im Kontext einer sozio-ökologischen Systemkrise. Die Wiedereinführung von Zwangsdiensten sowie Boris Pistorius’ Einstiegsprojekt eines Neuen Wehrdienstes sind Teilelemente dieser krisenimperialistischen Gesamtstrategie der EU. Diese Strategie soll die ökonomische und geopolitische Bedeutung der Europäischen Union im kapitalistischen Weltsystem wieder erhöhen und ihre imperiale Lebens- und Produktionsweise verstärkt auch militärisch absichern.
Vor diesem Hintergrund wäre eine Verhinderung des Neuen Wehrdienstes ein emanzipatorischer Erfolg. Wenn die Bundesregierung, prinzipiell unterstützt von Union und AfD, mit ihren Militarisierungs-Projekten durchkommt, wird dies ihre imperialistischen Reaktionen auf die Vielfachkrise stärken. Deshalb ist die Wehrpflicht ein Hindernis für friedenspolitische Perspektiven.
Umgekehrt wird eine erfolgreiche Blockade der Zwangsdienst-Projekte die krisenimperialistische Politik erschweren und die Wahrscheinlichkeit friedenspolitischen Handelns verbessern. So wie Aufrüstung nicht mehr Sicherheit schafft, sondern wechselseitige Rüstungsspiralen antreibt, wird auch der Neue Wehrdienst und die für die Zukunft angestrebten Zwangsdienst-Modelle geopolitische Spannungen eher forcieren als abschwächen. Sollte es gelingen, die Einführung von Pistorius’ Neuem Wehrpflicht noch zu stoppen, wäre dies ein Beitrag zu Frieden und geopolitischer Entspannung.
Anstatt die gegenwärtige Vielfach- und Strukturkrise des globalen Kapitalismus durch Initiativen für einen Neuen Wehrdienst und weitere Militarisierungs-Projekte perspektivlos voranzutreiben, sollten humanistische und emanzipatorische Kräfte an der konkreten Utopie einer Abschaffung von Militär und Krieg arbeiten.
Die militaristische Politik der Bundesregierung ist auch in der Epoche des Krisenimperialismus nicht alternativlos. Sie ist ein falsches politisches Programm, nur eine Option unter anderen. Um aus der Eskalationsspirale auszusteigen, müssten Deutschland und andere EU-Staaten eine Politik von Abrüstung, Diplomatie und Konfliktlösung betreiben.
Eine solche Friedenspolitik müsste kombiniert werden mit dem Einstieg in eine weitgehende sozial-ökologische Transformation der eigenen Gesellschaften und der Weltwirtschaft insgesamt, welche diese radikal demokratisiert. Dies wiederum würde neue Perspektiven auf die Abschaffung von Zwangsdiensten, Militär und Krieg eröffnen.