02. März 2021 © dpa
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Krise als Chance? Den Grundstein für ein besseres Morgen schon heute legen

Ein Jahr Corona-Pandemie hat unsere Welt in großem Maße verändert und zieht für viele, wenn nicht alle Menschen, sämtliche Lebensbereiche in Mitleidenschaft. Ein Ende dieser Krise ist noch nicht in Sicht, trotz laufender Impfkampagnen. Umstritten ist, wann – oder treffender – ob Impfungen eine Rückkehr zur Normalität bedeuten können. Wird es dadurch möglich, das Virus auszurotten, oder müssen wir weiter mit dem Virus leben? Doch selbst wenn wir diese Pandemie überwinden, könnten wir bald erneut mit einer konfrontiert sein.

Sollte es uns nicht gelingen, uns von der profitgetriebenen Umweltzerstörung und Massentierhaltung als Voraussetzung für die zunehmende Tier-Mensch-Übertragung von Viren zu befreien, wird SARS-CoV-2 nur ein Vorgeschmack auf weitere Pandemien sein. Die Rückkehr zu einem vermeintlichen Normalzustandist dabei nicht wünschenswert, denn er bedeutet die fortgesetzte strukturelle Ungleichheit zwischen dem Globalen Norden und Süden. Weltweit leiden (und sterben) mehrheitlich die ohnehin benachteiligten Menschen unter dem Virus und den Maßnahmen gegen seine Verbreitung, während privilegierte und wohlhabende Menschen weniger stark betroffen sind und teils gar davon profitieren. Und die fortschreitende Klimakrise wirft längst ähnlich grundlegende Fragen von globaler Gerechtigkeit und Solidarität auf, denen wir uns in Europa endlich stellen müssen.

Die Frage nach dem Umgang mit dem Corona-Virus ist und bleibt grundlegend und stellt sich je nach veränderter Lage immer wieder neu: Welche Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus sind sinnvoll und gerecht? Welche Einschränkungen sind verhältnismäßig – und für wen? Wie gehen wir damit um, dass nicht alle Menschen die gleichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten haben? Wie viel individuelle Freiheit sind wir bereit aufzugeben zugunsten der freieren Entfaltung einer anderen Person? Wer soll beispielsweise zuerst geimpft werden? Die schweren gesundheitlichen Folgen des Corona-Virus anerkennend, dürfen wir nicht ausklammern, dass manche Maßnahmen gegen die Pandemie, wie Isolation und fehlende menschliche Kontakte, ebenfalls schwere gesundheitsschädigende Folgen haben. Diese müssen bei Maßnahmen gegen das Virus berücksichtigt werden.

Ebenfalls abgewogen gehören der für viele Menschen gegenwärtige Entzug der ökonomischen Lebensgrundlagen, etwa durch Kurzarbeit oder Kündigung, hervorgerufen durch einen lang gezogenen Lockdown. Den massiven Einschränkungen des Privatlebens, von Freizeit, Kunst und Kultur steht noch immer die aus unserer Sicht falsche Priorisierung der Wirtschafts- und Arbeitswelt gegenüber In der hiesigen Diskussion um die Bewertung von Maßnahmen gegen das Virus bleiben daher das Benennen von Ungleichheiten in der praktischen Umsetzung und das Aufspüren dahinterstehender Doppelmoral notwendig – wie etwa die oft geäußerte Forderung, es sollen doch die besonders „Vulnerablen“ geschützt werden. Damit wird auf die alten Menschen in den Pflegeheimen angespielt, mit dem dahinterstehenden Wunsch, die übrigen Menschen könnten ihren normalen Alltag wieder aufnehmen. Dies, ohne sich einzugestehen, dass die „Vulnerablen“ mit uns und unter uns leben – dazu gehören auch die Marginalisierten und Prekären mit wenigen Möglichkeiten sich zu schützen. Ihnen allen hilft allein, das Infektionsgeschehen insgesamt niedrig zu halten.

Die Frage nach dem Umgang mit dem Virus und nach seiner Überwindung darf aber nicht national und kann auch nicht auf Europa beschränkt beantwortet werden. Sie stellt sich auf globaler Ebene. Es ist daher unumgänglich, Fragen globaler Verteilungsgerechtigkeit aufzuwerfen, statt sich in einer persönlichen oder nationalen Betroffenheit zu verlieren. Wir dürfen auch jetzt nicht – oder besser gesagt niemals weniger als derzeit – schweigen zu der Situation von Geflüchteten in Deutschland und zu ihrer gezielten Entrechtung an den Europäischen Außengrenzen wie in Moria, dem bosnischen Lipa oder in den Lagern Libyens. Auch jetzt sind die staatliche Unterlassung von Seenotrettung oder einer Aufnahme von Geretteten in solidarischen Städten keine Nebenschauplätze. Auch jetzt geht es um die Schaffung und den Erhalt von bezahlbarem Wohnraum für alle, um die Arbeitsbedingungen für Menschen in der hiesigen Fleischindustrie wie auch um diejenigen am Ende der Ausbeutungsketten im globalen Süden.

Die Pandemie wirft grundsätzliche Fragen nach Veränderungen der herrschenden (Re-)produktionsweisen undgegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaftsform auf. Wie und nach welchen Regeln wird produziert, wer bestimmt über Eigentum und Produktion und wer entscheidet? Für die Lösung der aktuellen Krise(n) sollten unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität bereits mitgedacht und gelebt werden. Allen Maßnahmen muss die Absicht für ein besseres Morgen, einer anderen Gesellschaft bereits innewohnen. Wir dürfen uns mit der Perspektive auf Veränderung nicht auf das undefinierte Ende der Krise vertrösten, sondern sollten sofort aus ihr Lehren ziehen und die Voraussetzungen für ein besseres Morgen jetzt zu schaffen beginnen.

Denn was ist, wenn wir uns schon jetzt die Frage einmal ganz anders stellen: Wie würden und wollen wir mit einer Krise wie der derzeitigen Pandemie idealerweise umgehen in einer wirklich egalitären, solidarischen, radikaldemokratischen Gesellschaft? Auch wenn eine solche Gesellschaft aktuell weiter denn je entfernt zu sein scheint, kann die Infragestellung der gegenwärtigen Ordnung doch als Richtschnur für politisches Handeln heute dienen und uns helfen, neu zu formulieren, was uns für eine solche Gesellschaft wichtig ist.