«Berlin ist die ‚Hauptstadt des Verbrechens‘», titelt der Tagesspiegel. Berlin sei «die gefährlichste Stadt Deutschlands», steht in der Berliner Zeitung. Und der Spiegel trägt das Grauen hinaus in die Weiten der Republik: «So gefährlich ist es in ihrer Region» – bitte auf der Karte anklicken und sich fürchten. Anlass für die medialen Gruselstunden war die Veröffentlichung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) durch Bundesinnenminister Thomas de Maizière und seinen sächsischen Amtskollegen Markus Ulbig, den aktuellen Vorsitzenden der Innenministerkonferenz (IMK), am 24. April 2017.
«Licht und Schatten» will der Bundesinnenminister in der Statistik gesehen haben. Licht, weil die Zahlen der gemeldeten Wohnungseinbrüche, Ladendiebstähle und Betrugsdelikte zurückgegangen sind und die Aufklärungsquote auf dem höchsten Stand seit fünf Jahren ist. Diese Erkenntnis hindert die Bundesregierung nicht daran, an einem Gesetzentwurf zur Strafverschärfung und weitergehenden Strafverfolgung bei Wohnungseinbrüchen herumzudoktern, und dies mit dem Gegenteil zu begründen – alternativfaktisch sozusagen. Schatten wegen der Zunahme von Gewaltdelikten (mit Ausnahme der Raubtaten). Die «zunehmende Verrohung» müsse «uns allen Sorge bereiten». Der Anstieg der Gewaltdelikte sei «ein Weckruf an uns alle». Schatten entdeckt das Ministerium erst recht bei den Tatverdächtigenzahlen: «Der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen an allen Tatverdächtigen beträgt etwa 30 Prozent; die Zahl ist 2016 auf 616.230 gestiegen (2015: 555.820). Davon sind 28,3 Prozent Zuwanderer, dies entspricht einem Anteil von 8,6 Prozent (2015: 5,7 Prozent) an allen Tatverdächtigen.» Die Kategorie der «Zuwanderer» ist neu in der PKS. Sie umfasst Asylbewerber, Kontingent- und Bürgerkriegsflüchtlinge, Menschen, die nur mit einer «Duldung» leben, und solche, die gar keinen aufenthaltsrechtlichen Status besitzen. Sie fallen vor allem bei den gemeldeten Gewaltdelikten auf. De Maizières Konsequenz: weiterhin «deutlich zu differenzieren nach der Schutzbedürftigkeit eines jeden Einzelnen. Wer keines Schutzes bedarf, hat auch kein Recht darauf, in unserem Land zu bleiben. Und wer hier schwere Straftaten verübt, hat sein Aufenthaltsrecht verwirkt.» An dieser «unerfreulichen Entwicklung» gäbe es «nichts zu beschönigen», zitiert der Spiegel den Minister.
Die Vorstellung der PKS ist ein jährlich wiederkehrendes Ritual und es versteht sich fast von selbst, dass Politiker dieses Ritual ordentlich zelebrieren und dass die (meisten) Medien an dieser Messe der Inneren Sicherheit gebührlich mitsingen. Das Ritual lebt von einem sorgsam gehegten Missverständnis, dass nämlich die Polizeiliche Kriminalstatistik die «Kriminalitätswirklichkeit» abbilde oder zumindest von der PKS direkt auf die wirkliche Kriminalität geschlossen werden könne. Je detaillierter die Kategorien, desto wirksamer der Schein.
Spätestens der Blick in die PKS-Jahresbände (den für 2016 hat das Bundeskriminalamt auf seiner Homepage noch nicht freigeschaltet) würde eines Besseren belehren. Das BKA macht darin nämlich regelmäßig klar, dass die PKS nur die registrierte Kriminalität darstellt (darstellen kann) und dass diese in erster Linie auf den eingegangenen Anzeigen beruht. «Aussagen zum sogenannten Dunkelfeld (die der Polizei nicht bekannt gewordenen Straftaten) können nicht gemacht werden. Änderungen z.B. im Anzeigeverhalten der Bevölkerung können die Grenze zwischen dem Hell- und Dunkelfeld verschieben, ohne dass sich der Umfang der tatsächlichen Kriminalität verändert hat.»
Auch was die Verteilung zwischen deutschen und nicht-deutschen Tatverdächtigen betrifft, finden sich in diesen dicken Bänden seit langen Jahren klare Warnhinweise. So heißt es etwa auf Seite 66 des Jahresberichts für 2015:
«Die tatsächliche Belastung von hier lebenden Nichtdeutschen im Vergleich zu den Deutschen ist aus mehreren Gründen nicht bestimmbar. Das doppelte Dunkelfeld in der Bevölkerungs- und in der Kriminalstatistik, der hohe Anteil ausländerspezifischer Delikte und die Unterschiede in der Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur stehen einem wertenden Vergleich entgegen. Außerdem ist zu beachten, dass in der PKS auch nicht das Ergebnis des Strafverfahrens berücksichtigt werden kann.»
Hinzu kommt, dass das Risiko einer Anzeige für die «Nicht-Deutschen» schon immer höher war. Wer anders aussieht oder anders lebt als der gefühlte Durchschnitt einer Gesellschaft, fällt auf. Für die neu in der Kategorie «Zugewanderte» erfassten Personen mit einem miserablen oder ohne Aufenthaltsstatus gilt das umso mehr.
Viele von ihnen leben in engsten Verhältnissen in Asylunterkünften, die im letzten Jahr oft nur schnell hergerichtete Turnhallen o.ä. waren. Das sorgt nicht nur für zuweilen handfest ausgetragene Konflikte, sondern bewirkt auch, dass diese polizeibekannt werden. Denn in all diesen Unterkünften sind immer private Sicherheitsdienste präsent, die schnell einmal die Polizei rufen und damit aus einem Konflikt eine Anzeige wegen Körperverletzung und damit einen neuen Fall für die Statistik machen. Kein Wunder also, dass Martin Klingst und Sascha Venohr in einem der wenigen guten Berichte zur PKS feststellen, dass die meisten der von «zugewanderten» Tatverdächtigen begangenen Gewaltdelikte sich in Flüchtlingsunterkünften ereigneten und dass auch die «Gewaltopfer» von «Zugewanderten» in der großen Mehrheit selbst «Zugewanderte» waren.
Wer die Polizeiliche Kriminalstatistik interpretieren will, muss also wissen, wie ihre Zahlen zustande kommen. Dass die Minister lieber über die «Verrohung» der Gesellschaft moralisieren und den «nichtdeutschen», «zugewanderten» Tatverdächtigen mit Ausweisung drohen, ist ein Zeichen von Inkompetenz gepaart mit institutionellem Rassismus. Um die Worte des Bundesinnenministers zu benutzen: «eine unerfreuliche Entwicklung», an der es «nichts zu beschönigen» gibt.