In Afghanistan kann man in den letzten Wochen im Brennglas sehen, was sich seit Jahren an den europäischen Außengrenzen manifestiert: für die deutsche Politik zählen bürokratische Prozeduren mehr als Menschenleben. Das Mantra lautet: „2015 darf sich nicht wiederholen“; Grenzzäune und Abschottung stehen über Menschenrechten.
Jahr für Jahr verschlimmert sich die Lage an den EU-Außengrenzen. Mit allen Mitteln werden Geflüchtete an der Ankunft in Europa gehindert: durch unterlassene Hilfeleistung und das bewusste Ertrinkenlassen, durch illegale Push-Backs, durch Folter und Gewalt. Ohne Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung, sauberem Wasser und Nahrung sterben Zehntausende an den europäischen Außengrenzen. Jene, die es schaffen, europäischen Boden zu betreten, werden all ihrer Grundrechte beraubt und teilweise jahrelang in Lager gesperrt, Asylanträge werden systematisch und illegal abgelehnt.
Im Juni 2021 etwa erklärte Griechenland die Türkei zu einem sicheren Drittstaat für Menschen aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Bangladesch und Pakistan, was de facto dazu führt, dass 70% der Asylanträge in Griechenland in Zukunft direkt abgelehnt werden. So werden Millionen Menschen in die Illegalität getrieben und zur Verfügungsmasse einer kriminellen Wirtschaft – aufgrund der Dublin-Verordnung unfähig, ihren Wohnort zu wechseln oder in ihre Länder zurückzukehren.
Allein in Italien werden 500.000 illegalisierte Menschen von der Mafia auf Monokulturen zur Produktion von Billiglebensmitteln ausgenutzt, in der gesamten EU schätzt man die Zahl dieser modernen Sklav*innen auf über 3 Millionen. Eine nicht nur entwürdigende, sondern tödliche Situation, wie zuletzt der Hungerstreik der „Sans-Papiers“ in Belgien gezeigt hat.
Jahrelang wurde der Öffentlichkeit weisgemacht, dieser tausendfache Tod und diese millionenfache Erniedrigung sei ein tragisches Ereignis, eine Art Naturkatastrophe. Was aber – seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan noch einmal verschärft – vor unseren Augen passiert, sind nicht nur zufällige Menschenrechtsverletzungen, es sind geplante und strukturell in der europäischen Politik verankerte Verbrechen. Es ist keine Tragödie, sondern ein vorsätzlich entworfener und umgesetzter politischer und verwaltungstechnischer Angriff auf die Menschlichkeit.
Dabei spielen die Parlamente und Regierungen der EU und der Mit- gliedstaaten eine zentrale Rolle. Allein im deutschen Bundestag wurde in zahlreichen Abstimmungen und Beschlüssen jede Möglichkeit, die Situation an den Grenzen zu verbessern, verhindert. Menschenleben und Menschenwürde sind längst zum Verhandlungsgegenstand der Politik geworden, parteien- und länderübergreifend.
Wenn aber Verbrechen zu Recht, wenn der Tod und menschliches Leid zu politisch kalkulierter Normalität werden, bleiben uns nur zwei Möglichkeiten: die stumme Akzeptanz der neuen Barbarei oder politischer Widerstand. Als starke Zivilgesellschaft, als Zusammenschluss aus Organisationen, Menschenrechtsanwält*innen, Geflüchteten und Künstler*innen verschließen wir nicht länger die Augen und stellen uns der Aushöhlung der Menschenrechte entschlossen entgegen.
Die Beweislast ist erdrückend, die Verbindungen von Frontex in die europäische und insbesondere deutsche Politik nicht zu leugnen. Die Liste von Folter und Push-Backs, von Grundrechtsbrüchen in den Lagern, von unterlassener Hilfeleistung und der Kriminalisierung der Seenotrettung, von illegalen Rückführungen und abgelehnten Asylanträgen ist schier unendlich. Wir fordern das neu gewählte deutsche Parlament auf, zu einer Politik des Rechts und der Menschlichkeit zurückzukehren und dem System der Entmenschlichung, Illegalisierung und Ausbeutung von Geflüchteten ein Ende zu setzen.
Wir brauchen einen Diskurs über die Grenzen und die Erosion des aktuellen Rechtssystems, wir brauchen Politiker*innen und Expert*innen, die gemeinsam die Grundpfeiler für ein System schaffen, das wirklich auf der Idee von Menschenrechten für alle basiert und uns die Möglichkeiten gibt, jene einzuklagen.
Wir fordern:
- Flucht nach Europa darf nicht kriminalisiert werden. Allen Geflüchteten ist das Recht auf Rechte zu gewähren.
- Das Bundesinnenministerium muss die Liste gefährdeter Personen aus Afghanistan für die Evakuierungen wieder öffnen. Den teils hoch gefährdeten Personen aus der Zivilgesellschaft darf nicht weiter durch bürokratische Hürden eine Flucht verunmöglicht werden.
- Europa darf sich nicht weiter abschotten und muss den Staaten, die auf den Fluchtrouten aus Afghanistan liegen, signalisieren, dass es bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und das individuelle Recht auf Asyl gewährleisten.
- Die sofortige Evakuierung aller Lager an den EU-Außengrenzen und die Schaffung legislativer Grundlagen zur selbstbestimmten Aufnahme von Kommunen und Ländern.
- Das Ende deutscher Beteiligung an allen Frontex- und EUNAVFOR MED-Einsätzen.
- Staatlich organisierte Seenotrettung und ein Ende der Kriminalisierung ziviler Seenotrettung.
Kampagne
Der offene Brief ist der Startschuss der Fundraising-Kampagne #klageflut. Auf dieser Webseite werden Spenden für Menschenrechtsanwält*innen und juristische Organisationen gesammelt, um die Rechtsstaatlichkeit an den EU-Außengrenzen wiederherzustellen.
Aktionen
Die Kölner Erklärung erscheint anlässlich der 16. „School of Resistance“, einem Diskursformat des IIPM/Milo Rau am Schauspiel Köln am Wochenende vor der Bundestagswahl. Die Gespräche mit unter anderem Navid Kermani, Wolfgang Kaleck, Mithu Sanyal, Omer Shatz, Parwana Amiri und Tareq Alaows werden live über die Webseite des Schauspiel Köln gestreamt.
Unterzeichner*innen:
Tareq Alaows, Jurist und Aktivist; Maya Alban-Zapata, Schauspielerin; Verena Altenberger, Schauspielerin; Parwana Amiri, Aktivistin und Autorin; Jasna Fritzi Bauer, Schauspielerin; Mark Benecke, Wissenschaftler und Autor; Sibylle Berg, Autorin; Luise Befort, Schauspielerin; Arne Birkenstock, Regisseur und Produzent; Thelma Buabeng, Schauspielerin; Ali Can, Sozialaktivist und Initiator #MeTwo; Stefanie Carp, Dramaturgin; Max Czollek, Autor; Fatih Çevikkollu, Comedian; Amelie Deuflhard, Intendantin Kampnagel Hamburg; Katja Diefenbach, Kulturwissenschaftlerin, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder); Yilmaz Dziewior, Direktor Museum Ludwig; Maria Ehrich, Schauspielerin; Mohammad Murtaza Farooqi, Aktivist, Münchner Flüchtlingsrat; Pegah Ferydoni, Schauspielerin; Luisa-Céline Gaffron, Schauspielerin; Kübra Gümüşay, Autorin; Annie Hoffmann, Moderatorin; Rahel Jaeggi, Philosophin, Humboldt Universität Berlin; Elfriede Jelinek, Autorin; Wolfgang Kaleck, Generalsekretär ECCHR; Jasmina Kuhnke, Autorin; Şeyda Kurt, Autorin; Shermin Langhoff, Intendantin Maxim-Gorki-Theater; Stephan Lessenich, Soziologe, Direktor des Instituts für Sozialforschung, Goethe Universität Frankfurt; Igor Levit, Pianist; Matthias Lilienthal, Dramaturg; Boniface Mabanza, Philosoph und Kulturwissenschaftler; Robert Menasse, Autor; Robert Misik, Journalist und Autor; Ersan Mondtag, Regisseur; Hans Mörtter, Pfarrer; Maximilian Mundt, Schauspieler; Maximilian Pichl, Universität Frankfurt/Main; Thomas Oberender, Autor und Intendant der Berliner Festspiele; Thomas Ostermeier, Regisseur und Intendant Schaubühne Berlin; René Pollesch, Regisseur und Intendant Volksbühne Berlin; Carola Rackete, Aktivistin und Kapitänin; Milo Rau, Regisseur und künstlerischer Leiter IIPM und NTGent; Angela Richter, Regisseurin; Merlin Rose, Schauspieler; Kathrin Röggla, Schriftstellerin; Thomas Rudhof-Seibert, Philosoph, medico international; Mithu Sanyal, Autorin; Stefanie Sargnagel, Autorin; Kais Setti, Schauspieler; Omer Shatz, Anwalt; Saša Stanišić, Autor; Joulia Strauß, Künstlerin und Gründerin Avtonomi Akadimia; Corinna Ujkaševic, Anwältin; Andres Veiel, Regisseur; Julia von Heinz, Regisseurin; Harald Welzer, Soziologe und Publizist; Hengameh Yaghoobifarah, Journalist_in & Schriftsteller_in; Andrea Ypsilanti, Vorstandssprecherin des Instituts Solidarische Moderne; Anbid Zaman, Menschenrechtsaktivist und Künstler; Jean Ziegler, Soziologe und UN-Sonderberichterstatter
UNTERZEICHNER*INNEN AKTIONSBÜNDNIS KÖLN:
Laura Beische, Biologin, Georg Blokus, Organizer, School of Political Hope, Anne Brüning, Sozialarbeiterin, Franco Clemens, Sozialarbeiter & Streetworker, Julia Dick, Performancekünstlerin, Gaby Gehlen, Aktivistin, Mosaik Köln Mülheim e.V., Max Gede, Designer, Kalle Gerigk, Stadtaktivist, Clemens Holtmann, Aktivist, DiEM25, David Häußer, Designer und Fotograf, Franziska Heinisch, Aktivistin, Justice is Global Europe, Steve Hudson, Schauspieler und Regisseur, Klaus Jünschke, Aktivist, Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung, Manuel Moser, Schauspieler, Zandile Ngono, Antidiskriminierungstrainerin und Die Urbane, Behshid Najafi, Aktivistin, agisra e.V., Noelle O'Brien-Coker, Journalistin und Radioautorin, Anja Plemper, Stadtaktivistin, Ahmet Sinoplu, Sozialarbeiter, Coach e.V.
ORGANISATIONEN AKTIONSBÜNDNIS KÖLN:
Allerweltshaus Köln e.V.
Association for the Design of History
Autor:innenkollektiv "Mal nach den Rechten schauen"
ArtAsyl e.V.
DEMASK
fakE – für antiklassistisches Empowerment an der Uni Köln
Integrationsrat der Stadt Köln
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Köln spricht
Netzwerk Rechtskritik
Rainbow Refugees Support – Group Cologne e.V.
ROOTS & ROUTES Cologne e.V.
Solidarity City Cologne
SoliMed Köln
Tatort Porz – Keine Ruhe nach dem Schuss