Asylsuchende haben ihren Antrag in dem EU- oder assoziierten Staat zu stellen, den sie als ersten betreten haben. Alle anderen Mitgliedstaaten sind nicht zuständig und können die Betroffenen in den zuständigen Staat «rückführen», sprich: abschieben. Dieses Konzept hat die EU bzw. damals noch Europäische Gemeinschaft erstmals in dem 1990 unterzeichneten Dublin-Abkommen festgelegt. 2003 wurde das Abkommen ersetzt durch eine EU-Verordnung - Dublin II. 2014 beschloss man eine neue Version, die am Grundsatz nichts änderte – Dublin III.
Das Konzept war von Anfang an verkorkst: erstens weil es das «gemeinsame europäische Asylsystem» auf Zwang aufbaute: Geflüchtete konnten ihren Antrag nicht dort stellen, wo sie bereits Anknüpfungspunkte hatten – Freunde, eine Community aus demselben Land, eine Sprache, die sie verstehen – oder wo sie für sich die besten Chancen sahen. Zweitens standen in den Asylverfahren nun nicht mehr die Fluchtgründe im Vordergrund, sondern die Reisewege bzw. die Frage, welcher Staat die Fingerabdrücke der Betroffenen zuerst in der gemeinsamen Datenbank Eurodac registriert hatte. Und drittens weil dieses System notwendigerweise dazu führen musste, dass die Staaten an der Außengrenze stark belastet wurden und sich die im reichen Inneren der EU aus ihrer humanitären Verantwortung davon stehlen konnten.
Die rapide Zunahme der Zahl der Geflüchteten im vergangenen Jahr schien eine Wende einzuläuten. Bereits im Mai 2015, unter dem Eindruck der Katastrophe zwischen Libyen und Lampedusa in der Nacht zum 20. April, bei der Hunderte ihr Leben verloren, hatte die EU-Kommission in ihrer «Migrationsagenda» eine «Umsiedlung» (relocation) von Geflüchteten aus Italien und Griechenland angekündigt und erklärt, dass dies aber nur die «Vorstufe für eine dauerhafte Lösung» sein könnte. Im September beschlossen dann das Europäische Parlament und der Ministerrat die Umsiedlung von 160.000 Geflüchteten aus Italien und Griechenland. Sie schienen willens, den Dublin-Mechanismus durch ein Verteilsystem zu ersetzen.
Schienen: Denn bis Ende September 2016 waren gerade einmal 1.196 Geflüchtete aus Italien und 4.455 aus Griechenland in andere Dublin-Staaten verteilt worden. Und zweitens stand schon damals fest, dass für die EU-Gremien eine Beteiligung der Flüchtenden an der Entscheidung, wohin sie denn umgesiedelt werden sollten, nicht in Frage kam.
Und auch die «dauerhafte Lösung», die die EU-Kommission im Mai 2015 versprochen hatte und für die sie seit Mai 2016 Vorschläge vorlegte, i st alles andere als eine Kehrtwende. Der erste Schritt zur «Reformierung des gemeinsamen europäischen Asylsystems» war vielmehr der Entwurf einer Dublin IV-Verordnung, die die bestehende Zuständigkeitsregelung noch verschärft: Das Selbsteintrittsrecht, das die Prüfung eines Antrags auch dann ermöglichte, wenn ein Staat nach den Dublin-Regeln eigentlich nicht zuständig wäre, soll nur noch im Falle von familiären Bindungen oder engen humanitären Gesichtspunkten möglich sein. Dublin-Rückführungen sollen auch bei unbegleiteten Minderjährigen erlaubt sein. Bisher waren Dublin-Abschiebungen nach einem halben Jahr nicht mehr möglich. Nach dem Entwurf soll diese Frist entfallen, was auch Widerstandsformen wie das Kirchenasyl erheblich erschweren wird.
Abgeschwächt wird der alte Grundsatz nun durch einen «Korrektur»-Mechanismus: In Zukunft sollen die Dublin-Staaten nämlich sämtliche Asylanträge in einer neu zu schaffenden Mega-Datenbank erfassen. Aus der Bevölkerungsgröße und der Wirtschaftskraft wird für jeden Staat ein hypothetischer Anteil an allen im Dublin-Raum gestellten Anträgen errechnet. Erst wenn die Zahl der tatsächlich in diesem Staat registrierten Anträge dessen Kontingent um die Hälfte überschreitet, soll ein Umverteilungsmechanismus greifen. Ein bürokratisches Monstrum, bei dem die Betroffenen weiterhin nichts mitzureden haben.
Neu ist zudem eine Drittstaatenregelung. Die war bisher nur in der Asylverfahrensrichtlinie enthalten und für die Mitgliedstaaten nicht bindend. Noch vor der Prüfung, ob gegebenenfalls ein anderer Dublin-Staat für einen Antrag zuständig wäre, sollen die Dublin-Mitgliedstaaten zwingend eruieren, ob der Asylantrag zulässig ist, d.h. ob die Betroffenen zuvor in einem «sicheren Drittstaat» oder gar in einem «Erstasylstaat» außerhalb der EU waren. Die Abschiebung wäre dann ebenfalls verpflichtend. Die Listen der «sicheren» Staaten will die EU-Kommission innerhalb von fünf Jahren EU-weit vereinheitlichen.
Diese Linie zieht die EU-Kommission auch in den Vorschlägen weiter, die sie am 13. Juli vorlegte. Zentrale Argumente in allen drei Vorlagen sind die „Missbrauchsbekämpfung“ und die Verhinderung von „Sekundärmigration“. Der Entwurf der Aufnahmerichtlinie sieht ein abgestuftes System von Sanktionen vor, wenn Geflüchtete ihren Antrag nicht in dem zuständigen Dublin-Staat stellen, diesen verlassen haben oder wenn sie aus einem anderen Dublin-Staat «zurückgeführt» wurden. Die Daumenschrauben reichen von der Kürzung der Unterstützungsleistungen über die Zuweisung zu einem bestimmten Aufenthaltsort und die Verhängung von Meldepflichten bis hin zur Haft. Die «Fluchtgefahr» wird zum neuen Haftgrund.
Der Entwurf der Asylverfahrensverordnung droht wiederum mit Sanktionen, wenn die Antragsteller*innen ihrer Kooperationspflicht nicht nachkommen, etwa indem sie die Abnahme von Fingerabdrücken verweigern, nicht in dem zuständigen Dublin-Staat bleiben oder gegen Meldepflichten (nach der Aufnahmerichtlinie) verstoßen. In diesen Fällen soll der Antrag als «nicht weiter betrieben» gewertet werden.
Nach rund anderthalb Jahren einer «Asylkrise», die vor allem eine Krise des EU-Migrationsmanagements war und ist, fällt der EU-Kommission also nichts besseres ein, als dieses fehlgeschlagene System aus Zwang und Gewalt zu restaurieren. Bleibt nur zu ergänzen, dass die Dublin-«Rückführungen» nach Griechenland demnächst wieder aufgenommen werden sollen.