Seit einiger Zeit muss mal wieder vor Gericht um die Interpretation des § 17 a des Versammlungsgesetzes gestritten werden. Am 7. September 2016 verurteilte das Amtsgericht Freiburg einen Studenten, weil er als „Schutzwaffe“ eine Overhead-Folie benutzt hatte. Er habe sich damit gegen die Wirkung von Pfefferspray schützen wollen. Einen Monat vorher, am 5. August 2016, hatte das Amtsgericht Frankfurt eine Frau zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie bei den Blockupy-Protesten im März 2015 eine Plastikfolie mit dem an die Occupy-Bewegung erinnernden Slogan 99% am Kopf trug. Selbstverständlich wurde sie nicht wegen des Slogans verurteilt, sondern weil die Folie ihre Augen möglicherweise ein wenig vor den Waffen der Polizei geschützt hätte.
1985 ist das Verbot von „Schutzwaffen“ und zugleich das Vermummungsverbot in das Versammlungsgesetz – damals gab es nur das des Bundes - eingefügt worden. 1989 hat das Parlament diese bislang als Ordnungswidrigkeiten eingestuften Verbote zu Straftaten heraufgestuft. Selbst in dem von manchen als „liberal“ verstandenen Versammlungsgesetz des Landes Schleswig-Holstein – seit der Föderalismusreform von 2006 ist das Versammlungsrecht Ländersache – werden diese Tatbestände genauso unbestimmt verboten. Abgerüstet worden ist nur in der Begrifflichkeit – die Rede ist von „Schutzausrüstung“.
Schon die Einführung des Paragraphen in das Versammlungsgesetz war 1985 auch unter Juristen sehr umstritten. Zur Begründung wurde ein Zusammenhang von Schutzwaffen und Vermummung mit der Bereitschaft zu Gewalttaten bei Demonstrationen behauptet. Wissenschaftlich zu belegen war und ist ein solcher Zusammenhang nicht. Auf der anderen Seite wurde auch befürchtet, dass eine solche maßlose Ausweitung von Straftatbeständen und die Ausdehnung des Geltungsbereichs rechtlicher Bestimmungen bis zur unbestimmten Grenzenlosigkeit die Bereitschaft zu Gewalt und Protest steigern könnten. Offensichtlich ist, dass die Polizei damit die Definitionshoheit darüber erhielt, in welchen Situationen sie denn was gerne verbieten möchte. Mal werden diese, mal jene Gegenstände zu Schutzwaffen oder zu Bestandteilen einer Vermummung erklärt.
Eine starke öffentliche Meinung kann ein wenig Schutz gegenüber solcher Interpretationswillkür bieten. Nach den Blockupy-Protesten in Frankfurt im Jahr 2013, vor allem nach der Einkesselung eines Teils der Großdemonstration, war die öffentliche Empörung über das polizeiliche Vorgehen groß. Der Versuch, Schirme als Vermummungsgegenstände zu interpretieren und aus den mitgeführten Schildern mit Sprüchen Waffen zu machen, wurde von einer breiten Öffentlichkeit zurückgewiesen. Eine Woche später fand eine Demo gegen das polizeiliche Vorgehen gegen die Blockupy-Demo statt, bei der Schirme das zentrale Symbol waren. Sie wurden dort auch von der Polizei nicht als Vermummung gewertet. Auch das Frankfurter Amtsgericht urteilte in der Folge dieser öffentlichen Auseinandersetzungen, dass eine mitgeführte Baseballkappe und Mundtücher nicht als Schutzwaffen zu werten seien. Eine Richterin meinte in der mündlichen Urteilsbegründung sogar, es könnte ja auch gute Gründe geben, sich gegen polizeiliche Gewalt zu schützen. Die Zeiten haben sich jedoch wieder geändert, und öffentlicher Protest scheint zu leise geworden zu sein.
Allerdings wird in Niedersachsen über die Gefährlichkeit des Einsatzes von Pfefferspray diskutiert, seit die Landtagsvizepräsidentin (Gabriele Andretta, SPD) im Juni 2016 bei einer Demonstration gegen Nationalisten und Rassisten davon getroffen wurde. In Niedersachsen soll nun die Menge des versprühten Giftes vor und nach jedem Polizeieinsatz gewogen werden. Die Menge sagt zwar nichts über die Rechtmäßigkeit aus, aber eine solche bürokratische Kontrolle hatte zunächst einmal die Wirkung, dass weniger Pfefferspray eingesetzt wurde. Die einzig richtige Konsequenz wäre allerdings, diese Waffe zumindest nicht mehr gegenüber Menschenmengen einzusetzen.
Das Abkommen über biologische Waffen von 1972 verbietet Pfefferspray als Kampfmittel gegen Soldat*innen und Zivilist*innen in einem Krieg. Und nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland hat es bereits mindestens einen Todesfall nach dem Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei gegeben (2010 in Dortmund). Wenn Pfefferspray gegenüber Gruppen (Versammlungen, aber auch Fußball-Fans) eingesetzt wird, sind immer Menschen betroffen, von denen keine unmittelbare Gefahr ausgeht. Zugleich können in solchen Gruppen immer auch Menschen sein, die von der gefährlichen Wirkung des Pfeffersprays in besonderer Weise betroffen sind (Krankheiten, Drogen …).
Die Richter, die die eingangs beschriebenen Urteile gefällt haben, hätten auch die Einsicht haben können, dass mit Plastikfolien die Gefahren des Pfeffersprayeinsatzes thematisiert werden und sie insofern Teil der Meinungsäußerung sind. Sie hätten vor allem aber erkennen müssen, dass Plastikfolien keine Waffen sind und der minimale Schutz, den sie bieten, die Vollstreckungsmaßnahmen der Polizei gar nicht abwenden können.
Elke Steven